01.03.2007

Wie weiter mit Europa

Analyse von Sabine Reul

So jedenfalls nicht.

Man kann es etwa so zusammenfassen: Vor 50 Jahren, im März 1957, beschlossen im schönen Rom sechs europäische Regierungen aus Gründen, die nach 1970 Geborene nicht mehr wirklich nachempfinden können, ein Stückchen ihrer Souveränität an eine als „EWG“ bekannte Instanz auszulagern. Das hatte damals den Charme der Belanglosigkeit, schließlich ging es um Dinge wie die Konsistenz europäischer Wurstpellen und um Kohlrabi-Anbaurichtlinien. So war auch deutschem Ordnungssinn und Organisationstalent endlich ein zuträgliches Betätigungsfeld eröffnet, und alle waren froh.

Doch irgendwann begann die Sache auszuufern. Es kam das in Gang, was Louis Althusser einmal als „subjektlosen Prozess“ bezeichnen würde. [1] Dieser gebar in rascher Folge die EG, die Europäische Währungsunion, den Binnenmarkt, den Ecu, die EU und schließlich den Euro. Aus den ursprünglich 6 wurden erst 9, dann 15, 25 und schließlich 27 Mitgliedsstaaten. Was als intergouvernementale Veranstaltung begonnen hatte, entwickelte sich fort zu einem völkerrechtlichen Novum: ein Mischgebilde, das zwar kein Bundesstaat, aber auch kein bloßer Staatenbund ist. Und das hat sich in den vergangenen 15 Jahren mittels Vertiefung und Erweiterung so weit ausgedehnt, dass keiner mehr weiß, ob die Grenzen Europas am Ural, am Ganges oder in der Sahara liegen und wie eigentlich die Gesetzesflut zustande kommt, die Europa bis in seine letzten Winkel dem ordnenden Brüsseler Prozess unterwirft.

Im Prozess der Transformation und Reform des europäischen Staatengebildes ist es in den letzten 15 Jahren zu einem „fundamentalen Zusammenbruch der Kommunikation zwischen den Eliten und einem Teil der Bevölkerung“ gekommen, meint der niederländische Sozialdemokrat René Cuperius und fügt hinzu: „Mittels Integration durch die Hintertür wurde die EU ein amorphes, labyrinthisches Gebilde ohne Charme oder Charisma.“ [2] Folglich bietet die Europäische Union ein halbes Jahrhundert nach den Römischen Verträgen ein trauriges Bild. Der Elan, mit dem noch in den 90er-Jahren die Erweiterung und Vertiefung des vereinten Europa in Angriff genommen wurden, ist verebbt. Der Schock der Ablehnung des Verfassungsvertrags durch Franzosen und Niederländer in den Referenden des Jahres 2005 hat eine tiefe Vertrauenskrise ausgelöst.

Auch für Deutschland weisen jüngste Umfrageergebnisse auf ein Meinungsklima hin, das von Indifferenz und Skepsis bis zu ausgeprägter Ablehnung der EU geprägt ist: Mit nur 30 Prozent ist die Zustimmung zur EU-Erweiterung geringer als in jedem anderen Land der Union. Laut Allensbach ist es zurzeit auch nur für 19 Prozent der Deutschen dringlich, dass die deutsche Ratspräsidentschaft in der Umsetzung des europäischen Verfassungsprojekts Fortschritte erzielt. Lediglich Litauer, Slowenen und Polen sind heute mehrheitlich der Ansicht, die EU entwickle sich in die richtige Richtung. In den Kernländern der alten Europäischen Gemeinschaft wie Frankreich, Großbritannien und Deutschland sagen dies nur noch 22, 24 bzw. 28 Prozent der Menschen. [3]

Beißende Kritik erfuhr der vorgeschlagene Verfassungsvertrag jüngst sogar von Roman Herzog, ehemaliger Bundespräsident und Vater der 2000 in Nizza feierlich verabschiedeten Europäischen Grundrechte-Charta, die den zweiten Teil des bislang von nur zehn EU-Mitgliedsstaaten ratifizierten Verfassungsvertrags bildet. Gemeinsam mit dem Wirtschaftswissenschaftler Lüder Gerken beklagte Herzog in der Tageszeitung Die Welt die „sachwidrige Zentralisierung“, die den nicht gewählten EU-Institutionen Ministerrat und Kommission immer größeren Einfluss auf die Gesellschaft sichere, sodass man sich fragen müsse, „ob man die Bundesrepublik Deutschland noch uneingeschränkt als Demokratie bezeichnen“ könne. Herzog und Gerken forderten eine radikale Reform der EU-Institutionen durch die Aufwertung des EU-Parlaments zur vollwertigen Legislative, die Nichteinführung der im Verfassungsvertrag vorgesehenen Mehrheitsbeschlüsse und einen abschließenden Kompetenzkatalog, der Umfang und Grenzen der EU-Zuständigkeiten ein für allemal festlegen soll. [4]

