15.12.2010

Worstward ho – Mythos und Hort: das deutsche Stadt- und Staatstheater!

Von Frank Alva Buecheler

13 Einblicke, aufgezeichnet von Frank Alva Buecheler, der bereits mit seinem Artikel „Mehr Theater mit weniger Geld – das geht!“ in der aktuellen Ausgabe 108/109 von NovoArgumente für einigen Wirbel sorgte.

An dem großen Staatsopernhaus bemerkt die Produktionsleiterin kurz vor Beginn der Probe, dass das Bodentuch nicht befestigt wurde. Sie lässt die Technik einrufen. Ein Bühnentechniker nagelt das Bodentuch fest – bis zur Bühnenmitte. Warum nicht weiter? Er sei für Bühne Links zuständig, der Kollege von Bühne Rechts sei zur Brotzeit, müsse ja auch mal sein. Ein daraufhin herbei geholter Ersatzkollege von Rechts nagelt seine Seite fest. Die Probe mit etwa 80 Beteiligten beginnt eine Viertelstunde später. Der Regisseur erleidet während dieser Wartezeit einen Tobsuchtsanfall. Dies trägt ihm in der Folge die Kritik des Betriebsrats wegen seiner „unsozialen und despotischen Grundhaltung“ ein. Der Intendant lässt auf Nachfrage aus dem Haus mitteilen, er wünsche nicht, sich zu den Vorgängen zu äußern.


Per Aushang gibt der Intendant die Besetzung einer neuen Operettenproduktion bekannt. Dem jungen Gastregisseur teilt am ersten Probentag der Sänger X mit, er, der Sänger, sei unkündbar und der Intendant ein Volltrottel. Es richte sich nicht gegen ihn, den jungen Gastregisseur, aber er, der Sänger, werde die nächsten vier Wochen krank sein. Er käme dann ein paar Tage vor den Schlussproben, der junge Regiekollege möge ihm dann einfach kurz und knapp und bitte ohne Begründungen und Erklärungen sagen, wo er gehen, stehen und singen solle, er werde das dann alles auch genau so machen – Regisseure hätten nie irgendwelche Probleme mit ihm. Der junge Regisseur sucht entsetzt den Intendanten auf. Der Intendant sagt zum jungen Gastregisseur, er müsse es schaffen, Herrn X zu motivieren, dieser sei nun einmal unkündbar und überdies eng mit dem Bürgermeister befreundet. Der junge Regisseur kotzt noch im Vorzimmer des Intendanten auf die Auslegeware. Die ist lila und etwas abgewätzt.


Die Kassiererin meiner Bankfiliale um die Ecke empfängt an einem Bistrotisch stehend, der Kunde tritt von der anderen Seite heran. Ein kleines Rollwägelchen schräg hinter der Kassiererin spuckt Bargeld aus oder verschluckt es. Ein paar entspannte Worte mit der attraktiven Kassiererin sind immer drin. Für den Fall, dass böse Buben was von ihr wollten, erklärt sie, hätte sie einen kleinen Knopf unter dem Bistrotisch, es gingen dann sofort alle Türen zu, die Polizei sei in zwei Minuten da. Alle öffentlichen Theater und Konzertkassen in Berlin verkaufen ihre Eintrittskarten hingegen hinter dicken Glasscheiben. Die haben eine Perforation aus kleinen Löchern, durch die man sprechen kann, ein winziges Fensterchen zum Öffnen oder ein kleines Mikrofon – wer nicht sehr gut hört, hat keine Chance, das Kassenpersonal über die klapprigen Lautsprecher zu verstehen. Wozu ein Theaterkartenverkauf wie im Hochsicherheitstrakt? Damit die Kreditkartenabrechnungen nicht geklaut werden können?


