02.12.2011

Wie den Kindern das Kindsein geraubt wird

Analyse von Josef Hueber

Von der vorgeburtlichen Mozartbeschallung bis zur Kinderuni – Kindheit wird zunehmend „pädagogisch sinnvoll“ durchgeplant. Über verunsicherte Eltern und selbsternannte Experten, die vergessen haben, dass Kinder auch Freiräume brauchen, um sich entfalten zu können

Es war einmal, dass man diesen Wunsch seufzend ausgesprochen hat: Ich möchte nochmal Kind sein dürfen! Wenn man sich ansieht, wie heute die sogenannten Experten mit Eltern und wie Eltern daraufhin mit ihren Kindern umgehen, so kommt einem dieser Wunsch nicht mehr über die Lippen. Im Gegenteil. Man kommt sich vor wie der letzte Vertreter einer Kindergeneration, die einfach nur Kind sein durfte, vielleicht ein paar Mal zu oft geohrfeigt, aber dafür nicht im Brennspiegel eines Heeres von Miterziehern war, wie sie heute (meist) pseudoseriös als Experten und Ratgeber auftreten: vom Dr. in der Ratgeberspalte der Apothekerzeitung bis zum Psychologen in der Sprechstunde der Tageszeitung. Sie alle befördern ungemein wichtiges Wissen zu sich als ungeheuer unwissend fühlenden Eltern, die schon lange nicht mehr daran glauben (dürfen), dass mit bloßer Intuition [1] und gesundem Menschenverstand eine so schwierige Angelegenheit wie Erziehung erfolgreich durchgeführt werden könne. Jede These, die unsere Allwissenheitsexperten wie eine Evangeliums-Lesung präsentieren, impliziert unausgesprochen, dass es etwas ungemein Wichtiges zu sagen gäbe, wovon die Eltern bisher nur eine rudimentäre oder – besser noch – falsche Vorstellung gehabt hätten. Am Ende intensiver Beratungstouren und -torturen steht konsequenterweise der Erwerb des Erziehungs-Führerscheins, Ausdruck über Bord geworfener unsinniger Vorstellungen von richtiger Erziehung; 2006 jedenfalls war die Hälfte aller Deutschen für die Einführung eines solchen Lappens [2]. Und die Heilpädagogin Barbara Volk, „Entwicklungsbegleiterin in allen kindlichen Bereichen“, weiß dies auch auf Ihrer Webseite: „Für alles brauchen wir in unserem Land einen ‚Schein‘: Einen Anglerschein, einen Filmvorführschein, einen Hundeführerschein. Nur die Erziehung unserer Kinder wird kaum gefördert.“ [3]

Ja, so ist das.

Kindsein – ein Kampf gegen Bedrohungen und ein Sieg des unangepassten Verhaltens

Als Beobachter des Umgangs meiner Tochter mit ihrem hoffnungsvollen Nachwuchs sehe ich es immer wieder, wie Einfach-drauflos-Leben nicht mehr angesagt ist. Es beginnt damit, dass der Jüngste mit zweieinhalb – weil’s der Zahnarzt weiß – zum mehrmaligen Zähneputzen jeden Tag antritt – mit Schreien und Stampfen, was ihm aber nix nützt. Denn jedes Stück Schokolade ist Kariesträger, der, kindlichem Sprachverständnis drohend entgegenkommend, als Zahnteufel bezeichnet wird, dessen man sich erwehren muss: Schokoladeessen mit anschließend bestrafender Reinigungsprozedur. Klar, ein Wassereis hat es heute schon gegeben, erst morgen gibt’s diese Süßigkeit wieder, aber auf jeden Fall nicht nach dem Zähneputzen. Und so geht dies weiter mit dem Umgang mit ungehörigem Verhalten, verbal und non-verbal – alles keine Sache der Intuition, was richtige Erziehung ist, sondern ein Problem, das analysiert, strukturiert und völlig neu interpretiert werden muss, damit Erziehung zielgerichtet zum Erfolg führt. Keine Sorge, liebe Eltern, wenn ihr ratlos seid, nur weil ihr von eigenen oder fremden Kindern angelümmelt wurdet: In der „Sprechstunde“ für Eltern wird analysiert und mit Theorien therapiert, wenn ein Kind zu den Eltern Unflätiges als Reaktion auf eine Einschränkung sagt. Ein bisschen wundern dürft ihr euch dann allerdings schon, wenn ihr als die eigentliche Ursache für falsches Verhalten identifiziert werdet.

