01.09.2000

Wenn Zahlen und Statistiken zu Medizin werden

Essay von Michael Fitzpatrick

Die Anhänger der so genannten evidenzbasierten Medizin machen empirische Daten zur Basis der Behandlung von Patienten. Unter New Labour bahnt sich ein solcher Trend auch in der Politik Groß-Britanniens an. Von Michael Fitzpatrick.

Der Economic and Social Research Council (ESRC) hat es sich, gemeinsam mit dem britischen Kabinett und den Thinktanks von New Labour, zur Aufgabe gemacht, das in der Medizin entwickelte Modell der evidenzbasierten Behandlung auf die Politik anzuwenden. Professor Michael Peckham, vormals Forschungsleiter beim National Health Service (NHS), ist inzwischen wesentlich am ”Evidenzbasierten Politikforschungsprojekt” der britischen Regierung beteiligt. Es überrascht daher nicht, dass er den neuen Ansatz für ”eine möglicherweise grundlegende Revolution” hält. Kritiker der Evidenzbasierten Medizin (EBM) bestreiten jedoch, dass das Modell der Medizin ein solideres wissenschaftliches Fundament gibt. Für sie ist EBM ein Rückschritt in Richtung Empirie. Die Rolle, die EBM dabei gespielt hat, Medizin dem Gesundheitsmanagement unterzuordnen, deutet darauf hin, dass der neue Ansatz wenig wissenschaftlichen und sozialen Fortschritt verspricht und eher als pragmatischer Vorwand dient, um ehrgeizige, teure Projekte stillzulegen.

Besonders kurios ist, dass genau in dem Moment, als die britische Regierung EBM für die Politik entdeckt, der Mann, der vor wenigen Jahren dieses Modell entwickelte – der klinische Epidemiologe David Sackett aus Oxford –, öffentlich bekannt gab, dass er sich von EBM verabschiedet habe (vgl. British Medical Journal [BMJ], 6.5.2000).Sackett hatte Evidenzbasierte Medizin definiert als ”das gewissenhafte, wohl überlegte und transparente Handeln auf Basis der besten gegenwärtig verfügbaren Evidenz, dort wo es darum geht, Entscheidungen über die Behandlung bestimmter Patienten zu treffen” (BMJ, 312: 71-2, 1996). In der medizinischen Praxis bedeutet das, ”kontrollierte zufällige Versuche” durchzuführen, bei denen Patienten zufällig eingeteilt werden – entweder in eine Gruppe, die nach einer Methode, die sich in der Erprobung befindet, behandelt wird, oder in eine Gruppe, die ein Placebo erhält. Der systematische Rückgriff auf solche Versuchsreihen, die möglichst ”doppelt blind” erfolgen sollen – d.h. weder die Ärzte noch die Patienten wissen, wer sich in welcher Gruppe befindet – wurde von dem Epidemiologen Archie Cochrane und anderen seit gut zwei Jahrzehnten propagiert. Schnelle Datenbanken und Suchmaschinen haben dazu geführt, dass in den 90er-Jahren Forschungsdaten schnell aufgearbeitet werden konnten, was wesentlich zum raschen Aufstieg von EBM beitrug.

Fakten, Fakten, Fakten…

Bemerkenswert war, wie schnell EBM (der Ausdruck wurde erstmals 1992 verwendet) Karriere machte; in nur fünf Jahren gelang es ihr, die Welt der Medizin zu erobern. Bereits 1997 gab es das Centre for Evidence-Based Medicine in Oxford, das NHS Centre for Review and Dissemination in York und die Cochrane Collaboration, um die sich eine Reihe weiterer internationaler Zentren gruppierte. Für all dies waren erhebliche öffentliche Mittel geflossen. Kurse in EBM wurden für jede medizinische Disziplin angeboten.