Die Politik hat den verschiedenen Bühnen der Stadt zentrale Werkstätten verordnet. Es funktioniere nicht, klagt die Bühnenbildnerin. Zur technischen Einrichtung sei zwar das Bühnenbild auf die Bühne gekommen, aber nicht ein einziger Tischler, Schlosser oder Maler. Dabei wisse jeder, dass, wird zum ersten Mal das komplette Bühnenbild aufgebaut, dieses und jenes nicht passe und an Ort und Stelle gerichtet werden müsse. Die Leitung der Zentralwerkstätten hat das Problem mangelnder Koordination erkannt und weiteres Personal eingestellt. Die Bühnenbildnerin bestätigt das. Ja, es liefen jetzt lauter Produktionsleiter herum, die hätten dann jeweils auch noch Assistenten. Jetzt funktioniere gar nichts mehr. Irgendwelche Produktionsleiter, die sie noch nie gesehen habe, oder immer neue Produktionsassistenten, die sie ebenso wenig kenne, würden jetzt nur ständig irgendwelche Listen mit ihr abgleichen oder sie zu irgendwelchen Produktionsmeetings einladen wollen. Die Leitung der Zentralwerkstätten klagt, sie werde von allen sabotiert. Die Bühnenbildnerin sagt, der Bürokratie mit mehr Bürokratie Herr werden zu wollen, sei eine Schnappsidee. Man könne Brände wohl mit Feuer bekämpfen, aber eine Springflut nicht mit Wasser. Das sei einfach widersinnig. Aber es sei hier der Alltag.


Wenn der Chor musikalisch im Chorsaal probt, kann eine Probe maximal zwei Stunden dauern, inklusive 20 Minuten Pause in der Mitte. Probt der Chor szenisch, kann eine Probe drei Stunden dauern, 20 Minuten Pause ist dabei spätestens nach eineinhalb Stunden zu geben. Probt der Chor musikalisch und szenisch, kann die Probe drei Stunden dauern. Der Chordirektor bittet die Regisseure, die Hälfte der Probenzeit für rein musikalische Proben und die andere Hälfte szenisch zu nutzen. Der Chordirektor bittet die Regisseure ausserdem, jede einzelne Probe immer hälftig szenisch anzusetzen. So kann er bei vier Vormittagsproben pro Woche zwei Stunden netto zusätzliche musikalische Probenzeit – also mehr als eine ganze rein musikalische Probe – herausholen. Und diesen Trick erkennen die Damen und Herren des Chores nicht? Doch, sagt der Chordirektor, sie seien sehr froh darüber, die Probenzeiten seien viel zu knapp, der Stress sei riesig und es bestünde keine Möglichkeit, mal etwas auszuprobieren. Der Chor würde eben überhaupt nicht ernst genommen, das sei nun mal das Tarifrecht.


Das Staatsballett, das einen berühmten Tänzer zum Chef hat und den klassischen Tanz pflegt, verfügt über 85 Tänzer und hat 5 Produktionen im Repertoire. Das Ensemble eines städtischen Balletts, das von einem sehr renommierten Choreografen geleitet wird und sich der Moderne widmet, umfasst 48 Tänzer und hat 10 Produktionen im Repertoire. Die freie Tanzkompanie, die den Namen ihrer Gründerin trägt und sich dem zeitgenössischen Tanztheater verschrieben hat, zählt 26 Tänzer und gastiert in der halben Welt mit insgesamt 18 Produktionen. – Nein, das gibt mir nicht zu denken, hier werden Äpfel mit Birnen verglichen, sagt die stark gebräunte Kulturpolitikerin zu dieser Aufstellung, aber interessant wäre eine objektive Gegenüberstellung der Apparate der einzelnen Kompanien, also wie effizient das nichtkünstlerisches Personal arbeitet. – Äpfel und Birnen zu vergleichen, wird ihr entgegen gehalten, sei vielleicht noch das Geringste. Wenn 16-jährige Afrikaner, um ihrem Elend zu entkommen, sich in den Radkästen von Flugzeugen versteckten, um bei minus 50 Grad auf dem Weg nach Europa zu erfrieren und dann beim Landeanflug vor Zürich oder Frankfurt oder München vom Himmel zu fallen. Auch sei es kein Einzelfall, wenn in einer ganz normalen Mittelstufenschule in Berlin-Kreuzberg Glasscheiben in Fenstern fehlen würden. Empfindsamkeiten und ein bildungsbürgerliches Anspruchsdenken auf kulinarischen Kunstkonsum könnten da gewissermaßen natürliche Grenzen gesetzt werden.


