01.08.2003

Zur Sache

Von Thomas Deichmann

Wellness

Das etwas seltsam anmutende Covermotiv deutet darauf hin, dass wir mit dem derzeit grassierenden Körperkult unsere Probleme haben. Wenn Sie die Artikel in diesem Novo gelesen haben, werden Sie (hoffentlich) nachvollziehen können, warum wir skeptisch sind. Dieser so unschuldig daher kommende Lifestyle-Trend hat sogar einiges gemein mit den Angstdiskussionen, die uns heute auf Trab halten. Wie zum Beispiel SARS: Zum Zeitpunkt, als dieses Editorial geschrieben wird, verschlimmert sich die Lage in China weiter. In anderen Regionen hat die Krankheit ihren Höhepunkt überschritten. Die Weltgesundheitsorganisation WHO hat im Einvernehmen mit nationalen Gesundheitsbehörden schnell und effektiv reagiert. Die Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Virus sind beispielhaft für unser hoch entwickeltes Gesundheitssystem. Binnen weniger Wochen war das Genom des Virus offengelegt. Nun arbeiten Wissenschaftler aus aller Welt daran, ein Gegenmittel bereit zu stellen. Aufgrund der genetischen Wandelbarkeit des Virus ist ungewiss, ob das in absehbarer Zeit gelingen wird. Dennoch sind die bisherigen Bemühungen zur Eindämmung der Krankheit ein großer Erfolg, der auf das Konto der Naturwissenschaften geht.
Doch solchen Optimismus hört man im Zusammenhang mit SARS eher selten. Mitunter wird die Krankheit zu einer globalen Gefahr hoch stilisiert, die mit AIDS vergleichbar sei. Das ist angesichts des aktuellen Wissensstands eine irre Übertreibung. Aber offenbar können viele auf Ereignisse wie den Ausbruch von SARS nur noch ängstlich oder gar panisch reagieren. Da bislang niemand so recht weiß, woher der Virus stammt, fühlen sich zudem die Kulturpessimisten bemüßigt, wieder einmal ihren neunmalklugen Senf zur misslichen Lage der Welt abzugeben. Die Todesrate bei den Infizierten liegt zwar nur bei wenigen Prozent – aber könnte sie nicht aus noch unbekannten Gründen nach oben schnellen? Vielleicht ist SARS nur eine schwere grippeähnliche Erkrankung, die man in den Griff bekommen wird – aber vielleicht entwickelt sie sich auch zu einer Pandemie wie 1918, als 40 Millionen Menschen ums Leben kamen? Wer kann das schon mit Gewissheit sagen?
So und ähnlich argumentieren die auf den ersten Blick so umsichtig erscheinenden Bedenkenträger, die in aller Regel den Wissenschaften skeptisch gegenüber stehen. Hinzu gesellen sich im aktuellen Fall die politischen Besserwissereien von China-Experten, die die Gunst der Stunde nutzen, um der neuen politischen Führung in Peking, die anfangs auf Vertuschung, dann auf Zurückhaltung aber nie auf Panikmache setzte, eins überzubraten.
Die Politik hierzulande sitzt irgendwo zwischen den Stühlen und regt sich kaum. Man ist zwar offiziell darum bemüht, die Bevölkerung zu beruhigen. Aber das geschieht eher still und leise. Am ehesten liegt das wohl daran, dass man sich nicht traut, zu dieser noch teils ungelösten Problematik dezidiert Stellung zu beziehen, die bisherigen Erfolge plausibel darzulegen und die erhitzten Warner zur Räson zu rufen. Doch das kennen wir ja schon länger – zum Beispiel, wenn es um die Anwendungen der Gentechnik in der Landwirtschaft geht. Es ist heute anscheinend viel populärer, Ängste zu bedienen als sie zu entkräften und Zukunftsoptimismus auszustrahlen. Politiker scheuen immer häufiger davor zurück, für sachliche Argumente zu kämpfen. Damit wollen sie offenbar vermeiden, für eventuelle Fehler gerade stehen zu müssen, wenn sie bei dem einen oder anderen Thema die politische Führung und damit die Verantwortung übernehmen. Das scheint heute nicht mehr zum politischen Geschäft zu gehören. Lieber duckt man sich bei Anlässen wie SARS weg, schweigt und lässt die Diskussion und Aufregung in der Gesellschaft unkommentiert passieren. Oder man lädt, wie zum Beispiel bei der Grünen Gentechnik, zu öffentlichen »Diskursen« ein, bei denen dann alle möglichen Gruppen ihre Weltsicht und damit verbundene Sorgen gleichberechtigt nebeneinander breittreten dürfen. Diese »dialogische Offenheit« (ein zentrales Merkmal der aktuellen »Verbraucherschutzpolitik«) klingt toll. Sie bedeutet aber nichts anderes als die Ablehnung der demokratisch legitimierten Verantwortung der Regierung, politische Entscheidungen zu treffen und sie umzusetzen. Stattdessen werden die Probleme der Welt auf die Bevölkerung abgewälzt, indem uns bspw. suggeriert wird, Gentech-Kennzeichnungen auf Lebensmittelverpackungen seien die Lösung. Dadurch wird die Verunsicherung der Menschen nur weiter gesteigert.
Dieser Politikstil ist zum Normalzustand geworden. Als Folge stagnieren viele Diskussionen, die sich um wichtige Fragen des gesellschaftlichen Wandels drehen. Und so dümpeln wir von einer Angstsituation in die andere, ohne zu unterscheiden, ob es tatsächlich Gefahrenpotenziale gibt. Mal werden wir von der vermeintlichen Gefahr vor Milzbrand, dann wieder von den modernen Biowissenschaften, der Klimakatastrophe und SARS (oder wie demnächst im Rahmen der Tagung der Internationalen Walfangkommission in Berlin zu erwarten, von den Schrecken des Artensterbens) in Atem gehalten.
Spätestens seit den Terroranschlägen des 11. September 2001 müssen wir wohl jederzeit mit der Apokalypse rechnen. Wir wissen nur nicht genau, hinter welcher Ecke sie lauert. Wir empfehlen (statt eines Wellness-Wochenendes): Atmen Sie einmal tief durch, vergessen Sie das ganze Trara und empfehlen Sie Novo weiter.


Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre.


Thomas Deichmann
Chefredakteur

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