Trisha Greenhalgh zufolge war die Medizin bereits ein Jahrhundert lang positivistischen und empirischen Paradigmen gefolgt. Erst das neuerliche ”Streben nach höherer wissenschaftlicher Strenge” jedoch hat ihrer Meinung nach dazu geführt, dass EBM sich durchsetzte (Greenhalgh / Hurwitz (Hg.): Narrative Based Medicine, 1998). Es stimmt, dass Positivismus und Empirismus in der britischen Philosophie – und besonders in der Philosophie der Wissenschaft – von einigem Einfluss waren. Greenhalghs Hinweis ist jedoch eine Karikatur der Entwicklung wissenschaftlicher Medizin. Es ist deshalb notwendig, hier einen Exkurs über diese philosophischen Richtungen und ihren zweifelhaften geistigen Hintergrund einzuschieben.

Genau genommen hat sich die Wissenschaft, in der Medizin wie in anderen Bereichen, im vergangenen Jahrhundert nicht wegen, sondern trotz des verheerenden Einflusses des Positivismus weiterentwickelt. Der Positivismus – man verbindet die Richtung allgemein mit Auguste Comte – entstand Mitte des 19. Jahrhunderts als Gegenbewegung zur kritischen, subversiven Philosophie der Aufklärung, die zuvor für ein Jahrhundert Wissenschaft, Medizin und auch revolutionäre soziale Bewegungen inspiriert hatte. Comte, im Geiste seiner konservativen Ära, definierte seine Theorie als ”positiv” und ”wissenschaftlich”, um sich von den seiner Meinung nach ”negativen” revolutionären Theorien abzugrenzen. Für den Positivismus war die Welt eine Ansammlung zusammenhangloser Erscheinungen. Ein Kritiker beschrieb den Kern dieser Richtung als eine Sicht der Welt, ”die nur aus Oberfläche besteht” (P. Medawar: The Limits of Science, 1986). Diese empiristische Auffassung sah in der Wissenschaft ein Werkzeug, mit dessen Hilfe der Mensch die Gesetze beschreiben kann, die die Interaktion diverser Phänomene beherrscht.

Die Welt – ein Pudel ohne Kern?

Geht es um Technik, also die Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnis auf die Bedürfnisse der Gesellschaft, stellt der Positivismus kaum ein Problem dar. Wie aber sieht es mit dem Fortschreiten des wissenschaftlichen Verständnisses von Natur aus? Der positivistische Ansatz bestreitet, dass Theorie eine Rolle dabei spielen könne, die empirisch gefundenen Daten zu kritisieren, zu organisieren und zu interpretieren. Schauen wir uns jedoch den wissenschaftlichen Fortschritt des vergangenen Jahrhunderts an, stellen wir fest, dass Theorien wie zum Beispiel die Mikrobentheorie oder solche über Hormone und Immunität eine wesentliche Rolle gespielt haben. Derartige Theorien, Hypothesen, Experimente – und die aus ihnen erwachsenen klinischen Studien – machten es möglich, empirische Daten in sich ständig weiterentwickelnde Theorien einzubinden, wodurch es gelang, die Wirklichkeit immer besser zu beschreiben.

Im frühen 20. Jahrhundert setzte sich ein Verständnis von Medizin jenseits von Empirie durch. Abraham Flexner unterschied in seinem einflussreichen Bericht von 1910 über die Ausbildung von Medizinern in den USA drei Stufen der Entwicklung der Medizin: Aberglaube, Empirie und Wissenschaft. Er wies darauf hin, dass ”es vielleicht nicht schwerfällt, Aberglauben zu erkennen; empirische von wissenschaftlicher Beobachtung zu unterscheiden, ist nicht immer so einfach” (Flexner: Medical Education, 1925).

Während sowohl der Empiriker wie auch der Wissenschaftler viel Wert auf Beobachtung legen, ”lässt sich der wirkliche Unterschied erst beim darauf folgenden Schritt treffen.” Während nämlich der Empiriker ”nicht danach strebt, tief in die Materie einzudringen, ist die Richtigkeit einer Beobachtung dem Wissenschaftler eine Herausforderung: Ihm reicht der Fakt nicht, er fragt nach dem ‘Warum’ und dem ‘Inwieweit’.” Flexner begrüßte die ”zunehmend erfolgreiche Austreibung von Aberglaube, Spekulation und unkritischem Empirismus aus der Medizin und den zunehmend festen Stand von Wissen und Praxis auf dem Boden von Beobachtung, Experiment und Induktion.” Diese Haltung hat im Laufe des vergangenen Jahrhunderts die Medizin – zumindest hinsichtlich der Forschung, wenn auch nicht immer der Praxis – befeuert und vorangetrieben. Doch schon Flexner warnte: ”... von Zeit zu Zeit wird alter Aberglaube wieder aufflammen; der Empirismus – machenteils blind, manchenteils kritisch – wird aus einer Stellung vertrieben, um eine andere einzunehmen.”