Die Intendantin wundert sich. Seit Jahren ist die Auslastung vor allem im Großen Haus bei der Oper rückläufig. Weil sie die Konzerttätigkeit in die Auslastungsstatistik hat hineinrechnen lassen, ist das der Politik und dem Aufsichtsrat noch nicht aufgefallen. Politik und Aufsichtsrat besuchen, so sie überhaupt ihre Freikarten nutzen und ins Theater gehen, nur Premieren, und die sind meistens noch voll. (Der zweite Rang ist es längst auch nicht mehr, aber das sieht vom Parkett aus keiner.) Die Intendantin verkündet als Maßgabe, nur noch bekannte Titel auf den Spielplan zu setzen. Egal, ob die Theaterleute das langweilig fänden und die Spielpläne im ganzen Land von Nord nach Süd und Ost nach West immer mehr wie ein Ei dem andern gleichen würden, es ginge darum, hier Theater zu machen, in dieser Stadt, es ginge um Stadttheater, also Theater für die Stadt! Das würden die Zuschauer lieben, und sie würden es lieben, ihre liebsten Stücke zu sehen, immer wieder, so sagte es die Intendantin. Nun wundert sich die Intendantin: auch „My fair Lady“ zieht nicht mehr, die ersten Vorstellungen waren ganz gut besucht, aber danach… Der Chefdramaturg erklärt seiner Chefin, dass sei jetzt sicherlich eine pc-mäßig voll unkorrekte Aussage, aber ob sie ihm einen einzigen Grund nenne könne, nur einen einzigen, warum etwa ein heterosexueller Mann sich drei Stunden lang für die phonetischen Probleme eines Blumenmädchens von Covent Garden interessieren solle? Ob das irgendeine Kassenleiterin der Bankfiliale am Marktplatz interessiere? Ob das nur ein Zipfelchen Relevanz für eine junge Kopftuchträgerin mit Migrationshintergrund hätte, die gegen den Widerstand der Familie ein BWL-Studium begonnen habe, nun aber verheiratet werden solle, sich weigere und massiv bedroht würde von ihrem beiden jüngeren Brüdern, die ihr gestern Abend hinterm Theater beim Bühneneingang, weswegen er davon wisse, ins Gesicht gespuckt hätten? Weder die junge Frau, noch ihre Brüder noch deren Familien würden jemals wegen dem „Weißen Rössl“, „Faust“, „Rheingold“ oder „Fiddler on the Roof“ ins Theater gehen. Die interessierten sich einen Scheiß, ob ein jüdischer Milchmann seine vier stumpfsinnigen Töchter unter die Haube bekäme! Auch wenn die Problematik gar nicht so anders sei. Aber die Wege, die Storys, die ganze Kommunikation, das ganze Kulturgehabe am Stadttheater, alles das sei so nicht von dieser Welt!... Ebenso wie dieses vergammelte Bildungsbürgertum, das sich zum Glück, ja: zum Glück, biologisch abbaue, allerdings viel zu langsam… – Die Intendantin wundert seit dieser Aussprache gar nichts mehr. Sie hat einen neuen Chefdramaturgen engagiert.


Das große Opernhaus bringt eine Neuproduktion von Alban Bergs Wozzeck heraus, erstklassig besetzt. Die Einstudierung beginnt ein Jahr vor den szenischen Proben, die Kompliziertheit des musikalischen Werkes erfordert dies. Inklusive Premiere sind drei Vorstellungen angesetzt. In der folgenden Spielzeit vielleicht noch mal drei. Häufiger sei nicht drin, erklärt die Leitung des Hauses, mehr Publikum gäbe es auch in Großstädten nicht für einen solchen Titel. Gleichwohl sei es wichtig, ein solches Stück zu machen. Für wen?


