01.02.2003
Zur Sache
Von Thomas Deichmann
end of sex
Seit unserer Jubiläumsausgabe Novo50 vom Januar 2001 liefert der meist in Berlin lebende Fotograf und Künstler Michael Najjar die Motive für unsere Coverbilder – zweifelsohne ein großer Zugewinn für das Magazin. Das aktuelle Motiv trägt den Titel „kassandra“ und stammt aus Najjars Fotoserie end of sex. as we know it. Er thematisiert darin die Entkoppelung von Sex und Körperkontakt in Zeiten des Internets und der virtuellen Stimulation. Alles nur Spinnerei? Lesen Sie selbst: Auf Seite 42 des Magazins beschreibt Najjar seine Vision; daneben äußert sich der Zukunftsforscher Matthias Horx zu „future oder end of sex“. Das langfristige Sexmodell der Zukunft lautet in seinen Augen „BBB: Blocking, Banking, Babymaking“. Was das ist, erfahren Sie auf Seite 43. Im Anschluss daran nähert sich der britische Soziologe Frank Furedi dem Thema „Partnerschaft“ aus ganz anderer Perspektive. Er geht der Frage nach, warum es in den letzten Jahren immer mehr Singles gibt. Er sieht darin eine beschleunigte Fortsetzung des geschichtlichen Trends einer zunehmenden „Indiviuation“ mit Sonnen- und Schattenseiten.
Am Anfang des Hefts präsentieren wir Ihnen Gehaltvolles zu Krieg und Terrorismus. Der Irak ist im Visier der USA und soll womöglich sehr bald (erneut) dem Erdboden gleichgemacht werden. Dass wir davon nichts halten, ist nicht der Rede wert. Allerdings ist festzuhalten, dass unsere Position auf einer umsichtigen Analyse basiert, während die heutigen Kriegsgegner wie -protagonisten nach ihren Argumenten im Nebel zu stochern scheinen. Betrachtet man beide „Lager“ genauer, stellt man fest, dass sie so weit gar nicht auseinander liegen. Der Mangel an Verständnis für das, was auf dem heimischen wie internationalen Parkett passiert und die diffuse Furcht, dass alles noch viel schlimmer kommen könnte, lässt die einen Mut machend vorsorglich nach den Waffen greifen, die anderen vor Angst zittern und zum „Pazifismus“ übertreten.
Diese neue Art der Lagerbildung entlang unterschiedlicher Risikopräferenzen zeigte sich unlängst auch bei der Geiselnahme im Moskauer Theater samt der Befreiungsaktion des russischen Militärs. Die einen lobten Putin für seinen mutigen Einsatz gegen den „internationalen Terrorismus“, die anderen nahmen den bedauernswerten Umstand, dass bei der Erstürmung des Theaters 128 Geiseln ums Leben kamen, zum Anlass, ihn als Gefahr für den Weltfrieden anzugreifen. Die Diskussion hierzulande wurde von letztgenannten Bedenkenträgern dominiert. Sie projizierten ihre angstgetriebene Aversion gegen jegliche Form entschiedenen Handelns kurzerhand auf Moskau. Von Anfang an wurden die möglichen Schritte der russischen Führung kritisch kommentiert, als ginge in dieser konkreten Situation die größte Gefahr von ihr aus. In weiten Teil der Medien entstand schließlich sogar der Eindruck, die Erstürmung des Theaters sei ein Fehler gewesen. Man mag diesbezüglich zwar unterschiedlicher Meinung sein, aber angesichts früherer Anschläge, der offenkundigen Entschlossenheit der Terroristen, sich für ihren „heiligen Krieg“ mit alle Geiseln in die Luft zu jagen und angesichts der möglichen Folgen eines Kleinbeigebens Moskaus erscheinen die getöteten Geiseln zwar als äußerst tragisch, die gesamte Operation jedoch als von Erfolg gekrönt.
So sah es auch die große Mehrheit der Moskauer Bevölkerung. Doch auch deren Reaktion wurde nach rein westlichen Empfindlichkeiten ausgelegt. So versuchte man den Russen einzureden, angesichts der Toten gefälligst zutiefst schockiert und entrüstet zu sein. Dafür zoomte man immerzu auf die wenigen Trauerblumen vor dem Theater und suchte nach Interviewpartnern, die dem Wunschbild des betroffenen Bürgers entsprachen. Mehr als alles andere zeigte sich hieran ein Wesenszug unserer Gesellschaft, die nämlich beständig über aus übertriebener Not geborene moralische Betroffenheit eine Art von Opfer-Gemeinschaftsgefühl zu stricken versucht – sei es nach Zugunglücken, Flutkatastrophen oder Geiseldramen. Allein die Russen passten diesmal nicht ins Bild.
Auch das vorliegende Heft ist übrigens wieder eine Jubiläumsausgabe: Im November 2002 feiert Novo seinen zehnten Geburtstag. Ich hoffe, dass es uns auch im nächsten Jahr gelingt, unseren Einfluss weiter auszubauen. Der Bedarf an einem klärenden Magazin wie dem unseren ist bestimmt nicht geringer geworden. Das Cover der (längst vergriffenen) Versuchsausgabe unseres Magazins, das wir auf dieser Seite zeigen, unterstreicht, wie weit wir es (zumindest hinsichtlich der Covergestaltung) gebracht haben. Noch ein übrigens: Unser zehnter Geburtstag fällt zusammen mit dem sechzigsten des österreichischen Schriftstellers Peter Handke, dessen Porträt bereits zweimal unser Cover zierte. Ihm schicken wir mit diesem Heft unsere allerbesten Glückwünsche.
Ich wünsche Ihnen erholsame Feiertage, einen guten Rutsch ins neue Jahr und eine anregende Lektüre.
Thomas Deichmann
Chefredakteur