Im Laufe des 20. Jahrhunderts verschlechterte sich das geistige Klima für Experimente und Neuerungen. Trish Greenhalgh huldigt Karl Popper, einem der einflussreichsten Wissenschaftsphilosophen der letzten 50 Jahre. Popper ist vor allem berühmt durch seinen Attacke gegen die Induktion, also gegen den Schlüssel wissenschaftlicher Erkenntnis seit Francis Bacon und der Aufklärung. Popper lehnte die Vorstellung ab, dass Wissenschaft sich durch einen Prozess entwickle, bei dem ausgehend von Erfahrung und Beobachtung verallgemeinert werde. In seiner berühmten ”Theorie der Falsifikation” behauptete er, man könne nie beweisen, dass eine wissenschaftliche Theorie wahr sei, sondern es sei umgekehrt nur möglich, Hypothesen aufzustellen, diese der Unrichtigkeit zu überführen und durch eine Reihe von Hypothesen und Falsifizierungen zu verallgemeinerbaren Aussagen über die Welt zu gelangen.

Eine Rose ist eine Blume, ist eine Pflanze

In der 1934 veröffentlichten Schrift Logik der Forschung behauptet Popper, dass die Naturwissenschaft keine ”letzten Wahrheiten” finden könne, da jede Theorie nur eine Annäherung an die Realität darstelle. Er wertete die Bedeutung des sich in der Forschung ansammelnden Wissens ab und stellte die intuitive, subjektive Seite des Forschens heraus. Als ”irrationaler Rationalist”, der die induktive Methode ablehnte, untergrub Popper den ”Anspruch des wissenschaftlichen Denkens, Wissen ständig zu erweitern und den Anspruch der Wissenschaft, eine rationale Tätigkeit zu sein” (W.H. Newton-Smith: The Rationality of Science, 1990).

“Poppers misanthropische und pessimistische Sicht der Wissenschaft war Teil seines Abschieds von der Idee des Fortschritts, wie sie im 19. Jahrhundert vorherrschte.”

Der britische Historiker E.H. Carr charakterisierte Poppers Ansatz so:”... in Professor Poppers Weltsicht gleicht die Vernunft einem Verwaltungsbeamten, der die Politik seiner Regierung implementiert und hin und wieder auch einmal Verbesserungsvorschläge im Hinblick auf die praktische Umsetzung einzelner Maßnahmen machen kann, nie aber deren grundsätzlichen Sinn und Zweck in Frage stellen würde.” (What is History?, 1990, S.155)

Poppers misanthropische und pessimistische Sicht der Wissenschaft war Teil seines Abschieds von der Idee des Fortschritts, wie sie im 19. Jahrhundert vorherrschte. Sie ging einher mit seiner Feindschaft gegen alle Versuche, die Gesellschaft zu formen und zu verändern.
Die Vertreter der Evidenzbasierten Medizin führen Poppers ”irrationalen Rationalismus” fort. Anhänger der EBM definieren ihren Ansatz als ”die auf den spezifischen Patienten konkretisierte Anwendung zuvor mit Gruppen vergleichbarer Patienten gemachter Erfahrungen.” Der Epidemiologe Olli Miettinen wendet hierzu ein:
”Die gegenwärtige Praxis dieser ‘klinischen Epidemiologie’ und dieses EBM-Ansatzes ist die quacksalberische Empirie der Vergangenheit und keine Wissenschaft im Sinne moderner Medizin. Die ‘konkretisierte Anwendung zuvor gemachter Erfahrungen’ ersetzt hier ein Herangehen, das bislang aus unserer Praxis eine Wissenschaft machte.” (Journal of Evaluation in Clinical Practice, 5/2, 107-116, 1999)

