01.07.2005

Wissenschaftler-Selektion: Wer gefragt wird, taugt nix?

Analyse von Ella Whelan

Ein neues US-Protokoll behauptet, Wissenschaftler mit Industrieverbindungen seien nicht in der Lage, die Sicherheit von Arzneimitteln zu beurteilen. Das riecht nach modernem McCarthyismus.

Im März dieses Jahres hat das Gesundheitsministerium der Vereinigten Staaten neue Regularien erlassen, angeblich, um „Interessenskonflikte“ seiner Mitarbeiter auszuschließen: Jedwede (bezahlte oder unbezahlte) Beratertätigkeit für biomedizinische Unternehmen ist untersagt, ebenso der Besitz von Pharma- und Biotechnologie-Aktien – auch für Familienangehörige.
Diese neuen Regularien sind das Ergebnis einer Verbraucherschutzkampagne gegen die Parteilichkeit wissenschaftlicher Institutionen und Prüfungsgremien zugunsten der Pharmaindustrie. Die Verbraucherschutzgruppen fordern, dass Wissenschaftler, die über medizinische und gesundheitspolitische Themen forschen, schreiben und veröffentlichen, alle Finanzierungsquellen und andere Industrieverbindungen offen legen sollen.
Diese Debatte reicht bis in die 90er-Jahre zurück. Zahlreiche namhafte medizinische Fachzeitschriften erließen damals, um der Beeinflussung der Medikamentenforschung durch Pharmaunternehmen zu begegnen, strenge Vorschriften, die vor der Veröffentlichung eine Offenlegung der Forschungsfinanzierung verlangten. Angeregt durch den Verbraucherschutz-Aktivisten Ralph Nader lancierte das Center for the Science in Public Interest (CSPI) im Jahr 2001 das Projekt „Integrität in der Wissenschaft“, das finanzielle Verflechtungen zwischen Wissenschaftlern, Organisationen und der Industrie aufdeckte. Die CSPI äußerte damals „Besorgnis über die Verbindungen zwischen Industrie und Wissenschaft“ und darüber, „wie die Anforderungen der Industrie die Wahrung öffentlicher Interessen und damit die eigentliche Aufgabe der Wissenschaft unterminierten“.
 

„Wer Wissenschaftler mit Industrieverbindungen aus Berater- und Entscheiderrollen entfernt und nur die übrig lässt, die als „rein“ und „unbefleckt“ gelten, schadet der wissenschaftlichen Diskussionskultur.“



Anhänger dieser Offenlegungsvorschriften geben vor, dass diese die Interessen der Konsumenten schützen und keinerlei negative Auswirkungen für einzelne Wissenschaftler oder auf die freie und offene wissenschaftliche Debatte haben. Ebenso argumentieren die Anhänger der sehr viel drakonischeren Regularien des Gesundheitsministeriums, die selbst mutmaßliche Verbindungen zu Unternehmen verbieten. Doch diese Annahme führt in die Irre. Tatsächlich schaffen solche Richtlinien eine Kluft zwischen angeblich glaubwürdigen (die keine Verbindungen zur Industrie haben) und angeblich unglaubwürdigen Wissenschaftlern. Zudem verhindert eine solche Bewertung die Entwicklung erfolgreicher Kooperationen zwischen Top-Wissenschaftlern und Unternehmen. Nicht zuletzt schadet eine derartige Selektion der wissenschaftlichen Diskussionskultur, da sie Wissenschaftler mit Industrieverbindungen aus Berater- und Entscheiderrollen entfernt und nur die übrig lässt, die als „rein“ und „unbefleckt“ gelten.
Sehr deutlich zeigten sich die negativen Folgen einer solchen Einordnung an dem jüngsten Angriff der CSPI auf die Integrität von Wissenschaftlern, die die Sicherheit der Schmerzmittel Vioxx, Bextra und Celebrex (so genannter Cox-2-Inhibitoren) bewerteten. Die CSPI berief sich dabei auf Daten aus dem Integritäts-Projekt und argumentierte, das Beratungsgremium der US-amerikanischen Food and Drug Administration (FDA) habe im Februar 2005 nur deshalb dafür gestimmt, Vioxx wieder zuzulassen und seine pharmazeutischen Vettern Bextra und Celebrex in den Regalen zu belassen, weil es mit parteilichen Industrievertretern besetzt gewesen sei, die ihre Zustimmung nicht auf Basis ihrer sachkundigen Interpretation der verfügbaren Daten gegeben hätten, sondern, um ihren Sponsoren in der Industrie einen Gefallen zu tun. [1] Daraus wurde geschlossen, dass die voreingenommenen Wissenschaftler (d.h. diejenigen mit Industrieverbindungen) ihr eigenes finanzielles Interesse höher stellten als die Gesundheit amerikanischer Verbraucher und deshalb, trotz entgegengesetzter Studienergebnisse, den Verkauf des gefährlichen Arzneimittels befürworteten.


