01.11.2003

Zur Reformdebatte (Teil II)

Analyse von Sabine Reul

Statt einer Renten- oder Gesundheitsreform brauchen wir wohl zunächst einmal eine Politikreform.

„Weitaus problematischer als die objektiven Herausforderungen ist der Zustand der deutschen Politik.“

Ein Komplex aus wirtschaftlicher Stagnation, Massenarbeitslosigkeit und Haushaltsdefiziten sorgt für zunehmende Nervosität in der sich nun schon über fast das gesamte Jahr 2003 dahinziehenden Reformdebatte. Doch so schwierig diese objektive Herausforderung sich auch darstellen mag: weitaus problematischer ist offenbar der Zustand der deutschen Politik. Um es für heutige Ohren vielleicht einmal etwas altmodisch klingend zu formulieren: Vielleicht ist ja mit dem subjektiven Faktor irgendetwas nicht mehr ganz in Ordnung.
Über Rentenabschläge, Staatsschulden und Versicherungsmodelle lässt sich natürlich gut streiten. Doch vielleicht wäre es besser, davon einmal abzulassen und zu fragen, wieso die Reformdebatte insgesamt auf immer kuriosere Weise aus dem Ruder läuft.
Ohne Zweifel hat der unerwartet scharfe und anhaltende Konjunktureinbruch der letzten zwei Jahre – also ein objektiver Umstand, für den die Politik nichts kann – die ursprünglichen Reformpläne der rot-grünen Koalition aus dem Gleichgewicht gebracht. Doch ganz unverschuldet kam das nicht, denn Gerhard Schröder gewann 1998 mit dem Versprechen, Deutschland zu modernisieren, die Mehrheit für das, was man (lang scheint es her) seinerzeit hoffnungsvoll das „rot-grüne Reformprojekt“ nannte. Der Kanzler und sein Kabinett wollten sukzessiv einen Reformprozess auf den Weg bringen, um die wirtschaftliche Dynamik und Innovationskraft der deutschen Gesellschaft anzuheben. Daraus wurde aber nichts.
Das lag daran, dass die rot-grüne Koalition ihre erste Amtsperiode mit anderen Dingen verbrachte – mit dem Krieg gegen Jugoslawien wegen der Ereignisse im Kosovo und mit Lieblingsprojekten des grünen Koalitionspartners wie dem Atomausstieg und der ökologischen Steuerreform. Die eigentliche Herausforderung, der das rot-grüne Projekt sich zu stellen versprochen hatte, also eine neue, zeitgemäßere Balance zwischen Staat und Markt zu finden, verschwand von der Tagesordnung.

„Zwar werden die aktuellen Maßnahmen zur Behebung der allseitigen Finanzengpässe noch immer „Reformen“ genannt. Vielleicht sollte man dies aber besser unterlassen, denn es bringt die Idee von Reformen nur nachhaltig in Verruf.“

Somit wurde die Chance für Reformen in der ersten Legislaturperiode verschenkt. Und das rächt sich nun, denn in der zweiten hat die durch die schlechte Konjunkturentwicklung bedingte akute Bedrängnis der Staatshaushalte und Sozialkassen dieses ursprüngliche Reformprojekt vollends zunichte gemacht.
Dies unmissverständlich einzugestehen, wäre vielleicht ein erster Schritt zur Klärung der aktuellen, arg verworrenen Lage. Ein politisches Projekt, also eine Ausrichtung der Politik auf positive Reformziele, gibt es nicht mehr. Zwar nennt man die aktuellen Maßnahmen zur Behebung der allseitigen Finanzengpässe noch immer „Reformen“. Vielleicht sollte man dies aber besser unterlassen, denn es bringt die Idee von Reformen nur nachhaltig in Verruf. Was zur Zeit durchgeführt wird, sind Notoperationen. Klärend wäre es, auch das unmissverständlich einzugestehen.
Praktisch gesehen wäre es wohl am besten, diese ausgabenseitigen Einschnitte endlich zügig umzusetzen. Sie mögen teils falsch platziert, teils ungenügend, teils unsinnig sein. Doch wer will das zur Zeit schlüssig klären? Das würde die Art breite geistige Auseinandersetzung in der Gesellschaft erfordern, die zu führen man mindestens fünf Jahre lang versäumt hat, was sich kurzfristig nun auch nicht mehr korrigieren lässt.