In der umfangreichen Literatur über EBM findet man fast nur praktische Unterweisung. Die Vertreter der Richtung versuchen kaum zu erklären, warum etwas getan werden muss (sieht man von pragmatischen Gründen ab), oder warum ihre Disziplin in so kurzer Zeit eine derartige Konjunktur erlebt hat. Hier hilft die Erklärung der Epidemiologin Anna Donald ein wenig weiter:
”Die im Gesundheitswesen westlicher Länder in nur kurzer Zeit erfolgte rasante Entwicklung von EBM als statistischer Methode, mit deren Hilfe in der Medizin Tatsache von Fiktion geschieden werden kann, ist nicht deshalb eine große Hilfe, weil hier eine Art absoluter Wahrheit gefunden worden wäre, sondern weil hierdurch ein diskursiver Raum geschaffen wurde, in dem sich zuvor feindlich gegenüberstehende Thesen von Ursache und Wirkung versöhnen und die gegnerischen Parteien einen Waffenstillstand schließen können.” (Narrative and Medicine, 1998)

“Es entsteht eine Art mathematischer Konsens, der als Leitfaden für die medizinische Praxis genommen wird.”

Anders gesagt hat EBM nicht deshalb Erfolg, weil Mediziner durch diesen Ansatz Krankheiten besser erkennen und behandeln können, sondern weil sich damit bestehende Theorien in statistische Zahlenwerke auflösen lassen. Es entsteht eine Art mathematischer Konsens, der dann als Leitfaden für die medizinische Praxis genommen wird. So sieht es also aus, das Resultat größerer wissenschaftlicher Strenge.

Wissenschaft als Chill-Out-Lounge

Anna Donald verachtet all die, die nach einer ”letzten Wahrheit” suchen und glaubt, dass sich Vertreter aller Fachrichtungen der EBM deshalb angeschlossen haben, weil diese Richtung ”ohne den Glauben an nur eine bestimmte medizinische These auskommt”. Hier zeigt sich, dass Donald nicht bloß empirisch vorgeht, sondern empiristisch: Fakten werden zum Fetisch gemacht, wobei man geflissentlich davon absieht, dass alle Fakten bereits einen theoretischen Rahmen voraussetzten – ohne diesen sind Zahlen nur das eine: Zahlen.

Für die Anhänger von EBM sind die Vertreter der bisherigen Medizin oft nur Hohepriester und Halbgötter in Weiß; sich selbst halten sie für die Bannerträger der Wissenschaftlichkeit. Dabei ähnelt ihr Vorgehen häufig dem einer Glaubensgemeinschaft, die für ihre Sache Tatsachen und Wissenschaft nicht unbedingt braucht. So gab es beispielsweise innerhalb der EBM-Gemeinde Differenzen darüber, ob bloße 10, 15 oder 20 Prozent der gegenwärtigen medizinischen Eingriffe eine wissenschaftliche Basis haben (vgl.: ”Inpatient general medicine is evidence-based”, Lancet, 346: 407-10, 1995). Die daraufhin einsetzende nicht geringe Verstimmung der Nicht-EB-Mediziner versuchte Professors Sacketts Team in Oxford dadurch zu beschwichtigen, dass es die Zahl auf 82 Prozent korrigierte. Zu diesem Ergebnis war das Team gekommen, nachdem es die Behandlung von über 100 Patienten einen Monat lang verfolgt hatte. Allein die Differenz der von den EBMlern gelieferten Zahlen sollte hier misstrauisch machen. Dass von Sacketts Team nur die Erstdiagnose und die Erstbehandlung untersucht wurden, macht die Sache auch nicht eben besser.