Diejenigen, die gegen die Verbindungen von Wissenschaftlern zur Industrie agitieren, vertreten eine Reihe fragwürdiger Annahmen, so:
 

  • Wissenschaftlern, die jemals für ein Pharmaunternehmen gearbeitet oder ein solches beraten haben, könne per definitionem nicht zugetraut werden, eine unvoreingenommene Entscheidung auf Basis der vorliegenden wissenschaftlichen Erkenntnisse zu fällen.
  • Gremiumsmitglieder, die angeben, keine Verbindungen zur Industrie zu haben, seien per se glaubwürdig, ehrlich und unabhängig und deshalb besser geeignet, das für den amerikanischen Konsumenten Richtige zu tun.
  • Im Fall von Vioxx und der verwandten Arzneimittel habe die FDA nicht im öffentlichen Interesse gehandelt, und sie solle in Zukunft angewiesen werden, jeden Wissenschaftler mit Verbindung zu einem Unternehmen, dessen Produkt zur Diskussion steht, von dem Gremium auszuschließen; und zwar unabhängig davon, worin diese Verbindung bestehe – sei es, dass der Wissenschaftler früher für das Unternehmen gearbeitet, eine Beraterfunktion übernommen oder Aktien besessen habe.
  • Die einzig wahrhaft konsumentenfreundliche Entscheidung des FDA-Gremiums wäre gewesen, die Schmerzmittel zu verbannen und nur Wissenschaftler ohne Verbindungen als Entscheidungsträger zuzulassen.



Das Ergebnis dieser Ansammlung von Annahmen ist ein Protokoll, das „glaubwürdige“ von „unglaubwürdigen“ Wissenschaftlern separiert, indem es nach dem Schema eines modernen McCarthyismus verfährt: Wissenschaftler, die sich für eine Mitgliedschaft in dem FDA-Komitee qualifizieren möchten, werden gefragt: „Sind Sie jetzt oder waren Sie jemals zuvor Empfänger finanzieller Kompensationen oder anderer Einkünfte von Pharmaunternehmen?“ Tatsächlich ist das Integritäts-Projekt eigentlich eine Liste von Wissenschaftlern – ähnlich der Liste tatsächlicher oder mutmaßlicher Kommunisten in den 50er-Jahren –, die in irgendeinem Stadium ihrer Kariere mit der Industrie zusammengearbeitet haben. Einem Wissenschaftler auf der Liste mangelt es diesem Denken zufolge augenscheinlich an Integrität; die eines Wissenschaftlers, der nicht auf der Liste steht, ist hingegen intakt. Die Schlussfolgerungen, die sich aus einer derartigen Wissenschaftler-Selektion ergeben, sind schwerwiegend.


Seit langem sind die selbsternannten Verbraucherschützer, insbesondere die Gruppen um Ralph Nader wie das CSPI und die Health Center Research Group, dafür bekannt, gegen moderne technologische Produkte – und zwar nicht nur Medikamente, sondern auch Lebensmittelzusätze, Pestizide und Mittel für die moderne Landwirtschaft und die Lebensmittelproduktion – zu agitieren. Das Ziel dieser Gruppen ist klar: Sie lehnen technologischen Fortschritt und jedweden Profit, der daraus erwächst, ab – ohne Rücksicht auf einen möglichen Konsumentennutzen. Bei der Diskussion über diese Themen mangelt es diesen Gruppen allerdings häufig an wissenschaftlichen Beweisen für ihre Thesen. Um in öffentlichen Debatten zu reüssieren, führen sie daher häufig „ad hominem“ Angriffe gegen jeden, der die Chancen von Technologien (Lebensmittel, Arzneimittel, Verbrauchsgüter) für größer hält als ihre Risiken.
Indem sie jeden Wissenschaftler, der beratend für die Industrie tätig war, als unglaubwürdig ablehnen, übersehen die Verbraucher-Aktivisten, dass sich die Unternehmen in der Regel an die besten und intelligentesten Wissenschaftler wenden, um deren Expertenmeinung einzuholen. Möchte man den „ad hominem“-Angriffen auf gleicher Ebene begegnen, könnte man ebenso einfach argumentieren, dass die nicht als Berater hinzugezogenen Wissenschaftler weniger kenntnisreich sind.
Wären die Beratungsgremien der FDA (und anderer bundesstaatlicher Behörden) ausschließlich mit Leuten besetzt, die nicht mit der Industrie zusammengearbeitet haben, könnte dies der Verbreitung wirklicher Vorurteile Vorschub leisten.


