01.10.2003

ZUR SACHE

Von Thomas Deichmann

Agenda 2010

Unser Fotograf Michael Najjar bringt mit seinem Covermotiv auf den Punkt, was von der Agenda 2010 zu halten ist: kunstvolle Flickschusterei. Warum nicht mehr dabei herauskommt, obwohl allseits die Notwendigkeit einer reformerischen Zäsur in Deutschland angemahnt wird, erklärt Sabine Reul in ihrem Stichwort. Die Agenda 2010 krankt vor allem daran, dass sie für die Zukunft von einem Stillstand, wenn nicht gar von einem Rückgang der wirtschaftlichen und technologischen Entwicklungen ausgeht. Ihre Macher berufen sich dabei auf eine Reihe ungerechtfertigt düsterer Annahmen hinsichtlich der Möglichkeiten, beispielsweise mit der Alterung unserer Gesellschaft vernünftig umzugehen.
So geht es dann beim »Reformieren« nicht um zukunftsweisende Reformen und Visionen, sondern um das Ausloten eines »solidarischen« Gürtel-enger-Schnallens – und im großem Reformstreit der Parteien im Grunde nur um unbedeutende Nuancen. Damit liegt die Agenda 2010 voll im Trend der maßgeblich von Rot-Grün popularisierten Bremser- und Verzichtspolitik, deren Programmatik vor dem Hintergrund immer neuer und immer pessimistischerer Zukunfsszenarien entworfen wird. Politischen Lähmungserscheinungen unterliegen aber auch die Unionsparteien, wie der jüngste Eklat über Hüftgelenke, den manche schon als großen Wurf in der Reformdebatte feierten (weil Immobilität nichts kostet oder warum auch immer), verdeutlicht.
Diese Visionslosigkeit der Politik (und die einhergehenden Zukunftsängste) sind Thema fast aller Artikel in dieser Ausgabe von Novo. Sie ist der rote Faden, der alle politische Debatten durchzieht. Sie macht aus Tauben Falken und aus Mücken Elefanten und lässt die Auseinandersetzung um die Gestaltung unserer Zukunft zu einem Streit um ein oder zwei Prozentpunkte bei den Sozialversicherungen oder Ähnliches degenerieren. Sie lässt den politischen Diskurs vollends verarmen, wie auch Kai Rogusch in seiner Analyse der Probleme bei der Arbeit an einer Europäischen Verfassung aufzeigt. Schließlich führt sie auch dazu, dass die politische Auseinandersetzung über vorausschauende Visionen durch bornierten Klatsch um das Privatleben von Politikern und aufgeblasenes Moralgedusel ersetzt wird. Die Diskussionen um Jürgen W. Möllemann, Michel Friedmann, Silvio Berlusconi und vermeintlich zu gierige Geschäftsführer in den Großunternehmen sind typisch für dieses Genre. Wir hoffen, mit der vorliegenden Ausgabe von Novo wieder andere Akzente zu setzen.


Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre.


Thomas Deichmann
Chefredakteur

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