01.04.2001

Wer darf gesund sterben?

Essay von Ulrike Schwemmer

Für die, die es sich leisten können, ist in der Medizin des 21. Jahrhunderts fast nichts unmöglich. Doch wird der Zugang zu modernen Behandlungsmethoden durch die Budgetierung im Gesundheitswesen massiv beschränkt.

In kaum einer wissenschaftlichen Disziplin wurde in den letzten Jahren ein derartig atemberaubender Fortschritt erzielt wie in der modernen Medizin. Forschung und Entwicklung legten eine Rasanz an den Tag, mit der kaum noch jemand Schritt halten kann. Innovationen in Diagnostik und Therapie versprechen schier Unglaubliches und lassen die Vision des alten Menschentraumes vom ewigen Leben in scheinbar greifbare Nähe rücken: Fit und gesund erreichen wir locker die 100 – vorrausgesetzt, der Einzelne kann es sich leisten. Denn Gesundheit und deren Erhalt ist inzwischen ein gut fluktuierendes Geschäft, in dem hohe Profite eingefahren werden.
Möglich ist von medizinischer Seite fast alles: Vitaminpräparate und Hormone stoppen den Alterungsprozess von innen, den äußeren Anzeichen eines natürlichen Altwerdens kann operativ entgegengewirkt werden, Organe werden ersetzt, neue Gelenke implantiert, und mit Hilfe der Gentherapie hofft man künftig auch genetisch bedingte Erkrankungen ebenso wie Krebs oder Aids besiegen zu können. Die Gentechnologie ermöglicht inzwischen die Herstellung modernster Arzneimittel, die als wesentlich sicherer und nebenwirkungsärmer gelten als die bisherigen Präparate. Die Entwicklung auf operativem Gebiet war in den letzten zehn Jahren bahnrechend: Roboter ersetzten teilweise bereits den Operateur, Gehirnoperationen werden per Joystick und Computer von jedem Teil der Welt aus durchgeführt, und die Telemedizin soll durch lückenlose Überwachung des Patienten zu Hause die Kosten für Klinikaufenthalte drastisch senken – eine Entwicklung, die auf viele wie der schlechte Plot in einem Science-Fiction-Film wirkt und so manchen an ein futuristisches Horrorszenario erinnert.


Gesundheit für Privatpatienten
Allerdings hat dieser Fortschritt auch seinen Preis: Am gesündesten stirbt künftig derjenige, der bereit und vor allem in der Lage ist, rechtzeitig und ausreichend in sein gesundes Alter zu investieren. Denn die potenzielle Unsterblichkeit lohnt sich nur für diejenigen, die finanziell dafür Sorge tragen können, nicht als Pflegefälle dahinzusiechen oder als multimorbide Toxikophagen an den Nebenwirkungen ihrer Pillenberge umzukommen.
Obgleich die Visionen und Ziele von Wissenschaft und Forschung für den Patienten durchaus viel versprechend sind, verläuft die aktuelle Entwicklung auf diesem Sektor nachgerade diametral entgegengesetzt: Die gesundheitspolitischen Entscheidungsträger basteln an immer größeren Restriktionskonzepten, um angeblich die Kostenexplosion im Gesundheitswesen zu stoppen – ein Unterfangen, das in der Realität allerdings dazu führt, dass nur noch die wenigsten Patienten von den Innovationen der modernen Medizin profitieren können.
Die gerade zurückgetretene Gesundheitsministerin Andrea Fischer (B’90/Grüne) und ihr Beraterstab waren übereingekommen, dass künftig der Hausarzt fast in alleiniger Herrschaft über das Wohl seiner Patienten entscheiden solle. Dazu sei angemerkt, dass es sich bei dieser Berufsgruppe um die am schlechtesten ausgebildeten Ärzte handelt: Sie dürfen bereits nach vier Jahren ihr Können an den Patienten erproben. Oft fehlt ihnen die Erfahrung und das Wissen über die neuesten Entwicklungen im Bereich Diagnostik und Therapie, und sollten sie zufällig über neue und sichere Arzneimittel informiert sein, so werden sie sich hüten, diese an ihre Patienten weiterzugeben.

“Ein Kassenpatient hat kaum noch eine Chance, vom Fortschritt der modernen Medizin zu profitieren.”

Die Restriktionen und Vorschriften eines nicht zu überschreitenden Budgets verhindert den wirklichen Fortschritt in der Medizin. Zwar ist der behandelnde Arzt laut Gesetz verpflichtet, seine Patienten über alle Möglichkeiten und eventuellen Risiken einer Therapie aufzuklären; dabei finden die modernen Arzneimittel und innovativen Therapiemöglichkeiten allerdings meist keinerlei Erwähnung, da sie noch erheblich teurer sind als die herkömmlichen. Den Ärzten sind die Hände gebunden, und ein Kassenpatient hat kaum noch eine Chance, vom Fortschritt der modernen Medizin zu profitieren, insbesondere dann, wenn er zufällig auch noch unter einer chronischen Erkrankung leidet.

