01.11.1999

Wenn selbst die Bibel auf den Index kommt…

Analyse von Yvonne Caldenberg

Das neue nette Wort für Zensur lautet Selbstregulierung. Provider wollen künftig aussortieren was Internet-Surfer nicht sehen sollen.Mein Modem gehört mir!

Zensur im Internet? Die Frage lässt einen an Meldungen denken wie die, dass die chinesische Regierung Websites oppositioneller Gruppen blockiert oder dass die Regierung von Saudi-Arabien allerlei leicht bekleidete Inhalte unter Strafe stellt. Das geschieht zweifellos. Es ist jedoch, geht es um Rede- und Informationsfreiheit im Internet, ein vergleichsweise peripheres Problem.
Wie auch der Großteil der Computer- und Internetindustrie kommt die überwiegende Zahl der Internet Service Provider (ISP), der Internetseiten und der Nutzer aus den großen Industriestaaten. In diesen Staaten ist auch die Freiheit des Internets am stärksten gefährdet. Zwar sind Gesetze, die die Inhalte und die Nutzung des Internets radikal einschränken, bisher erst in Australien Realität – ähnliche Verbote werden jedoch derzeit in Nordamerika und innerhalb der EU energisch vorangetrieben.
Anfang September fand in München auf Einladung der Bertelsmann Stiftung und von INCORE (Internet Content Rating for Europe) der internationale “Internet Content Summit” statt. Auf dieser Konferenz diskutierten Politiker, Juristen, Polizisten, Vertreter der Internetindustrie und Mitglieder von NROs ein zuvor von Experten erstelltes Papier mit dem Titel Verantwortung im Internet.

“Das Vokabular kommt sehr basisdemokratisch daher; sympathischer als die staatliche Drohung mit dem Sondereinsatzkommando scheint es alle Mal”

Worum geht es? Angesichts des – ähnlich wie in Australien – drohenden Eingriff des Staates in das Internet wurde der Versuch gemacht, ein alternatives Konzept der “Selbstkontrolle der Inhalte” bzw. der “Selbstregulierung der Industrie” vorzustellen. Das Vokabular kommt sehr basisdemokratisch daher; sympathischer als die staatliche Drohung mit dem Sondereinsatzkommando scheint es alle Mal.
Allerdings fragte sich nicht nur Esther Dyson, Chefin der amerikanischen EDventure Holdings, Web-Publizistin und Vorsitzende von ICANN (der Organisation, die die Domainnamen im Internet vergibt), was denn das “Selbst” in “Selbstregulierung” meine.

In dem Papier Verantwortung im Internet werden u.a. folgende Vorschläge gemacht:

  • Der Missbrauch des Internets muss abgestellt werden. Die Industrie muss sich hier zu ihrer gesellschaftlichen Verantwortung bekennen
  • Verhaltensregeln müssen von selbstregulierten Institutionen erstellt werden. Diese Institutionen sollen die Internetwirtschaft repräsentativ abbilden und für alle relevanten Parteien offen sein.
  • Mechanismen zur Selbstregulierung brauchen staatliche Unterstützung. Staatliche Stellen müssen die von selbstregulierten Institutionen aufgestellten Regeln ratifizieren.
  • Den Nutzern sollen Filterprogramme angeboten werden. Die Anbieter von Inhalten sollen die Art der Inhalte kennzeichnen.
  • Unabhängige “Hotlines” sollen Beschwerden gegen Inhalte bestimmter Seiten entgegennehmen, überprüfen und gegebenenfalls an Provider oder Strafverfolgungsbehörden weiterleiten.
  • Internet-Provider sollen nicht für illegale Inhalte verantwortlich gemacht werden.
  • Strafverfolgung und Internetindustrie sollen gemeinsame Strukturen für einen regelmäßigen Erfahrungsaustausch entwickeln.
  • Die Internetindustrie, Schulen und andere Institutionen sollen über die Möglichkeiten und Gefahren des Internets aufklären.