In seinen Reflexionen über Popper kommen Greenhalgh Zweifel daran, ob die ”klinische Methode” überhaupt eine Wissenschaft genannt werden kann. Wenn aber die klinische Methode so aussieht, dass sie ohne irgendwelche a priori getroffenen Annahmen über die Formen auskommt, die durch die Untersuchung der Natur gefunden werden können, dann ist sie wissenschaftlich. In ebendiesem Geiste unterschied Francis Bacon zwischen ”experimenta fructiferi” (das ist aus der Erfahrung gewonnenes Wissen) und ”experimenta luciferi” (Erfahrung, die durch das Experimentieren entsteht). Über die letztgenannte Form sagte er: ”Sie haben für sich keinen Zweck und dienen nur dazu, Ursachen und Axiome zu finden.” Das wiederum gab ihm ”die begründete Hoffnung, dass sich das Wissen erweitern werde”. Mängel hat sicher auch die Schulmedizin; sie ist jedoch scharfsinniger, umfangreicher und komplexer in ihrer Betrachtung der menschlichen Gesundheit, als dies der banale statistische Relativismus der EBM je sein kann. Oder in den Worten des Biologieprofessors Lewis Wolpert vom UCL: ”Wissenschaft ist ein komplexer sozialer Prozess”, bei dem ”keine einfältige Beschreibung”, wie es ”Poppers Falsifikation” ist, zu bedeutungsvollen Einsichten gelangen kann (The Unnatural Nature of Science, 1992).

Es besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass von der EBM einige nützliche Beiträge zur medizinischen Praxis ausgingen. EBM hat einigen Ärzten bewusst gemacht, dass es gefährlich ist, sich in der Praxis allzu sehr auf die persönliche Erfahrung, auf Fallbeispiele oder auch die Empfehlungen vieler Experten zu verlassen. Ebenso wurde deutlich, wie wichtig es ist, die immer größeren Datenmengen klinischer Tests zu nutzen. Da das Wissen über die Kausalketten, die zu vielen Krankheiten führen, immer noch recht gering ist – und dies noch mehr, wenn es um individuelle Variationen des Krankheitsverlaufs und um die Erfolge bestimmter Therapieansätze geht –, ist es von großer Bedeutung, auf einen umfangreichen, differenziert aufgearbeiteten Datenpool zurückzugreifen.

Geht man den oben angesprochenen philosophischen Fragen weiter nach, ergeben sich bei EBM aber eine Reihe zusätzlicher Probleme. Kritiker von EBM wie Bruce Charlton, Neville Goodman, Alvan Feinstein und Mark Tonelli haben drei prinzipielle Einwände formuliert:

Eine tiefe Kluft

Anhänger von EBM beklagen immer wieder, dass es zwischen der Forschung und der medizinischen Anwendung eine Kluft gebe. Tonelli weist hierzu darauf hin, dass schon die verwendete Metaphorik das ”grundlegende philosophische Defizit der EBM” belege: ”Die ‘Kluft’ zwischen Daten, die man aus klinischen Versuchen erhält, und der klinischen Medizin kann nie überbrückt werden – es handelt sich um eine der Sache innewohnende, philosophische Kluft” (Academic Medicine, Dezember 1998). Medizinische Forschung, die Populationen untersucht und medizinische Praxis, die sich um bestimmte Patienten kümmert, sind grundverschieden. In Tonellis Worten: ”Die klinische Medizin ist prinzipiell eine praktische und persönliche Angelegenheit, eine, bei der ein Individuum, das geheilt werden muss, in Beziehung tritt zu einem, das Heilung verspricht.”

Allheilmittel ”Zufällige Kontrollversuche”?

Die Kritiker weisen darauf hin, dass EBM nicht nur andere Formen der Forschung, z.B. klinische Studien oder Experimente im Labor ablehnt, sondern sich ganz und gar auf ”Zufällige Kontrollversuche” (randomized controlled trials) verlässt. In vielen Bereichen der medizinischen Praxis sind zufällige Kontrollversuche nicht möglich oder sogar unethisch. Es gibt zudem viele Grauzonen, in denen ”die Belege für das Verhältnis von Risiko und Nutzen zwischen mehreren klinischen Ansätzen unzureichend oder widersprüchlich sind” (vgl.: ”Grey zones of clinical practice: some limits to evidence-based medicine”, Lancet, 345: 840-2, 1995). Feinstein merkt an, dass eine ganze Reihe wichtiger Neuerungen, wie zum Beispiel die erstmalige Verwendung von Insulin oder Penizillin, aufgrund von beobachtenden Studien – und nicht zufälliger Kontrollversuche – erfolgte: ”Keine dieser Studien, käme sie heute neu heraus, würde gemäß den Kriterien Cochranes Anerkennung finden.”