„Eine Opposition ist dazu da, die Regierung durch Gegenkonzepte geistig und politisch in Atem zu halten. Das lässt sich mit den Methoden von CDU und FDP jedoch nicht bewerkstelligen.“

Daran hat die Opposition, die sich von der Wahlniederlage im Jahre 1998 bis heute nicht erholt hat, in besonderem Maße mitgewirkt. Taktisches Lavieren, inklusive seltsamer Ausfälle links- wie rechtspopulistischer Tendenz, charakterisiert spätestens seit Mitte der ersten rot-grünen Amtsperiode die Politik der Union und erst recht der FDP. Hier ist die geistige Neuausrichtung gänzlich ausgeblieben. Man hat stattdessen um kurzfristiger demoskopischer Effekte willen den Fundus an eigener politischer Substanz mitunter einfach in den Wind geschossen, ohne sich nach tragfähigem Ersatz umzusehen. Die Opposition ist dazu da, die Regierung durch Gegenkonzepte geistig und politisch in Atem zu halten. Das lässt sich mit solchen Methoden nicht bewerkstelligen. Fundierte Kritik der Mängel rot-grüner Regierungspolitik fand und findet daher keine Artikulation.
Eine Debatte über große gesellschaftspolitische Veränderungen lässt sich daher derzeit nicht sinnvoll führen. Um wirkliche Reformen anzugehen, müsste man den Blick nicht starr auf die Rentenbeiträge, Arbeitslosenbezüge oder Haushaltslöcher richten (womit nicht gesagt sein soll, diese Dinge seien irrelevant), sondern zunächst und vor allem auf den Zustand der Politik. Vieles spricht dafür, dass sich tragfähige Antworten auf den ganzen Komplex der Wirtschafts- und Finanzmalaise erst finden werden, wenn in diesem Feld Innovationen erfolgen.
So wie sie ist, ist die Reformdebatte ein Debakel. Weil der Politik weder auf Regierungsseite noch bei der Opposition ein auf wirksamen geistigen oder sozialen Fundamenten ruhender Weitblick zugrunde liegt, zerbröselt alles auf der Ebene der Unmittelbarkeit. Da wird dann Alles und Jedes zwangsläufig zum Widerspruch: Staatschulden stehen gegen Steuerreform, Haushaltskonsolidierung gegen Kürzung der Rentenbeiträge, Jugend gegen Alter, Gegenwart gegen Zukunft, Wirtschaftswachstum gegen Maastricht – oder auch noch Akademiker gegen den Rest der Welt. Eine Kampagne für „Massenklagen“ gegen die Abschaffung der Anrechnung von Studienzeiten in der Rentenversicherung, wie sie die CDU kurzzeitig in Erwägung zog, ist wohl kaum die probate Antwort auf diese Krise des politischen Systems.

Noch vor wenigen Jahren verbanden sich mit Positionen pro oder kontra Sozialstaat Überzeugungen und Zukunftsperspektiven. Die mögen aus unserer Sicht borniert, antiquiert, klassenegoistisch oder in sonstiger Weise defekt gewesen sein, aber es waren immerhin Überzeugungen. Das gleiche gilt für die ökologischen Ideale der Grünen. Man mag für oder gegen sie gewesen sein – doch es waren immerhin Gedanken über die Gestaltung einer besseren Welt. Sie haben sich zerschlissen, sind abgegriffen, wecken heute weder Hoffnung noch Vertrauen. Ob Angela Merkel die Sorge um künftige Generationen beschwört oder ein anderer die enorme Bedeutung der Bildung: es klingt vorgeschoben, unglaubhaft und abgedroschen. Im Zeitalter des Dosenpfands sind aus einstigen Visionen Schlagworte für den taktischen Einsatz im politischen Tagesgeschäft geworden. Ohne Auseinandersetzung um Interessen, Wünsche und geistige Überzeugungen wird selbst das bedeutendste Thema zu einem rein technischen und daher beliebig.
Entsprechend halbherzig und lustlos wird die ganze Reformdebatte geführt. Die Positionen verschieben sich im Takt der Wirtschaftsnachrichten. Was heute als großer Befreiungsschlag vorgetragen wird, verschwindet morgen schon wieder von der Bildfläche. Roland Kochs kurzzeitig ins Gespräch gebrachte Fundamentalopposition gegen das rot-grüne Reformpaket ist längst wieder Schall und Rauch. Das gilt ebenso für das Gelöbnis der FDP, sich in der Reformauseinandersetzung für die Freiheit stark zu machen. Und auch der SPD-interne Disput über die zeitgemäße Definition von Gerechtigkeit wirkt anämisch.
Ohne Gedanken, für die es sich einzustehen lohnt, lässt sich Politik, die mehr beansprucht als Verwaltung des Bestehenden, nun einmal nicht machen. Um neu zu beginnen, muss daher wohl erst einmal das öffentliche Denken wieder etwas mehr in Mode kommen. Wie man heute das Verhältnis zwischen staatlichen Sozialsystemen, Individuen und Unternehmen gestalten oder Bürokratie abbauen, aber wichtige soziale Aufgaben des Staats neu definieren sollte – um diese und viele andere große Fragen zu beantworten, brauchen wir eine leidenschaftlich und auf hohem Niveau geführte Debatte über Zukunftsvisionen.

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