Diese Vorschläge klingen liberal. Aktivitäten, die sowieso in den meisten Staaten illegal sind, sollen auch im Internet unterbunden werden. Darüber hinaus sollen den Nutzern Programme angeboten werden, die bedenkliche Inhalte herausfiltern. Man könnte denken, dass dies v.a. dazu diene, Eltern die Kontrolle darüber zu geben, was ihre Kinder sehen können und was nicht. Ganz so harmlos ist es aber nicht.

“In praktischen Tests wurden regelmäßig zahllose künstlerische Websites, Websites, die gesundheitliche Aufklärung bieten, Literatur, die Bibel und viele Diskussionsforen gesperrt, weil dort inkriminierte Ausdrücke gefunden wurden”

Eine Reihe von Organisationen, viele davon sind in der Global Internet Liberty Campaign zusammengeschlossen, haben auf die Konsequenzen dieser Maßnahmen hingewiesen. Programme zum Beispiel, deren Inhalte, als “pornografisch”, “gewalttätig”, “obszön” oder “hasserfüllt” klassifiziert werden, sind, ist der Filter einmal installiert, nicht mehr zu erreichen. Wie aber kommen solche Klassifikationen zustande? Tests haben gezeigt, dass Filter sehr leicht alle Arten von Angeboten ausschließen, weil sie auf den bewussten Seiten bestimmt Reizwörter aufgespürt haben. In praktischen Tests wurden regelmäßig zahllose künstlerische Websites, Websites, die gesundheitliche Aufklärung bieten, Literatur, die Bibel und viele Diskussionsforen gesperrt, weil dort inkriminierte Ausdrücke gefunden wurden. Die Nutzer selbst haben letztlich kaum die Möglichkeit, die abstrakten Kriterien, nach denen Filter operieren, zu durchschauen. Es deutet sich zudem an, dass die beiden marktbeherrschenden Browser, Internet Explorer und Netscape, Filtersysteme einführen werden, die sich vielleicht schon bald nicht mehr ohne weiteres deaktivieren lassen. Ähnliches gilt für die großen Suchmaschinen.
In der Empfehlung Verantwortung im Internet wird zwar betont, dass eine abstrakte Filterung nicht erfolgen solle. Die vorgeschlagene Ergänzung zu einer solchen Filterung ist jedoch wenig überzeugend. Sie besteht in einer (freiwilligen) Kategorisierung der Seiten durch die Autoren oder Provider. Eine derartige “Verschlagwortung” wirft zwei Probleme auf. Zum einen ist sie gerade bei umfangreichen Sites mit einem solchen Aufwand verbunden, dass nur die sehr großen Anbieter dies werden leisten können. Schlimmer aber ist, dass eine solche “freiwillige” Klassifizierung vermutlich sehr bald Pflicht würde. Konkret kann man es sich so vorstellen: Filter reagieren auf die freiwillige Klassifizierung und zeigen z.B. keine Seiten mehr an, die als “Porno” oder als “brutal” klassifiziert sind. Anbieter, die dies umgehen wollen, klassifizieren ihre Seiten deshalb als “Familienunterhaltung”. Dies würde mit großer Sicherheit schnell dazu führen, dass einerseits die “falsche” Klassifizierung unter Strafe gestellt würde (wobei sehr fraglich ist, wer bestimmt, was “falsch” ist), andererseits aber Seiten ohne Klassifizierung von den Filtern prinzipiell ausgeschlossen werden würden.
Verfechter der Klassifizierung sagen, diese sei mit der Auszeichnung von Lebensmitteln vergleichbar. Der Vergleich hinkt. Im Supermarkt hat man die Produkte vor sich im Regal. Man kann sie in die Hand nehmen,  die Liste der Zutaten durchlesen und sich dann entscheiden. Im Internet hingegen würde eine Klassifizierung dazu führen, dass man eine nicht geringe Zahl von Angeboten überhaupt nicht mehr zu Gesicht bekäme, also auch gar nicht überprüfen könnte, warum man sie nicht sieht, weil man von ihrer Existenz nie erfahren würde.