Die Gefahren der Meta-Analyse

Häufig schon wurde darauf hingewiesen, wie gefährlich es sein kann, Ergebnisse unterschiedlicher Versuche zusammenzurechnen, um dadurch ihre statistische Aussagekraft zu erhöhen. Zwar kann eine höhere Zahl von Fällen zu einem präziseren Ergebnis führen. Das bedeutet aber nicht, dass das Ergebnis deshalb mehr Aussagekraft hat. Vielmehr wächst die Gefahr, dass sich Fehler, die von der Heterogenität unterschiedlicher Populationen herrühren, verstärken. Da zudem die Daten, die miteinander verrechnet werden, nicht immer exakt gleich erhoben worden sind, schleichen sich zwangsläufig weitere Fehler ein. Goodmann formulierte die Frage, ob wir, wenn Meta-Analysen derart problematisch sind, uns überhaupt auf sie verlassen sollten (”Anasthesia and evidence-based medicine”, Anaesthesia, 53: 353-368, 1999). In seiner häufig zitierten Studie untersuchte Jacques LeLorier die Ergebnisse einer Reihe von umfangreichen Studien und verglich die Ergebnisse mit denen zuvor durchgeführter Meta-Analysen. In 35 Prozent der Fälle lagen die Meta-Analysen daneben.

“Der Stil und Umgangston der Szene erinnert weniger an Wissenschaft als an eine Mischung aus Politik und Popkultur”.

Viele Anhänger sehen in EBM eine Bewegung. Der Stil und Umgangston der Szene erinnert weniger an Wissenschaft als an eine Mischung aus Politik und Popkultur. Trotz dieser unkonventionellen Anwandlungen wirkt die EBM-Szene auf Außenstehende häufig eingefahren und dogmatisch. Oft schon wurde bemängelt, dass EBMler Kritik gegenüber wenig aufgeschlossen sind und jeder Diskussion aus dem Wege gehen. Stattdessen ziehen sie lieber ihre Gegner oder deren Motive in den Dreck. Feinstein bemerkte, dass hier ”eine neue Form dogmatischen Autoritarismus” im Anzug sei (Feinstein, 1997).

Die Anhänger von EBM scheinen gegen jede Kritik immun und ähneln darin Sektenmitgliedern, die auch das Ausbleiben des vorhergesagten Weltuntergangs nicht aus der Ruhe bringen kann. Was viele Ärzte an EBM anziehend finden, ist wahrscheinlich – und darauf deutet auch Anna Donalds oben zitierte Aussage hin – die emotionale Qualität der Methode. In einer Zeit, in der die Zweifel wachsen, eröffnet EBM einen Weg, jegliche Skepsis in den Wind zu schlagen: Richtlinien für die klinische Behandlung entstehen in Windeseile aus Datenbanken, die vermeintlich alle verfügbaren Informationen kompilieren.

Wissenschaft light

Selbstverständlich spricht EBM nicht nur – und nicht einmal in erster Linie – Ärzte an. Am beliebtesten ist EBM bei Politikern, Funktionären und Krankenhausmanagern. Für sie scheint EBM die ideale Methode, um Ressourcen optimal zu verwalten und die Leistungsfähigkeit medizinischen Personals zu bemessen. Der Gesundheitsfachmann Professor Rudolph Klein und einige seiner Kollegen haben klarsichtig erkannt, dass EBM ein ”neuer Szientismus” ist und den Versuch darstellt, ”einem grundsätzlich irrationalen Prozess oberflächlich ein rationales Gepräge zu geben” (Managing Scarcity, 1996). Oder anders gesagt: Die Einsparungen im Gesundheitswesen sind grundsätzlich unvernünftig; sie werden nicht dadurch vernünftiger, dass ein neues Verwaltungsprogramm nun alles und jedes mit Zahlen belegen kann

“Das erklärte Ziel war, die ”fünf Geiseln” Bedürftigkeit, Krankheit, Unwissenheit, Elend und Untätigkeit abzuschaffen.”