Die Städtischen Bühnen mit Oper, Ballett, Schauspiel, Kinder- und Jugendtheater bringen eine Premiere nach der anderen heraus, dazu noch eine stattliche Anzahl an Konzerten. Die Presseabteilung – ein Leiter, eine Mitarbeiterin, zwei Praktikanten – kommt kaum hinterher, alle zehn Tage oder noch häufiger gibt es eine Premiere zu bewerben. Alle sind fleißig, arbeiten viel. Aber das Publikum bleibt weg. Nur das Kinder- und Jugendttheater ist immer voll. Wenn man es schlösse, wären genau die Kostensteigerungen der Städtischen Bühnen aufzufangen. Wie lange würde das reichen? – fragt ein Praktikant. Das Kinder- und Jugendtheater wird dann doch nicht geschlossen, es wird auf Gehaltserhöhungen verzichtet. Wie lange wird das reichen?, müssten sich nun alle fragen. Das Orchester hat, um Kündigungen zu vermeiden, bereits auf Gehaltserhöhungen verzichtet und muss dafür weniger Stunden spielen. So müssen selbst für kleine Orchesterbesetzungen Musiker (anderer Orchester) als Gäste für ein erhöhtes Entgelt dazu engagiert werden. (Die Lücken in anderen Orchestern werden dafür durch die Musiker der städtischen Bühnen geschlossen, die in ihrer reichlichen Freizeit diese lukrativen Aushilfsjobs gerne annehmen.) Und wie lange wird das alles noch funktionieren?


Neben Schauspielern, Musikern, Technikern für Bühne, Licht und Ton, den Handwerkern in den Werkstätten und den Servicekräften im Vorderhaus beschäftigt in der großen Stadt das große Sprechttheater 11 Mitarbeiter im Personal- und Rechnungswesen, 3 im Marketing und 18 Dramaturgen (8 fest angestellt, 10 freie Mitarbeiter). Ausserdem weist die Personalliste 2 Mitarbeiter in der Poststelle auf. Tragen die die E-Mails durchs Haus?


