12.08.2013

Welthunger: Märkte nutzen, um Hunger zu bekämpfen!

Von Ingo Pies

Marktfeindliche Interventionen helfen nicht gegen den Hunger in der Welt. Die Politik muss die Solidaritätsfunktionen des Marktes nutzen, um das eigeninteressierte Verhalten der Marktakteure in den Dienst des Gemeinwohls zu stellen, meint der Wirtschaftsethiker Ingo Pies

Wenn Kleinkinder Hunger leiden, können irreversible Schäden entstehen. Aber auch bei Erwachsenen ist Hunger weitaus mehr als ein bloß juristisch bedenklicher Verstoß gegen das international kodifizierte Recht auf Nahrung. Hunger verletzt die Würde des Menschen! Deshalb ist Solidarität gefordert. Nicht nur Solidarität mit Nachbarn, was relativ leicht zu organisieren wäre. Sondern Solidarität mit Fremden, mit Menschen, die man nicht kennt und wahrscheinlich nie zu Gesicht bekommen wird. Wie kann das gehen?

Konkret stehen wir vor der Herausforderung, bis zum Jahr 2050 für insgesamt rund 9 Milliarden Menschen Nahrungssicherheit zu organisieren. Diese Herausforderung wird sich nur dann bewältigen lassen, wenn es im globalen Maßstab gelingt, Märkte als Instrument institutionalisierter Solidarität in Dienst zu nehmen. Hierbei können drei Erkenntnisse helfen. [1]

Hungerbekämpfung setzt Armutsbekämpfung voraus

Die erste Erkenntnis besteht darin, dass sich die globale Ernährungssituation nur dann langfristig und dauerhaft verbessern lässt, wenn man Maßnahmen ergreift, die nicht im engeren Sinne landwirtschaftspolitisch, sondern im weiteren Sinne entwicklungspolitisch ausgerichtet sind: Hungerbekämpfung setzt Armutsbekämpfung voraus. Die kann nur gelingen, wenn sie den sektoralen Strukturwandel von der Landwirtschaft zu Industrie und Dienstleistungen sowie die damit einhergehenden Wanderungen vom Land in die Stadt nicht behindert, sondern befördert.

Was heißt das konkret? – Große Teile der nationalen wie internationalen Diskussion kreisen immer wieder um die Frage, mit welchen Hilfsmaßnahmen sich die Lebenslage der Subsistenzlandwirte in Entwicklungsländern verbessern lässt. Diese Frage ist zweifellos gut gemeint, im Kontext nachhaltiger Entwicklung betrachtet aber falsch gestellt. Richtigerweise wäre zu fragen: Durch welche ordnungspolitischen Weichenstellungen lässt sich die Arbeitsproduktivität und damit das Einkommen – und in der Folge der Lebensstandard inklusive Nahrungssicherheit – von Menschen erhöhen, die derzeit unter Armut, sogar extremer Armut und deshalb auch unter Hunger leiden?

„Regionale und sektorale Mobilitätsbarrieren müssen abgebaut werden, so dass sich die Arbeitsproduktivität derzeit armer Menschen auf breiter Front erhöht.“

Um es deutlich zu formulieren: Zweifellos verdienen Kleinbauern Hilfe und Solidarität. Aber nicht deshalb, weil sie Kleinbauern sind. Auch nicht deshalb, weil sie Dorfbewohner sind oder weil sie Subsistenzwirtschaft betreiben. Sie verdienen Hilfe und Solidarität, weil ihre Menschenwürde und ihr Menschenrecht durch Hunger und Armut verletzt werden. Folglich muss man ihnen als Menschen helfen, also unabhängig davon, wo sie wohnen und womit sie ihren Lebensunterhalt bestreiten. Das gelingt am besten, wenn man die politischen Hindernisse aus dem Weg räumt, die sie daran hindern, sich selbst aus ihrer Armut und den prekären Lebensbedingungen mangelnder Nahrungssicherheit herauszuarbeiten – sei es als Dorfbewohner oder als Stadtbewohner, sei es im landwirtschaftlichen Sektor oder im Industrie- und Dienstleistungsbereich. Wenn man die globale Nahrungssicherheit durch eine nachhaltige Entwicklung fördern will, die sowohl Umweltverträglichkeit als auch Sozialverträglichkeit umfasst, dann benötigt man eine gelingende „Wachstums-Governance des Stadt-Land-Nexus“. Mit dieser Formel ist gemeint, dass regionale und sektorale Mobilitätsbarrieren abgebaut werden, so dass sich die Arbeitsproduktivität derzeit armer Menschen auf breiter Front erhöht. Die hierfür nötigen Wanderungen dürfen nicht be- oder gar verhindert, sie müssen stattdessen gefördert und wirksam befördert werden.

