01.11.1999

”Wir sind dabei, eine ganze Nation zu zerstören”

Analyse von Felicity Arbuthnot

Felicity Arbuthnot berichtet aus dem Irak über die Erniedrigung des Landes.

”Wir schrien, weil wieder bombardiert wurde, und mein Vater ging nach draußen, um unser Haus zu beschützen”, sagt der 10-jährige Noor in der St. Raphael Schule in Bagdad, 1921 von den Briten gegründet. ”Unser Haus bebte und wurde in Staub gehüllt. Wir hatten Angst, da wir gehört hatten, dass der Staub krank mache.”
Selbst die Jüngsten wissen von der Krebsepidemie und der seit dem Golfkrieg 1991 stetig steigenden Häufigkeit von Missgeburten. Experten führen sie auf den Einsatz von uranhaltigen Granaten durch die amerikanischen Streitkräfte zurück, die im gesamten Gebiet des Irak radioaktiven Staub hinterließen.
Als ich die Schule verließ, wollte ich mich für den süßen arabischen Tee bedanken, der mir gereicht worden war. Der Dame, die ihn gebracht hatte, liefen die Tränen über die Wangen. ”Ich bin so müde, so müde”, schluchzte sie. Die dunklen Ringe unter den Augen verrieten nicht nur ihre Müdigkeit, sondern auch ihre Unterernährung. Neben ihr stand ein Englischlehrer. ”Mein Sohn ist Arzt in Washington. Warum tun sie uns das an?”

Während meiner 17 Reisen in den Irak seit dem Ende des Golfkrieges habe ich gesehen, wie eine Nation aufgrund der Wirtschaftssanktionen des UN-Sicherheitsrates vom Unmöglichen ins schier Apokalyptische versinkt. Vor Verhängung der Sanktionen war der Irak noch eine an Erdöl reiche Industrienation, die in der Lage war, ihrer Bevölkerung ausreichend Nahrungsmittel zur Verfügung zu stellen. Denis Halliday, ein ehemaliger ranghoher Angestellter bei den Vereinten Nationen, sagte im September 1998: ”Wir sind dabei, eine ganze Nation zu zerstören. So einfach und beängstigend ist das.” Als humanitärer Koordinator im Irak ist Halliday aus Empörung über die Folgen des Embargos zurückgetreten.
20 Millionen Menschen leben im Irak, ein Drittel davon ist jünger als 15 Jahre alt. Zu den durch das Embargo vom 6. August 1990 (Hiroshima-Jahrestag) verbotenen Einfuhrgütern gehören neben Verbandsmaterialien, Teilen für das Wasserversorgungs- und Klärsystem sowie Einwegspritzen auch Tischtennisbälle, Kinderspielzeug, Bleistifte, Fahrräder, Deodorants, Sanitärtücher, Lippenstifte, Computer, Mobiltelefone und Insektenspray.

””Das Embargo ist sehr demokratisch, niemand bleibt davon verschont”, sagt man ironisch im Irak”

Der Irak ist eines der heissesten Länder der Welt. Im Dar Al Dawla, einem der grössten Kinderheime im Irak, hat sich nach Angaben der Direktorin, der Psychologin Nidhal Majeed, die Zahl der Kinder in den letzten Wochen verdoppelt. ”Wirtschaftlicher und sozialer Zusammenbruch sowie Stress führen zu mehr Scheidungen, Trennungen und Verwahrlosung von Kindern,” sagt sie.
”Das Embargo ist sehr demokratisch, niemand bleibt davon verschont”, sagt man ironisch im Irak. Das ”demokratische Embargo” verschont in der Tat nur Wenige. Im Kinderheim wird dies deutlich: Die Kinder sind Kurden, Moslems, Christen, Sunniten und Schiiten.
Die 15-jährige Rusul kann nicht mehr lächeln. Ihr Gesicht, ihr Hals und ihr Körper sind entsetzlich verbrannt und vernarbt. ”Sie stammt aus Kut (an der Straße von Bagdad nach Basra)”, erklärt Frau Majeed. ”Während des Golfkrieges wurde ihr Haus bombardiert, die ganze Region ging in Flammen auf, ihr Bruder und ihre Eltern starben, sie wurde gerettet. Zwei ihrer Brüder sind nun in einem Jungenheim”. Rusul wendet sich von der Kamera ab, das Gesicht mit den Händen verdeckt, so dass nur ihre wunderschönen Augen zu sehen sind. Ob man sie für eine Hauttransplantation ins Ausland bringen könne? ”Sie hat keine intakte Haut, die man transplantieren könnte”.

Normalität wird durch den Mangel an Elektrizität zusätzlich erschwert. Das irakische Versorgungsnetz, das seit 1991 immer wieder kurz vor dem Zusammenbruch stand, wurde im Dezember 1998 durch englische und amerikanische Bombardierungen endgültig zerstört. Der Elektrizitätsmangel birgt ein weiteres Desaster: die weit verbreiteten Wohnungsbrände. Die meisten Menschen können sich Lampen oder Kerzen aufgrund der sich in gigantischen Höhen bewegenden Inflationsrate nicht mehr leisten, weil sie mehr als einen Monatslohn kosten. Sie müssen mit selbst gemachtem Ersatz improvisieren. Besonders populär ist der Docht in der Kerosinflasche. Eine umfallende oder explodierende Kerosinflasche führt zu vorhersehbaren Situationen.
 