Selten ist der EU ein so schlechtes Zeugnis ausgestellt worden. Doch dass eine institutionelle Reform Abhilfe schaffen kann, ist zu bezweifeln. Die Strukturen der EU widersprechen ohne Zweifel jedem Grundsatz der Gewaltenteilung und demokratischen Willensbildung. Doch das ist schon lange sattsam bekannt. Ralf Dahrendorf, selbst Anfang der 70er-Jahre Mitglied der Europäischen Kommission, schrieb dazu schon vor einigen Jahren: „Ein politisches Gebilde, das im Geheimen Gesetze beschließt, im Ministerrat hinter verschlossenen Türen, ist eine Beleidigung für die Demokratie.“ [5] Aber das ist nur ein Aspekt eines sehr viel umfassenderen Problems.

„Um der antidemokratischen Europäischen Union Demokratie einzuhauchen, reicht keine institutionelle Reform; es bedarf einer ‚Kulturrevolution‘!“

Die EU hat nicht nur undemokratische Institutionen, sondern ihre gesamte politische Kultur berechtigt zum Zweifel an der Ernsthaftigkeit jüngster Bekenntnisse zu dem, was man heute schwammig „Bürgernähe“ nennt. Das gesamte Ethos der EU und ihrer Apparate ist – man kann es anders nicht beschreiben – antidemokratisch. Gegenüber den neuen Beitrittsländern hat sich im Zuge der EU-Erweiterung ein geradezu grotesk autoritärer Politikstil auf dem Kontinent eingenistet. Der bislang in dieser Hinsicht wohl unbegreiflichste Vorgang war die Verhängung von Sanktionen gegen Österreich anlässlich des Eintritts der Freiheitlichen Partei (FPÖ) Jörg Haiders in die österreichische Regierung im Jahre 2000. Die EU-14 froren kurzerhand die bilateralen Beziehungen zur Alpenrepublik ein; alle Kontakte und Botschaftertreffen auf zwischenstaatlicher Ebene wurden eingestellt und österreichische Kandidaten bei der Vergabe internationaler Ämter nicht mehr unterstützt. [6] In der EU erinnert man sich dieser Episode inzwischen nur ungern, was bedauerlich ist, denn hier wurde erstmals geprobt, was seither gegenüber Beitrittskandidaten zur gängigen Praxis geworden ist: Intervention in innere Angelegenheiten im Namen der Demokratie und des Exports europäischer „Werte“.

Dieses eigenwillige Werteverständnis kommt inzwischen nicht nur gegenüber der Türkei oder den östlichen Beitrittsländern zur Anwendung, sondern auf breiter Front. Als die Niederländer und Franzosen im Mai und Juni 2005 gegen den europäischen Verfassungsvertrag votierten, meinte dazu der Ex-Maoist und Kommissionspräsident Barroso, sie hätten „die Grenze zwischen Demokratie und Demagogie überschritten“ und klagte, ein populistischer Trend drohe, „das Europa, das wir zu bauen versuchen, zu untergraben“. [7] Die Franzosen und Niederländer hatten zwar das ihnen verfassungsrechtlich garantierte Referendum genutzt, um ihre Haltung zum europäischen Verfassungsprojekt zu äußern. Doch da sie anders ausfiel als erhofft, war diese politische Willensbekundung in den Augen der Brüsseler Bürokraten undemokratisch.

Natürlich ist unbestreitbar, dass rechte Demagogen die weit verbreitete EU-Skepsis für ihre Zwecke zu nutzen trachten. Doch vielleicht erzielen sie damit gewisse Erfolge, weil Brüssel sich seinen Bürgern so autoritär präsentiert. Die EU hat – vielleicht, weil sie selbst Politik als subjektlosen Prozess praktiziert – wenig übrig für ihre Subjekte. Da beileibe nicht nur Niederländer und Franzosen für das Verfassungsprojekt wenig Sympathie hegen, wurde der gesamte Fahrplan für seine Erörterung inzwischen so gelegt und gestreckt, dass nur ja keine zeitliche Berührung mit Wahlterminen, ob in Frankreich (Mai 2007) oder zum Europaparlament (2009), eintritt.