Ein Beispiel: Der normale Hausarzt darf pro Patient und Quartal nur 150 Mark abrechnen, inklusive Beratung, Diagnose, Therapie und der Medikamente. Ein nicht gerade üppiger Budgetrahmen. Wenn der Patient unter einer Erkrankung leidet, deren Diagnose früher einem Todesurteil gleichkam und gegen die es inzwischen wirksame und sichere Arzneimittel gibt, die die Progression der Erkrankung aufhalten und die Lebensqualität des Patienten steigern könnten, so wird sich der Arzt sehr genau überlegen, ob er seinem Patienten ein derartiges Medikament verschreibt. Dies gilt auch für die Überweisung an einen Spezialisten oder eine Fachklinik: Hier werden die Patienten nämlich – bislang noch – nach dem neuesten medizinischen Standard behandelt. Für den behandelnden Hausarzt als eigentlichem Ansprechpartner bedeutet dies aber eine fast nicht zu tragende Belastung seines Budgets. Ein Parkinson-Patient beispielsweise, nach modernsten Standards behandelt und eingestellt, belastet das Budget mit durchschnittlich 3000 Mark pro Quartal. Ähnliches gilt auch für Patienten mit Krebs, psychischen Störungen, Alzheimer oder Schizophrenie. Hat ein normal niedergelassener Arzt mehrere dieser Patienten, so könnte er seine Praxis nach wenigen Wochen schließen, wenn er in allen Fällen die modernsten Medikamente und Therapien verordnen würde, da er zwangsläufig seinen Budgetrahmen sprengen müsste und die Differenz aus der eigenen Tasche zu bezahlen hätte. Wen wundert es da, dass längst Überholtes weiterhin wider besseres Wissen verordnet wird?

“Der Sozialstaat Deutschland ist längst zu einem Land der Zweiklassenmedizin verkommen – Tendenz zur Dreiklassenmedizin steigend.”

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Präferiert werden also Privatpatienten, an denen man sich versucht gesundzustoßen. Denn immerhin lässt sich an einem Privatversicherten elfmal so viel verdienen wie an einem Kassenpatienten. Er kommt in den Genuss modernster Therapeutika, da seine Behandlungskosten außerhalb des normalen Budgetrahmens abgerechnet werden dürfen. Bis vor kurzem bedachten die medizinisch verwöhnten Deutschen die Inselbewohner jenseits des Ärmelkanals mit ihrem heruntergekommenen Gesundheitssystem noch mit einem mitleidigen Lächeln. Dieses kann einem jedoch angesichts der aktuellen Entwicklung hierzulande mittlerweile im Halse stecken bleiben: Der Sozialstaat Deutschland ist längst zu einem Land der Zweiklassenmedizin verkommen – Tendenz zur Dreiklassenmedizin steigend. Wenn diese Entwicklung anhält, und davon muss ausgegangen werden, wird sich der tatsächliche Fortschritt in Wissenschaft und Medizin künftig nur noch hinter geschlossenen Labortüren abspielen.


Wissen unter Quarantäne
Von der Dechiffrierung des genetischen Codes erhoffte man sich ungeahnte Chancen für die Behandlung von Erbkrankheiten wie zum Beispiel der Hämophilie oder des Diabetes Typ I, ebenso wie für die Therapie und Heilung lebensbedrohlicher Erkrankungen wie Krebs oder Aids – um nur einige zu nennen. Jedoch werden den Forschern und Wissenschaftlern so viele Steine in den Weg gelegt, dass offensichtlich nur die Hoffnung auf einen Nobelpreis ihren Forscherdrang am Leben erhält. Bislang dürfen nur so genannte ”austherapierte” Patienten mit bestimmten Medikamenten oder Therapien behandelt werden, und dies nur im Rahmen von zugelassenen Studien, da diese Gruppe ohnehin nichts mehr zu verlieren hat – eine menschenverachtende Haltung, die an Zynismus kaum noch zu überbieten ist.

“Die potenzielle Unsterblichkeit lohnt sich nur für diejenigen, die finanziell dafür Sorge tragen können, nicht als Pflegefälle dahinzusiechen.”

”Otto-Normal”-Patient wird vorerst von den wissenschaftlichen Errungenschaften nicht profitieren. In erster Linie auch deshalb, weil er über viele Möglichkeiten gar nicht informiert ist und die vorgeschriebene Aufklärungspflicht insbesondere über neue Alternativen in Diagnostik und Therapie eher unter den Tisch fällt. Die Medien tun ein Übriges, um die ohnehin schon vorhandene Angst zu schüren, indem fast ausschließlich über potenzielle Gefahren berichtet wird und Heerscharen von geklonten Zombies vor dem geistigen Auge des Lesers ihre Aufwartung machen. Verschreckt findet sich der Patient resigniert mit seinem Schicksal ab: Denn sterben müssen wir ja schließlich alle, warum also nicht ein bisschen früher – die Sparpolitik unserer Regierung macht es möglich.