Kindsein – behütete Mangelware sein / Artenschutz vom Feinsten

Man fragt sich freilich, wie es kommt, dass in der Hektik des hurtigen postindustriellen, digitalen Zeitalters soviel Zeit für bewusste Erziehung verwendet wird, wo sie früher, als man noch mehr Zeit hatte als heute, einfach „unter ferner liefen“ lief. Die Antwort liegt auf der Hand. Der Wert des Kindes sowie die Beachtung, die man ihm schenkt, steigen mit seinem rückläufigen Vorkommen. Erziehung heute ist gewissermaßen Artenschutz vom Feinsten. Demographie als Nährboden moderner Pädagogik. In seinem kenntnisreichen Artikel „Very important babys“ [4] zeigt Klaus Werle, wie das Geburtendefizit Helicopter Parents (Hubschrauber-Eltern) hervorbringt. Diese Eltern gehen soweit, dass sie eine lupengenaue Beobachtung jedes Schrittes ihrer – wörtlich – einmaligen Sprösslinge für erforderlich halten, wie von einem über den Kleinen schwebenden Hubschrauber aus, damit dem Nachwuchs ein sicherer Weg in eine gesicherte Zukunft sicher ist. Eltern werden zu „Managern“ des gelungenen Lebens ihrer Kinder. Ein Beispiel aus meiner pädagogischen Praxis: Ein Vater suchte mich mehrmals in meiner Sprechstunde auf, weil ich seinem Kind in seinen Augen einen halben Fehler zu viel angerechnet hatte, indem ich die Durchstreichung als Unterstreichung wertete. Sein letztes Geschütz in einem zunächst aussichtlosen Kampf war die Erstellung und Vorlage einer 300-prozentigen Vergrößerung der Fundstelle. Mein Einwand, ich würde nicht mit der Lupe korrigieren, verhinderte nicht die angedrohte Beschwerde bei der Schulleitung.

Kindsein – Zeit, die in allen Phasen des Heranwachsens genutzt sein will

Die Hirnforschung hat es „bewiesen“ [5]: Wer nicht rechtzeitig versynapst ist, wird an irreparablen Spätfolgen leiden. So soll es „wissenschaftlich“ belegt sein, dass mozartbeschallte Embryonen einen Vorsprung haben. [6] Ein Vorsprung vermutlich vor schafsbeblökten Bauernhofkindern? Der Bauchlautspecher aus den USA für die intelligenzfördernde Beschallung von Müttern „in der Hoffnung“, wie man einst so schön sagte, steht schon bereit, um „optimale Lernmöglichkeiten“ zu gewährleisten [7]. Wo käme man auch hin, wenn die Embryos den ganzen Tag nichts zu tun hätten als im warmen Wasser herumzuliegen? Nahtlos fügt sich hier die Forderung nach stetig früherer Begegnung mit Fremdsprachen, vornehmlich dem Englischen. Dieser Unsinn ist mittlerweile eine Selbstverständlichkeit. Spielerisch das Englische lernen, lautet die Forderung, die Chance, in der Grundschule endlich das Deutsche gründlicher (!) zu lernen, als dies zunehmend der Fall ist, wird dabei vertan. Wer Englisch im Anfangsunterricht einer weiterführenden Schule erteilt und weiß, welches (Halb-)Wissen die Grundschüler mitbringen, versagt es sich besser, über den Zusammenhang zwischen Zeitaufwand, Kosten und Nutzen nachzudenken.

Kindsein – eine Chance, die eigene Kindheit zu überspringen

Die kurioseste Blüte im pädagogischen Biotop heißt Kinder-Universität. [8] Eigentlich glaubt man sich heute befreit von Zuständen, wie sie aus ganz alten Fotos bekannt sind: Die Kleinen blicken ernst in die Kamera, ärmlich, aber sauber gekleidet, wie kleine Erwachsene. Geld für kindermodegerechten Schnickschnack hatte man damals schließlich nicht. Verhaltenserziehung wurde entsprechend früh und konsequent auf passgenaue Übereinstimmung mit den Verhaltensanforderungen des Erwachsenenlebens ausgerichtet. Das erzählen die Kinderblicke auf diesen Bildern. Wie inhuman! Wie wenig kindgerecht! darf man heute darüber klagen – und eigentlich mit Recht.

