01.05.2000

Wer liest was warum?

Georg Simader liest, empfiehlt und rät ab.

Ich bin Literaturagent. Über diese Berufsgruppe ist auf der Homepage der Schriftstellervereinigung das Syndikat (www.das-syndikat.com) zu lesen: “Nur ein hungriger Agent ist ein guter Agent.”
Verantwortlicher dieser Internetseite ist ein Autor aus dem Genre Kriminalroman, ich nenne ihn Krahn. Genau dieser Krahn hatte mir an jenem Februarmittwoch, an dem Teile meiner Geschichte spielen, sein Manuskript geschickt und mich gebeten, hierfür einen Verlag zu suchen. Bevor ich mich daran machte, das Werk zu prüfen, schlug ich das Börsenblatt des Deutschen Buchhandels auf und las ein Interview mit Ulrich Genzler, Programmchef des Heyne Verlages. “Es macht einfach Spaß, wenn Genre-Literatur besser und hoffähig wird”, hatte er in diesem Beitrag verlauten lassen. Ich dachte an Genzler. Ich dachte an damals, als wir uns im Café des Münchner Filmmuseums getroffen hatten und er noch bei Goldmann gewesen war.


Damals: Ich hatte den Autor Robert Hültner im Gepäck, ich hatte Genzler auf die beiden ersten Bücher Hültners aufmerksam gemacht; deren Auflagen hielten sich in Grenzen, doch Hültner hatte sich schon seine Fangemeinde erobert. Genzler hatte Interesse, die Taschenbuchrechte einzukaufen. Für btb, die Nobelreihe des Hauses.
Wir sprachen über den Hültner, über seine ruhige Art des Erzählens, eine Art, die ganz im Gegensatz zu vielen neuen Autoren steht. Bei Hültner erzeugt sich die Spannung nicht aus jenen “plot-points”, Höhepunkten in der Geschichte, die gerade amerikanische Krimiautoren immer dann zu setzen wissen, wenn der Leser in Ermüdung zu drohen gerät. Einen Mord, eine Gewalttat alle dreißig Seiten, die in Atem halten sollen, gibt es bei dem Münchner Autor nicht. Hültners Romane fließen, sie erinnern an Gebirgsbäche im späten Frühling.
Ich argumentierte: “Hatten Sie schon einmal einen Autor, der eine beinahe völlig vergessene Zeit, nämlich die der bayerischen Räterepublik und der 20-er Jahre, in solch spannende Kriminalromane verpacken kann? Hatten Sie einen, der sowohl atmosphärisch dicht schreiben kann und dabei ausgezeichnet recherchiert? Einen, der das Genre Spannungsroman so gut beherrscht und sich mit seiner Sprache im Bereich der Hochliteratur bewegt?”
Genzler nickte, wir waren uns eins. Wir unterhielten uns unaufgeregt; noch ging es um Literatur und nicht um Geld.
Doch ich wusste, dass ich das Tempo verschärfen musste. “Kennen Sie die Rezension von Busche in der Süddeutschen? ‘Ein exzellenter Krimi’, hatte der über seinen ersten Roman Walching geschrieben. Und die Worte von Feldmann, der Hültner in die Nähe von O.M. Graf rückte?”
“Ha”, Genzler schmunzelte, “der Mann hat zwar Potential, aber er hat noch keinen Namen. Doch ich mache Ihnen einen Vorschlag. Obwohl Hültner noch keine Zeile seines dritten Werkes geschrieben hat, kaufe ich jetzt schon die drei Romane für das Taschenbuch bei Goldmann-btb ein. Ich biete Ihnen ...”, Genzler nannte eine Zahl. Ich sah in das Gesicht des Fuchses und ich wusste: Der Mann ist ein sehr guter Verhandler.
Genzler trank, meine ich mich zu erinnern, Tee, ich Espresso. Ich rauchte, Genzler rauchte nicht. Genzler schlürfte bedürftig, ich kippte ein wenig zu schnell. Genzler lag auf der Lauer. Die Stimmen der anderen Gäste des Cafés drangen nur noch verschwommen an mein Ohr. Zwei Männer, in etwa gleich alt, spielten ein Spiel.
“Sie erinnern mich an Kajetan”, sagte ich. Dieser Satz war ein Test für Genzler. Inspektor Kajetan ist die Hauptfigur in Hültners Romanen, ein integerer Mann, mit einem feinen Gespür für die Verlogenheiten seiner Zeit. Einer, der genau hinhört. Einer, der die Gefühlsregungen seines Gegenüber zu deuten weiß. Bisweilen jedoch ist Kajetan etwas tapsig, etwas nachlässig. Er wirkt gedankenverloren.
Genzler lachte. “Kajetan”, sagte er, “Inspektor Kajetan ist ein guter Mann. Aber er hat keine Ahnung vom Geld. Erinnern Sie sich an, wo war es, in Die Sache Koslowski oder in Walching, wo Kajetan beim Schuster beinahe vergisst, sich das Wechselgeld herausgeben zu lassen?”
“Es war in Walching”, sagte ich und ich klopfte Genzler im Gedanken auf die Schulter.
Genzler hatte jede Zeile der Bücher gelesen. Er war einer jener Lektoren, die wussten, worüber sie verhandelten.
Es war spät geworden. “Ich werde nachdenken”, sagte ich.
“Denken Sie ruhig nach”, sagte er.


Wenige Wochen nach dem Gespräch mit Genzler, die Taschenbuchverträge waren gerade unterzeichnet, bekam Hültner für Die Sache Koslowski den Deutschen Krimi-Preis, und Die Godin, Hültners dritter Roman, den Genzler unbesehen einkaufen musste, bekam nicht nur den Deutschen Krimi-Preis, sondern auch den “Glauser”. Die Jury begründete mit den Worten: “Robert Hültner, als einem herausragenden Erzähler, gelingt es, in Die Godin den Lesern mit wenigen Federstrichen das München der 20-er Jahre fühlbar und riechbar zu machen. (...) Ebenso überzeugt der Autor dadurch, dass er leise Töne zum Klingen bringt und dennoch den Horror des Alltäglichen erfahrbar macht.”
Genzler hatte gewonnen. Er hatte gelesen, was er lesen konnte. Und dadurch das richtige Gespür gehabt. Ich kehrte von der Vergangenheit in die Gegenwart zurück und begann, mich dem Manuskript von Krahn zu widmen. Das Telefon klingelte.
“Da ist ein Lektor dran”, sagte mein Kollege, “ihm ist zu Ohren gekommen, dass du den Herrn Krahn vertrittst. Er möchte mit dir sprechen.”
“Sag ihm”, erwiderte ich, “er soll mich morgen anrufen.” Ich nahm das Manuskript von Herrn Krahn, setzte mich in meinen Lesestuhl und ließ mich von nichts und niemandem stören.

Drei Wochen später. Ich war gerade auf dem Weg von einer südwestdeutschen Stadt nach Frankfurt, das Manuskript von Krahn hatte ich an den Lektor verkauft, der mich als Erster angeklingelt hatte. Kurz vor Baden-Baden hatte ich Hunger. Ich verließ den Zug, begab mich in ein Restaurant, bestellte mir ein Nudelgericht mit Pilzen und ein Tiramisu. Zufrieden lachte ich in mich hinein: “Lesen macht satt”, dachte ich mir, zahlte, trottete gemächlich zum Bahnhof zurück, setzte mich in den Zug und schlug die ersten Seiten eines neuen Buches auf.

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