Die vorgeblich liberale “Selbstregulierung” ist eine Mogelpackung. Die Internetindustrie hat nicht aus Sorge um den Verfall der Sitten die Initiative ergriffen. Wie jeder andere Industriezweig kümmert sie sich vor allem um eines: ihre Bilanzen. Die Initiative der Industrie zur Selbstregulierung ist auf staatlichen Druck hin entstanden und hat das Ziel, eventuellen staatlichen Eingriffen zuvor zu kommen. Aufgeschreckt wurde die Internetindustrie durch Prozesse, die Provider – also die Überträger von Inhalten – juristisch für diese Inhalte zur Verantwortung ziehen wollen. Schon das ist eine rechtlich zweifelhafte Angelegenheit, bedeutet es doch, dass auch die Telekom für Telefongespräche mit strafbarem Inhalt verantwortlich wäre oder die Post für eine von ihr zugestellte Briefbombe.

Die Initiative zur “Selbstregulierung” kommt eindeutig aus der Politik. Nicht zufällig wird die europäische Initiative, Techniken zur “Selbstregulierung” zu entwickeln, von der EU mit ca. 30 Millionen Mark finanziell unterstützt. Dass die Bertelsmann Stiftung in diesem Prozess wiederum federführend ist, überrascht wenig, ist sie doch eng mit dem Bertelsmann Konzern verbandelt, der europa- und weltweit einer der wichtigsten Akteure im Online-Business ist.

All das zeigt, dass die so besorgt wie graswurzelig daherkommende “Selbstregulierung” eine Regulierung von oben ist. Tatsächlich ist sie sogar noch schlimmer, als es eine rein staatliche, gesetzliche Regulierung wäre. Gesetze nämlich und entsprechende staatliche Kontrollorgane bräuchten wenigstens ein gewisses Maß an demokratischer Legitimation. Eingriffe müssten durch die Parlamente stattfinden; sie müssten auch einer gerichtlichen Prüfung standhalten. Da in vielen westlichen Staaten die Meinungs- und Redefreiheit als hohes Gut gilt, wäre dies nicht einfach.
Im Vergleich dazu hat eine “Selbstregulierung” durch die Industrie und durch ungewählte Gremien (Hotlines etc.) für die Politik den Vorteil, dass solche Legitimationen entfallen. Der 1997 gegründete deutsche Verein “Freiwillige Selbstkontrolle Multimedia Dienstanbieter e.V.” ist ein solches Gremium, in dem große Firmen für uns “selbst” entscheiden, was wir online sehen sollten und was nicht. Wenn der Staat nicht verbietet, sondern die potentiellen Anbieter etwas einfach nicht anbieten,  kann auch niemand dagegen Einspruch erheben.

Wirkliche Selbstregulierung kommt ohne solche Mechanismen aus. Das Internet als neues, freies, globales und günstiges Medium bietet großartige Möglichkeiten. Dass neben den interessanten Angeboten auch viel Müll zu finden ist, weiß jeder, der schon einmal mehr als flüchtig einen Browser bedient hat. Die Masse des Angebots muss durchaus gefiltert werden. Als Filter jedoch reicht der eigene Kopf. Jeder Mensch ist in der Lage, für sich selbst zu entscheiden, was er oder was sie sehen möchte. Punkt. Weitere Vorrichtungen sind nicht nötig.

“Wenn der Staat nicht verbietet, sondern die potentiellen Anbieter etwas einfach nicht anbieten, kann auch niemand dagegen Einspruch erheben”

Stellt sich die (häufig gestellte) Frage: Was aber ist mit den Kindern? Für Kinder müssen letztlich die Erziehungsberechtigten zumindest mit die Entscheidung treffen. Sie können das tun, indem sie mit ihren Kindern reden, mit ihnen im Internet spielen oder arbeiten. Sie könne es auch tun, indem sie bestimmte Filter installieren, die ihren Kindern den Zugang zu bestimmten Angeboten verwehren. Das ist kein Problem. Die Frage “Was aber ist mit den Kindern?” rechtfertigt jedoch nicht die geplanten Eingriffe. Diese Eingriffe, die häufig besorgt auf “die Kinder” verweisen, machen uns alle zu Kindern. Sie machen die Eingreifenden zu Erziehungsberechtigten, die uns vorschreiben, was wir sehen dürfen und was nicht.