Selbstgerechte Überlegenheitsgefühle machen sich jedoch schlecht. Denn wir tun heute, was wir an der Vergangenheit beklagenswert fanden. Die Omnipräsenz des ideologiegedopten Erziehungsbewusstseins so vieler Eltern findet es toll, wenn die Kleinen schon in einem Hörsaal erfahren, dass sie, trotz ihres jungen Alters, „wie die Großen“ ernst genommen werden, ihre Fragen endlich von kompetenten Professoren und nicht von lästigen Schulmeistern behandelt und beantwortet werden. Und die Universitäten lassen es sich natürlich nicht nehmen, öffentlichkeitswirksam dieses Bedürfnis zu stillen und – Geld dafür von Sponsoren, die wiederum die Blicke der Öffentlichkeit auf sich ziehen möchten, locker zu machen. Das ist big business. Ein Blick auf die Internetseite der Kinderuni Dresden macht deutlich, dass es sich hier nicht darum handelt, dass kinderliebe Professoren mal zwischendrin, gewissermaßen zur Entspannung, den Kleinen etwas erzählen möchten. Es geht um Profit verheißende Öffentlichkeitsarbeit unter dem Vorwand kindgerechten Einsatzes der Ressource Wissen.

Und was möchten die Kleinen zwischen acht und zwölf alles wissen? Es sind Fragen, die in der Schule von den schlecht ausgebildeten, nur auf Leistung und Notengebung bedachten Lehrern nicht beantwortet werden können, weil sie inhaltlich überfordert sind. Oder meint etwa jemand, dass ein Physiklehrer die Frage „Warum kann ein Flugzeug fliegen?“ wirklich kindgerecht beantworten kann? Freilich, Fragen wie „Warum braucht der Staat Geld?“ oder „Warum wird nicht jeder Millionär?“ haben in die Lehrpläne der Acht-Jährigen noch nicht ausdrücklich Einlass gefunden. Und für die vorpubertären Studentinnen und Studenten gibt’s natürlich den ganzen Sums, um Studentenbewusstsein zu erzeugen. Einschreibung mit Uni-Stempel, Studentenausweis, Zertifikat für die Teilnahme. Sollte hier ein Kind noch zweifeln, den Audimax als Experte zu verlassen? Und vor allem: Sollten hier Eltern zweifeln, dass sie, wo doch „richtige“ Professoren die Fragen beantworten, nicht das Optimum an Förderung bekommen haben? Ich gestehe es: Am Gymnasium kann ich von einer Klassengröße von 1.000 (eintausend) Schülern, die sich noch dazu diszipliniert verhalten, so dass ich ungestört zu ihnen sprechen kann, nur träumen und die Kinderfrage im Kindervideo der Uni an den Professor wiederholen: „Warum kann man Dinge denken, die es gar nicht gibt?“

Das Buch Riskante Kindheit [9] sieht in der modernen Welt den Verlust des Schonraums für die Kindheit. Vorwürfe werden laut: Kindergärten, Schulen sowie alle anderen sozialen und pädagogischen Institutionen bieten in der Realität nur bedingt Freiräume. „Kindheit“ verschwindet auf breiter Front, indem sich die Lebenswelt von Kindern immer mehr der Lebenswelt von Erwachsenen angleicht. Der Kinderpsychiater Winterhoff identifiziert in dem bereits zitierten Buch Warum Kinder zu Tyrannen werden den Basisfehler der Erziehung: „Das Kind wie einen Erwachsenen behandeln.“ Er fordert die „Anerkennung einer unsichtbaren Grenze zwischen Erwachsenenwelt und Kinderwelt“. Die Optimierung der Lebenszeit Kindheit, basierend auf pseudowissenschaftlichen Erkenntnissen, ausgerichtet an wild wucherndem Expertenwissen, sollte endlich ein Ende haben. Wenn wir nicht wollen, dass Kinder verbogen werden, dann dürfen wir zuallererst nicht selbst wie Tyrannen mit ihnen umgehen, indem wir ihnen, pädagogisch „aufgeklärt“, zu wenig Raum für Unsinn und Zeitvergeudung und „Spaß an der Freude“ lassen. In einem der vielen Zeichentrick-Sketche von Loriot drangsaliert eine wenig empathische Ehefrau ihren Mann, indem sie unentwegt auf ihn einnörgelt, er solle endlich etwas tun. Das schutzlose männliche Opfer beharrt auf seinem Wunsch, den die pädagogischen Malträtierer von Kindern beherzigen sollten. Er wolle, so der Geplagte, statt ständig aktiv sein zu müssen, jetzt einfach dasitzen.

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