Letzte Hoffnung: Medizinmann
Diese Abkehr hat fatale Folgen: Immer mehr Menschen wenden sich in ihrer Frustration anderen Anbietern zu und suchen ihr Heil und ihre Heilung in alternativen Heilverfahren in der Hoffnung auf eine ganzheitliche Betrachtungsweise. Der Markt boomt, und das Angebot oft selbsternannter Heilsversprecher ist für den Laien nicht mehr zu durchschauen. In fast jeder Tageszeitung finden sich unzählige Annoncen, deren Seriosität mehr als fragwürdig erscheinen muss: ”In 48 Stunden Meister der Akupunktur”, ”Handauflegen für Anfänger”, ”Was Sie schon immer über Naturmedizin wissen wollten”, ”Homöopathie für jedermann” – alles Wochenendfortbildungsangebote, die den Teilnehmern hohe Gebühren abknöpfen und ein entsprechendes Zertifikat ausstellen, nicht ohne den Absolventen eine glänzende Zukunft zu prophezeien. Der biblische Satz ”Der Glaube versetzt Berge” scheint gerade in diesem Sektor wirksam zu greifen.


Die Mixtur der angebotenen ”Heilmethoden” grenzt an Alchemie: Bachblüten gegen Krebs, homöopathische Mittel gegen alles – dabei sind gerade diese Globuli und Tinkturen so verdünnt, dass die Wirkstoffe chemisch überhaupt nicht mehr nachweisbar sind und daher ihre Wirksamkeit auf schieren Aberglauben zurückgeführt werden muss. Wen wundert es da, wenn diese nonkonformistischen Heilmethoden keinen ihrer zahllosen Kritiker und Gegner zum Umdenken bewegen, da sie – so ein Autor in der Zeitschrift Geo – ”ebenso leicht auseinander zu nehmen seien wie ein Ikearegal.”
Zwar ist die Suche des Einzelnen nach einer ganzheitlichen Medizin angesichts einer zunehmenden Spezialisierung und Dechiffrierung bis ins letzte Gen durchaus nachvollziehbar. Anderseits hat diese berechtigte Sehnsucht aber einen Markt geschaffen, der in vielen Fällen als kriminell bezeichnet werden kann und der einzig mit den Illusionen und der Gutgläubigkeit seiner Klienten kalkuliert und davon reichlich profitiert.
Darüber hinaus werden auch seriöse Vertreter alternativer oder Naturheilverfahren mit in den Abgrund gerissen. Denn es gibt sie, die ernst zu nehmenden Alternativen, diejenigen, die auf seriösem und fundierten medizinischen Wissen basieren und als wirksame Ergänzung eingesetzt werden. So existieren bereits an etlichen medizinischen Fakultäten auch Lehrstühle für Komplementärmedizin, traditionelle chinesische Medizin und Ayurveda. Allerdings werden diese Heilverfahren dort nicht als Ausschließlichkeitsprinzip gelehrt, sondern als wirkungsvolle Ergänzung zur klassischen Schulmedizin.


Überlebenskampf
Der Patient der Zukunft muss einiges leisten, um seine Behandler zu überleben. Vor allem sollte er gut informiert sein, um aktiv über seine Therapie mitentscheiden zu können. Die Medizin aus dem Cyberspace könnte eine ernst zu nehmende Quelle der Recherche darstellen; Gesundheitsportale und Websites für Patienten gibt es ausreichend, täglich kommen neue hinzu. Die Pharmaindustrie hat längst begriffen, dass sie nur dann weiterhin satte Gewinne einfahren kann, wenn sie sich direkt an den eigentlichen Verbraucher wendet und diesen über neue Medikamente und Diagnostika informiert. So erhofft man sich den erforderlichen Druck auf den behandelnden Arzt. Allerdings bietet diese elektronische Bibliothek auch einen fruchtbaren Nährboden für Missbrauch: Hypochonder finden hier ein wahres Eldorado für selbsterstellte Diagnosen und jede Menge Leidensgenossen in Form kollektiver Opfer der Schulmedizin.
Fakt ist: Die Medizin im 21. Jahrhundert bietet ein ungeheures Potenzial, im Positiven wie im Negativen. Sie hat in ungeahnter Form ein ganzes Gesellschaftssystem revolutioniert, Gesundheit ist mittlerweile zur Designerware geworden, sie ist einer unserer wachstumsorientiertesten Wirtschaftsfaktoren. Doch wem nützen Fortschritte und Innovationen, wenn bereits heute darüber nachgedacht wird, wie diese wieder aufzuhalten sind, frei nach dem Motto: Wie werde ich die Geister wieder los, die ich rief? Wer soll die gesunden Alten finanzieren? Wird es irgendwann wieder Euthanasieprogramme geben – zu Lasten der Sozialschwachen?


Die Entwicklung wirft viele Fragen auf, die dringend zufriedenstellender Antworten bedürfen. Und es bedarf einer unabhängigen Instanz als Korrektiv, die in der Lage sein muss, missbräuchlichen Umgang zu verhindern und ethische Kriterien zu entwickeln und zu etablieren. Politiker, Industrie und Ärzte sind damit augenscheinlich überfordert – und zudem zu direkt am Profit beteiligt. Die Gesellschaft wird umdenken müssen, wenn sie nicht einen nie da gewesenen Klassenkampf entfachen will, bei dem es ausschließlich um das Recht auf Gesundheit und ein langes Leben geht.

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