Bleibt die Frage, warum – da das Internet eines der wenigen Phänomene ist, die heute noch für Begeisterung sorgen – die jetzt absehbare radikale Zensur dieses neuen Mediums von der Öffentlichkeit so passiv hingenommen wird. Wesentlich liegt es daran, dass heute den meisten Menschen ihr Alltag als Bündel chaotischer Risikofaktoren erscheint. Tatsächlich hat der Zerfall alter Bindungen an den Arbeitsplatz, an das Viertel, an den Verein, die Partei, die Kirche oder Gewerkschaft dazu geführt, dass viele Menschen heute das Naheliegendste (ihre Nachbarn oder Kollegen) als fremd empfinden, während andererseits das nur medial Erfahrene, das sehr fern Liegende (Kinderpornografie, Gemetzel und Wahnsinn) in der Verunsicherung und Vereinzelung sehr nahe zu sein scheint. Weiß man selbst nicht mehr so genau, was einem warum widerfährt, fragt man sich schon auch einmal, welche Abgründe eigentlich sich gerade hinter den vertrautesten Menschen verbergen. Eine solche Verunsicherung gilt es aber zu unterscheiden von tatsächlicher Unmündigkeit.

Die Empfehlung Verantwortung im Internet bringt es auf den Punkt, wenn sie vom “Schutz vor schädlichen Auswirkungen des Medienkonsums” spricht, gerade so, als handele es sich beim Konsum um das dumpfe, unabänderliche Dasein einer Herde von Kühen, die ihr Gras konsumiert und wiederkäut – tagein, tagaus. Verhielte es sich so, wären die meisten Menschen tatsächlich unmündig, und die Empfehlung, alles lieber von Experten regeln zu lassen, würde Sinn machen. Otto Schily griff diese Haltung beim “Internet Content Summit” auf, als er in seiner Rede im Hinblick auf die Filtersysteme sagte:

“Gerade bei den sozial benachteiligten Familien ist damit zu rechnen, dass die Eltern mit den entsprechenden Maßnahmen kaum verantwortungsbewusst umzugehen wissen. Familien, in deren Umfeld die Durchsetzung von Interessen und die Lösung von Konflikten durch Gewalt an der Tagesordnung ist, sind in besonderer Weise gefährdet. Gerade die Eltern solcher Jugendlichen verfügen meistens nicht über die nötige Sensibilität gegenüber Gewaltdarstellungen, so dass nicht zu erwarten ist, dass in solchen Familien entsprechende Programme gesperrt werden.”

Hier finden wir die landläufige Fantasie vom “Anderen” wieder, eine Fantasie, von der wir uns befreien müssen, um selbst frei zu sein. Viel zu oft wird heute der nächste “Andere” v.a. als potentieller Kinderschänder, Vergewaltiger, Brutalo, Rassist etc. verdächtigt. Dieses Denken in allgegenwärtigen Gefahren und Bedrohungen schlägt letztlich immer auf uns selbst zurück. Solche Fantasien, die (außer in unseren Ängsten) fast nie eine Basis in der Wirklichkeit haben, machen uns gefügig. Sie entmündigen uns. Sie liefern uns den Experten aus, die – mögen wir denken – zumindest zum Besten unseres fremden Nächsten auch uns selbst regulieren.
Tatsächlich ist alles viel banaler und einfacher. So wie Sie, so wie ich, wissen so ziemlich alle recht genau, was sie wollen, was sie mögen, was sie eklig finden. Als Orientierung fürs Internet reicht das völlig. Wenn man bestimmte Sachen nicht mag, wird man kaum danach suchen; stößt man trotzdem unverhofft darauf, löst ein Mausklick die Sache höchst einfach. Fast wie von selbst.

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