„Die EU-Bürokratie hat seit Beginn der 90er-Jahre jede geistige Mode des Dekonstruktivismus begierig aufgesogen.“

Es bedarf also gewiss mehr als einer bloßen institutionellen Reform, um der Europäischen Union Demokratie einzuhauchen; man möchte sagen: Es bedarf einer Art Kulturrevolution. Der geplante Verfassungsvertrag hingegen schreibt nicht nur den beschriebenen Zustand fort. Er zementiert ihn auch in zweierlei Weise: zum einen, indem er ihn als „Verfassung“ adelt, zum anderen, indem er anstelle der Einstimmigkeit im Ministerrat Mehrheitsentscheidungen vorsieht. Auf diesem Wege kann Brüssel dann über die Köpfe ganzer Länder hinweg Gesetze erlassen. Und die betreffen nun leider nicht mehr nur Wurstpellen, sondern unterwerfen das Leben bis in persönlichste Bereiche minutiöser Regelung. [8]

So, wie sie heute beschaffen ist, ist die EU eine fundamentale Fehlentwicklung. Und für diese lassen sich prinzipiell zwei Kernursachen ausmachen. Zum einen hat im Laufe des gesamten europäischen Einigungsprozesses seit Mitte der 50er-Jahre des letzten Jahrhunderts eine Reflektion darüber, wie überhaupt aus den Nationalstaaten Europas ein demokratisch verfasstes supranationales Staatswesen werden soll, nie stattgefunden. Zum anderen haben die EU-Führungen mit dem Zerfall der alten politischen Ideologien einen starken Orientierungsverlust erlitten. „Die EU wurde vor allem in den letzten 15 Jahren durch die Kristallisierung eines elitären Bewusstseins vor dem Hintergrund der Aushöhlung der erschöpften politischen Traditionen des Konservatismus, Liberalismus und Sozialismus geprägt“, schrieb unlängst ein britischer Kommentator. [9] Die EU-Bürokratie hat seit Beginn der 90er-Jahre jede geistige Mode des Dekonstruktivismus begierig aufgesogen, was ihre Entfernung von klassischen Konzepten und Praktiken demokratischer Politik gewiss begünstigt hat. [10]

Der europäische Einigungsprozess erfolgte stets ad hoc unter dem Einfluss aktueller politischer Konstellationen und Motive. In den 50er-Jahren stand der Wunsch im Mittelpunkt, durch wirtschaftliche Integration die Gefahr erneuter Interessenskonflikte in Europa mit potenziell militärischen Folgen, aber auch ein Wiederaufleben des Nationalismus zu bannen. Ab den 70er-Jahren war die Bereitschaft nationaler Regierungen, der EU immer umfassendere wirtschaftspolitische Kompetenzen zu übertragen, von der Hoffnung geprägt, durch externe Disziplin die Umsetzung unpopulärer Maßnahmen zur Anpassung an sinkendes Wirtschaftswachstum zu erleichtern. So entstanden 1979 die europäische Währungsunion und dann 1993 der europäische Binnenmarkt. Und schließlich haben die Öffnung Osteuropas und der internationalen Märkte auf der einen und die zunehmende Erosion der politischen Bindungskraft nationaler Eliten auf der anderen Seite den gewaltigen Integrationsschub der letzten 15 Jahre ausgelöst. An keinem Punkt wurde während dieses halben Jahrhunderts einmal innegehalten und die entscheidende Frage gestellt: Wer ist in dem ganzen Prozess überhaupt noch der Souverän?

Hier liegt der Kern des Dilemmas, in dem die EU sich befindet: Es geht darum, wie sich politischer Subjektivität und demokratischer Willensbildung auf dem alten Kontinent wieder Raum geben lassen. Die EU pflegt einen arroganten, elitären Bürokratismus, der die positiven Empfindungen, die sich bis in die 90er-Jahre hinein mit der Idee des geeinten Europa verbanden, mehr oder weniger restlos vernichtet hat. Das ist die Wirklichkeit – und da muss jedes Konzept für die Zukunft Europas neu ansetzen.

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