Proben am Stadttheater gehen von 10 bis 14 Uhr und von 18 bis 21 oder 22 Uhr. Eigentlich. Abends ist natürlich oft Vorstellung. Die Bühnenprobe heute kann wie alle Bühnenbroben in den letzten Monaten, ja, in den letzten Spielzeiten, erst um 11 beginnen. Regisseurin und Regieassistentin sind trotzdem seit 10 Uhr da, um den Fortgang der Arbeiten zu beobachten: Das Bühnenbild der Vorstellung vom Abend vorher muss abgebaut und die Probendekoration aufgebaut werden. Um 10.45 Uhr ist endlich alles abgebaut. Die Technik muss jetzt 15 Minuten Pause haben, sie hatte noch keine. Der Beleuchtungschef kommt zur Regisseurin und bittet darum, die Probe nicht wie auf dem Probenplan angegeben, erst um 13.30 Uhr zu beenden, sondern schon um Punkt 13 Uhr. Das sei blöd für die Probe und die Regisseurin, aber er und seine Mannschaft hätten sonst nicht die geringste Chance, die Abendvorstellung einzuleuchten. An einen Lichtcheck, also einmal vor Öffnung der Saaltüren, alle Stimmungen durchzufahren, sei schon gar nicht zu denken. Man würde jeden Nachmittag unter Hochdruck und einer krank machenden Anspannung arbeiten, und es würde dann doch nie reichen: In jeder Vorstellung käme es zu vermeidbaren Fehlern im Ablauf, das Publikum würde diese Fehler auch deutlich sehen, es sei sehr frustrierend, und so müsse seine Mannschaft nun seit Jahren arbeiten. Als sie angefangen habe, vor 30 Jahren, sagt die Regisseurin, hätte sie immer bis um 14 Uhr proben können. Ja, sagt der Beleuchtungschef, damals hatte eine Opernaufführung 20 oder wenn es hoch kam 30 Lichtstimmungen, heute haben wir 160 oder 180. Auch beim Schauspiel. Beim Musical häufig noch mehr. Die Leute würden das erwarten, die seien die tollen Flme gewohnt oder hätten die DVDs zuhause mit den großen Festivalproduktionen, er würde auch manchmal Baden-Baden machen oder Salzburg, da hätte man tagelang Zeit fürs Einrichten, das wäre dann natürlich was ganz anderes… Um 11 Uhr kommen die Damen und Herren des Opernchores auf die Bühne, die aber nicht fertig ist. Sie müssen warten, die Technik ist gerade zurück aus der Pause und verspricht, dass es gleich losgehen könne. Das Ballett trainert im Ballettsaal weiter, ist aber auf Abruf bereit, auf die Bühne zu kommen. Um 11.30 Uhr ist die Technik soweit. Jetzt muss der Chor seine Pause haben. Um 11:47 sind die Damen und Herren des Opernchores wieder auf der Bühne, die Damen und Herren des Balletts sind bereits seit zwei Minuten da und beschweren sich beim Inspizienten, dass sie sinnlos Zeit verwarten würden… Um 11.48 Uhr beginnt die Probe. Der Choreograf erklärt einige Schritte und arrangiert Tänzer und Chor. Um 11.53 Uhr greift der Repetitor zum ersten Mal in die Tasten seines leicht verstimmten Probenklaviers. Um 12 Uhr bricht der Inspizient ab: Für die Damen und Herren des Balletts ist die Probe beendet. Die entgeisterte Regisseurin weiss von nichts: die Probe ginge bis 13 Uhr! Nein, nicht für die Damen und Herren des Balletts, klärt der Inspizient die Regisseurin auf, heute sei Ballettabend, davor sei fünf Stunden Ruhezeit, die ersten Tänzerinnen müssten bereits um 17 Uhr in der Maske sein, also sei jetzt Schluss fürs Ballett. Ohne Tänzer sei die Szene für die Damen und Herren des Opernchores aber völlig sinnlos, bemerkt der Chordirektor. Zu Recht. Er könne aber die nunmehr verbleibenden 54 Minuten gut mit den Damen und Herren des Opernchores im Chorsaal nutzen. Der Sänger der Titelpartie verspürt ein leichtes Kratzen im Hals, es hätte bis 11.45 Uhr wieder die Schleuse zur Seitenbühne offengestanden, was immer diese unerträglichen Kaltlufteinfälle auf der Bühne nach sich ziehe, er bäte die Regisseurin, des Weiteren heute auf ihn zu verzichten, er habe morgen Abend Vorstellung… Der Beleuchtungschef hat den Dialog über die Mithöranlage in der Kantine verfolgt und ist zur Probe, die nicht stattfindet, geeilt, um von der Regisseurin die Freigabe der Bühne zu erbitten, dann könne nämlich die Technik schon jetzt um 12.23 Uhr mit dem Abbau der Probe und dem Aufbau der Abendvorstellung beginnen, sodass er und seine Mannschaft theoretsch weitere 37 Minuten gewönnen fürs Einleuchten des Ballettabends. Die Regieassistentin hat der Regisseurin auf eigene Kosten einen Tee mit Rum aus der Kantine geholt und macht ihr den Abbruch der Probe schmackhaft: Dann könne man sich jetzt ganz darauf konzentrieren, den Probenplan für morgen Korrektur zu lesen und die Proben für die nächste Woche zu disponieren.