In Bezug auf die Schmerzmittel war es wissenschaftlich legitim festzustellen, dass Cox-2-Inhibitoren Chancen für Patienten mit schwerer Arthritis sowie ein enormes Potenzial zur Minimierung des Krebsrisikos boten. Aus Sicht der Verbraucherschützer sollte diese Schlussfolgerung jedoch ausschließlich von den am wenigsten glaubwürdigen Quellen öffentlich ausgesprochen werden – den Wissenschaftlern, die dafür bekannt sind, mit der Pharmaindustrie auf Kriegsfuß zu stehen.
In Wirklichkeit, so behaupten die Kampagnengruppen, gäbe es außer ihrer eigenen keine rechtmäßige Position – alle anderen seien von der Industrie gekauft und bezahlt –, und man werde diese Verbindungen und Verstrickungen aufdecken und entlarven. Eine alternative, unabhängige und glaubwürdige Position scheint es ihrer Auffassung nach nicht zu geben.
In der Wissenschaft ist aber nicht die Finanzierung, sondern die Genauigkeit und Zulässigkeit der generierten Daten sowie deren Interpretation von Bedeutung. Das heute nicht mehr bestehende, von Unternehmen finanzierte Tobacco Institute behauptete früher, die krankheitserregende und tödliche Wirkung des Tabakkonsums sei niemals bewiesen worden. War dies glaubwürdig? Nein! Aber nicht, weil das Tobacco Institute sein Geld von der Industrie bekam. Selbst wenn der Osterhase das Institut finanziert hätte, wären derartige Äußerungen wissenschaftlicher Unfug gewesen, denn die Diskussion, ob das Rauchen eine Hauptursache für den frühzeitigen und vermeidbaren Tod ist oder nicht, war damals längst abgeschlossen.


Wenn schon Wissenschaftler, die beratend für die Industrie tätig waren, verdächtig erscheinen, erwachsen dann aus anderen Finanzierungsformen – z.B. aus staatlichen Subventionen, privaten Stiftungen oder finanziellen Beiträgen von Verbrauchern – nicht erst recht Voreingenommenheiten? Regierungsbehörden müssen ihre Existenz permanent rechtfertigen; sie sind daher nicht neutral, sondern verfolgen eigene Interessen. Wenn die US-amerikanische Umweltschutzbehörde also eine Gruppe bezuschusst, um ein gerade Schlagzeilen machendes Umweltgift zu untersuchen, könnte diese nicht versucht sein, Beweise zu finden, die die Regulierung dieser Chemikalie legitimieren – bloß, um der Behörde einen Gefallen zu tun?


Private Stiftungen können ebenso wenig neutral sein. Die Tides Foundation, die die Mehrheit der größeren US-amerikanischen Umweltschützer-Gruppen generös unterstützt, engagiert sich dafür, die Umwelt von „toxischen“ Chemikalien zu befreien – seien diese in gezüchtetem Lachs, in Hausstaub, Kosmetika oder Kinderspielzeug enthalten. Warum aber soll eine ideologisch motivierte Stiftung weniger verdächtig als eine andere Finanzierungsquelle, und warum sollte die Gefahr der Befangenheit hier geringer sein als bei einem Wirtschaftsunternehmen?
Darüber hinaus gibt es Voreingenommenheiten auch außerhalb der Finanzwelt. Sollten wir einem Forscher, der sich zu Aids-Zahlen und zur Aids-Politik äußert, vorschreiben, seine sexuelle Orientierung offen zu legen? Sollte eine Wissenschaftlerin, die Richtlinien im Zusammenhang mit Minderheitenförderungsprogrammen evaluiert, ihre ethnische Herkunft angeben? Wenn ein Arzt über viel versprechende Ergebnisse eines neuen Herzmedikaments berichtet, sollten Verbraucher darauf aufmerksam gemacht werden, dass dieser Arzt Jahre seiner Laufbahn darauf verwendet hat, die Sicherheit und Effektivität dieses Medikamentes zu beweisen; dass er ein professionelles und emotionales Interesse an guten Ergebnissen hat, damit die Jahre seiner Arbeit nicht umsonst gewesen sind?


Tatsache ist, dass alle Wissenschaftler persönliche Ideologien, Motivationen und Ziele haben, die möglicherweise Voreingenommenheiten in die Wissenschaft hineintragen können. Wissenschaftliche Arbeit sollte indessen nach ihrer Güte bewertet werden (und um nichts anderes geht es bei Peer Reviews und Ergebnisvergleichen), nicht nach Interessenskonflikten, die möglicherweise vorhanden sind – oder eben nicht.

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