Was ist nun, angesichts dieses Stands der Dinge, von evidenzbasierter Politik zu halten? Es wäre nicht schwer, sie als zynische Strategie der allgegenwärtigen Sparpolitiker abzutun. Aber schauen wir es uns etwas genauer an. Untersucht man die Sozialpolitik früherer britischer Regierungen, stößt man auf ein viel grundlegenderes Problem. Nehmen wir den Beveridge Report von 1942: Dieses Dokument wurde zur Grundlage für den National Health Service und für viele andere Einrichtungen staatlicher Sozialfürsorge nach dem Zweiten Weltkrieg. Der Beveridge Report basierte nicht auf Pilotversuchen oder Studien; er trug die jahrzehntelange Erfahrung staatlicher Sozial- und Arbeitsmarktpolitik zusammen, und er versuchte daraus eine neue, umfassende Sozialpolitik zu entwickeln. Das erklärte Ziel war, die ”fünf Geiseln” Bedürftigkeit, Krankheit, Unwissenheit, Elend und Untätigkeit abzuschaffen. Der Bericht versuchte erst gar nicht, herauszufinden, was geht und was nicht; er formulierte eine Vision und Maßnahmen, die es zu ergreifen gelte, um diese Vision wirklich werden zu lassen. Beim Beveridge Report, wie auch bei anderen Reformprojekten, lässt sich sicher über die Vor- und Nachteile der jeweiligen Politik streiten. Unbestreitbar ist, dass sie die Zuversicht ihrer Zeit ausdrücken, die Zuversicht, Probleme erkennen und lösen zu können – die Zuversicht, die Gesellschaft umgestalten zu können.

Veränderung ist kein Sachzwang

Bei New Labour hingegen fällt auf, dass hier jedes Zutrauen in die eigene Kraft und die Möglichkeiten der Gesellschaft fehlt. Statt ernsthafte soziale Reformen anzugehen, formuliert New Labour vage Pamphlete mit noch vageren Zielen, beispielsweise der Abschaffung der Armut von Kindern (was in absoluten Zahlen schon erreicht ist, in relativen Zahlen allerdings unerreichbar sein dürfte). Ähnlich verhält es sich mit dem Kampf gegen Kriminalität oder Drogenmissbrauch – beides sind rhetorische, moralische Kampagnen, die genannten Zahlen sind völlig wertlos. Reduziert man Politik auf das, ”was geht” – das heißt, es wird das getan, was messbar ist anstatt das, was wichtig ist –, wird Politik bedeutungsloser Pragmatismus. Während bei EBM verunsicherte Mediziner Tröstung in Zahlen suchen, versucht die britische Regierung mit evidenzbasierter Politik ihr Nichtstun hinter einem Wust von Zahlen zu verstecken.

Als Archie Cochrane fünf Jahre nach dem Erscheinen über sein Buch Effectiveness and Efficiency nachsann, gestand er ein, dass ”er sehr zurückhaltend sei, wenn es um eine rationale Diskussion der Qualität” von Krankenpflege gehe. Er berichtete von einem Erlebnis aus dem Zweiten Weltkrieg, als er Arzt in einem Gefangenenlager war. Er hatte mit einem jungen sowjetischen Soldaten zu tun, der unter großen Schmerzen starb: ”Er machte furchtbare Geräusche. Ich hatte keine Medikamente, geschweige denn eine Station. Niemand sprach russisch. In meiner Verzweiflung und ganz instinktiv setzte ich mich auf sein Bett und nahm ihn in den Arm. Die Wirkung war nahezu magisch; er wurde sofort ruhig und starb ganz friedlich einige Stunden später.” Cochrane schloss: ”Wir alle erkennen gute Arbeit, wenn wir sie sehen – und mehr noch, wenn sie uns persönlich betrifft.” Sehr schwierig sei es hingegen, hohe oder niedrige Qualität zu messen (oder auch sie zu lehren). Es ist zu bedauern, dass es der Bewegung, die von Cochrane wesentlich inspiriert wurde, sowohl an seinem Feingefühl für die wahren Probleme der medizinischen Praxis mangelt als auch an seiner Zurückhaltung, was die Möglichkeiten quantitativer Methoden betrifft.

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