Die Chorsängerin hat nach der Vormittagsprobe auf den Regisseur gewartet. Ob sie ihn kurz sprechen dürfe, unter vier Augen. In der Sologarderobe bricht die Chorsängerin in Tränen aus. Heute Abend sei die große Bühnenprobe mit allen, es sei eine so wichtige Probe und die Arbeit mit ihm, dem Regisseur, sei so wunderbar, aber sie könne nicht kommen zur Probe. Ihr Vater sei erst 78, aber bereits schwer dement. Sie habe alles versucht, aber niemanden gefunden, der ihn heute Abend betreuen könne. Was solle sie denn machen. Sie könne nicht aufhören zu arbeiten, sie brauche das Geld. Aber es sei zu wenig, sie könne nicht noch mehr Geld ausgeben für Vaters Betreuung. Es würde auch heute Abend gar nichts helfen, sie fände einfach niemanden! Als ihre Tochter klein gewesen sei, habe sie die einfach in solchen Situationen mit ins Theater genommen, das sei zwar verboten, aber die Kleine habe seelenruhig in der Garderobe geschlafen. Der Regisseur sagt, wenn er König von Deutschland würde, würde er als erstes Kinder- und Seniorenbetreuungen am Theater einrichten, rund-um-die-Uhr. Nur sei Deutschland eine Republik, zum Glück, und so würde er niemals König, sagt der Regisseur. Die Chorsängerin versucht ein Lächeln: So ein bisschen Königtum wäre aber gar nicht schlecht!


Drei Wochen vor der Premiere schlägt der technische Direktor Alarm. Wegen der von ihm als katastrophal bezeichneten Disposition des Hauses sei die Musicalpremiere gefährdet. Der Intendant will davon nichts wissen, es sollten einfach alle mal ihre Arbeit machen. Der technische Direktor wendet sich daraufhin ans Regieteam und schildert die Lage. Der Regisseur wendet sich an den Intendanten und bekommt die Auskunft, es sollten einfach alle mal ihre Arbeit machen, dann würde es schon gehen. Technischer Direktor, Regisseur und Team bitten alle Abteilungsleiter von Technik und Werkstätten zu einem Gespräch. Es dauert zwei Stunden. Alle Beteiligten sind am Ende zufrieden, es wird Änderungen geben. Das gemeinsam vereinbarte Vorgehen wird als ambitioniert, aber machbar bezeichnet, alle sehen der Premiere erwartungsvoll entgegen. Der Intendant ruft den Regisseur zu sich und wirft ihm seine kompromisslerische Haltung vor. Der Regisseur fragt den Intendanten, was er, der Intendant, denn so von Demokratie, teamorientierter Führung und moderner Kommunikation halte. Der Intendant entgegnet, das habe alles überhaupt nichts mit einander zu tun, man habe die Proteste in den Jahren um 1968 auch ohne Handy organisiert, und im übrigen drucke seine Sekretärin alle E-Mails aus und lege sie ihm auf dem Schreibtisch. Wenn einfach mal alle ihre Arbeit machen würden, würde es schon gehen.


Stadttheater statt Theater? – mag sich manch ein unbefangener Leser nach der Lektüre dieser wenigen Beispiele fragen. Nichts davon ist erfunden. Trotzdem ist wichtig: Kunst mit öffentlichen Geldern umfangreich zu fördern ist eine geniale Idee und ein Zukunftsmodell. Wie allerdings subventioniert wird – nämlich in Apparate und Institutionen, statt in Projekte und Produktionen – und wie die öffentlichen Theater mit Geld umgehen, ist garantiert nicht 21. Jahrhundert. Es ist sogar aberwitzig antiquiert. Das Wesentliche jedoch ist: Es muss überhaupt nichts bleiben, wie es ist! Veränderung, mehr und bessere Kunst sind möglich – wenn die vorhandenen Mittel dafür nur effizient, unkonventionell, modern und auch sozial in einem zeitgemäßen Sinn eingesetzt werden und das Theater es versteht, seine beiden großen Ressourcen zu nutzen: die Kraft und die Fantasie der Theatermacher einerseits sowie ihnen gegenüber das Publikum, das nicht ermüdet, immer und immer wieder seine existenziellen Fragen an das Leben und die Welt der Kunst anzutragen!

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