Hungersnot made in the UN 1993 Die Kinder- und Säuglingssterblichkeit im Irak hat sich laut UNICEF seit 1990 verdreifacht. 1994 Das UN-Welternährungsprogramm (WFP) stellt alle Anzeichen einer sich entwickelnden Hungersnot fest. Einem Großteil der Bevölkerung stehen zur täglichen Ernährung weniger Kalorien zur Verfügung als den Menschen in Mali. 1995 Das Welternährungsprogramm warnt die Weltöffentlichkeit: Den Kindern im Irak läuft die Zeit davon. 1996 Das UN-Kinderhilfswerk UNICEF befürchtet, dass infolge von Unterernährung ein Drittel der irakischen Kinder unter Wachstums- und Entwicklungsstörungen leidet. 1999 Ein Bericht von UNICEF stellt fest, dass es im Irak mittlerweile die höchste Kinder- und Säuglingssterblichkeit gibt. Von der UNICEF bestätigte Statistiken des irakischen Gesundheitsministeriums führen den Tod von 1,25 Millionen Kindern auf die Folgen des Embargos vom August 1990 bis August 1997 zurück.



Mohammed Amin Ezzet leitet das Symphonie-Orchester des Irak, und er ist ein rechtschaffender Mann, dem seine Familie und die Musik über alles geht. Um einen pan-arabischen Musikpreis zu gewinnen, war er nach Hause zurückgekehrt, um in seinem Arbeitszimmer zu komponieren, während Jenan, seine Frau, in der Küche den Reis für den nächsten Tag vorbereitete. Die Elektrizität war ausgefallen, und sie stellte den Topf auf den Gasherd, um ihn über Nacht zu kochen. Ihr Nachthemd berührte die Flammen. Durch ihre Schreie aufgeschreckt rannte Mohammed nach unten und warf sich über sie, um die Flammen zu ersticken. Jenan erlitt so starke Verbrennungen, dass ihre Mutter, als sie sie im Krankenhaus sehen durfte, nicht anders konnte, als für den Tod der Tochter zu beten. Jenan starb am Tag darauf. Mohammeds Arme, Brust und Hände sind irreparabel geschädigt – es gibt keine Behandlungsmöglichkeiten für Verbrennungen, von plastischer Chirurgie kann im sanktionierten Irak gar keine Rede sein. Noch immer ist Mohammeds Zustand zu instabil, als dass man ihm vom Tode seiner Frau berichten könnte.

Sogar die bescheidene Landwirtschaft des Irak ist völlig zum Erliegen gekommen. Der Tigris wird im Norden von der Türkei zur Elektrizitätsgewinnung aufgestaut und ist dadurch im Irak zu einem schmalen Rinnsal verkümmert. ”Die Bauern haben in diesem Jahr dreimal Korn gesät”, berichtet Michel Nahal, der dem Kirchenrat des Mittleren Ostens vorsteht, ”doch jedes Mal haben die Vögel die Ernte zunichte gemacht.” Das ausbleibende Wasser hat im heissesten Jahr seit Jahrzehnten zu Hungersnöten geführt.
Als am Tage meiner Abreise die blutrote Morgensonne aufging, umkreisten Vögel unser 10-stöckiges Haus, und ihr klagendes Schreien erfüllte das frühe Sonnenlicht. Auf der 1.200 Kilometer langen Fahrt nach Amman zeugten geschmolzene Asphalthaufen am Straßenrand von zahllosen Tankwagen, die unterwegs explodierten. Diese Tanklaster, die sich auf ihrer ständigen Fahrt von Bagdad nach Jordanien und zurück durch die Wüste quälen und die billigste Energie der Welt ausliefern (die geringe Menge Öl, die die UN den Irak exportieren lässt), sind fahrbare Bomben, denn Ersatzteile unterliegen seit neun Jahre dem Embargo. Die LKW-Fahrer sind die unbekannten Opfer, die unbesungenen Helden des Embargos.
Stunden später erfüllte dicker schwarzer Qualm den Horizont. Ein Fahrer war einsam gestorben, sofort verdampft. Alles, was mein Fahrer und ich im Vorbeifahren tun konnten, war, ein Gebet gen Himmel zu richten an unseren geteilten, aber doch einen Gott.

Zwanzig Stunden nach der Abfahrt in Bagdad tauchten die Lichter von Amman am Horizont auf, als uns plötzlich drei Tanklaster Seite an Seite entgegenkamen. Unser Wagen kam von der Straße ab und kurz vor einem 600 Fuß tiefen Abgrund zum Stehen. Nachdem sich Herzschlag und Magen wieder beruhigt hatten, erinnerte ich mich, dass auch Leichentücher und Särge auf der Embargoliste des UN-Sanktionskommitees stehen. Hätte uns der Tod auf der anderen Seite der Grenze ereilt, wäre uns sogar ein würdevolles Sterben untersagt worden, gleich ob als Christ oder Moslem. Ich fragte mich, warum so viele das Risiko auf sich nehmen und immer wieder aufs Neue in den Irak reisen. Und plötzlich wusste ich es: Weil hier einzig die Vögel von diesem einmaligen Embargo verschont bleiben.

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