Wir müssen lernen, die richtigen Fragen zu stellen

Die zweite Erkenntnis lautet: Gemessen am langfristigen Ziel einer die globale Chancengerechtigkeit erhöhenden Ernährungssicherung müssen nicht alle, aber doch erschreckend viele der kurzfristig ausgelösten Reaktionen auf die Hungerkrisen der vergangenen Jahre als wenig zielführend und sogar als kontraproduktiv eingestuft werden. Ganz offenbar wurde gleich mehrfach versäumt, die richtigen Fragen zu stellen.

(a) Namhafte Organisationen der Entwicklungszusammenarbeit haben über einen langen Zeitraum hinweg nicht realwirtschaftliche, sondern vermeintlich finanzwirtschaftliche Ursachen der Hungerkrisen ins Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit gerückt. Trotz wissenschaftlichen Widerspruchs [2] wurde die Kritik an den Terminmarktgeschäften von Indexfonds scheinbar unbeirrt fortgesetzt. Dies vermittelte den falschen Eindruck, als ließe sich der Hunger in der Welt wirksam dadurch bekämpfen, dass man Zugangsbarrieren für Finanzmärkte errichtet oder bestimmten Akteuren wie Indexfonds gleich ganz verbietet, auf den Terminmärkten für Agrarrohstoffe tätig zu werden.

Diese irreführende Gemeinschaftskampagne war zugleich kontraproduktiv: Hätte man das moralische Engagement mit der gleichen Verve darauf gerichtet, die übereilte und überzogene Bioenergieförderung zurückzufahren, um die Agrarproduktion verstärkt auf den Ernährungssektor auszurichten, wäre für die Hungernden dieser Welt mehr zu erreichen gewesen.

(b) In der öffentlichen Diskussion werden immer wieder Ziele und Mittel verwechselt. Besonders deutlich lässt sich dies beobachten, wenn es um den Preis für Agrarrohstoffe geht. Vielfach wird angenommen, es gebe einen gerechten Preis, dessen Überschreiten oder Unterschreiten politisch verhindert werden muss. Hierbei wird regelmäßig übersehen, dass die freie Preisbildung eine wichtige Informations- und Sanktionsfunktion hat. Der Preis ist stets Mittel, nicht Zweck: Preisänderungen signalisieren veränderte Knappheitsverhältnisse und setzen zugleich einen Anreiz, durch Veränderungen des eigenen Verhaltens der veränderten Knappheit Rechnung zu tragen.

(c) So wie die öffentliche Debatte in Deutschland (und weit darüber hinaus) geführt wird, kann man einige elementare Einsichten gar nicht oft genug und stark genug betonen. Sie lauten: Die strukturelle Ursache für Hunger ist Armut. Die strukturelle Ursache für Armut ist eine niedrige Arbeitsproduktivität. Die strukturelle Ursache für eine niedrige Arbeitsproduktivität sind Marktzugangsbarrieren. Hierzu zählt der Protektionismus, mit dem die USA und die Europäische Union ihre Märkte – nicht nur ihre Agrarmärkte, sondern auch die Märkte für Industriegüter und für Dienstleistungen – gegen Wettbewerber aus Entwicklungsländern abschotten. Hierzu zählen aber auch die zahlreichen Hindernisse, die in den Entwicklungsländern selbst be- oder gar verhindern, dass Menschen, die unter Armut leiden, sich mit Sachkapital und Humankapital ausstatten können und dass sie über Optionen verfügen, an der marktwirtschaftlich arbeitsteilig organisierten Wertschöpfung teilzunehmen. Gerade Subsistenzbauern können ihre niedrige Arbeitsproduktivität – und folglich ihren niedrigen Lebensstandard sowie ihre prekäre Nahrungssituation – nur dadurch verbessern, dass sie beginnen, sich in eine arbeitsteilige Spezialisierung einzugliedern und mit Akteuren zusammenzuarbeiten, die ihnen Kapital und Know-how zugänglich machen.

„Oft werden Märkte politisch daran gehindert, ordentlich zu funktionieren. Das betrifft vor allem zahlreiche Entwicklungsländer, in denen der landwirtschaftliche Sektor unter marktfeindlichen Interventionen leidet.“

Zwischenfazit: Hunger ist das Signum ungelöster Governance-Probleme. In vielen Fällen werden Märkte politisch daran gehindert, ordentlich zu funktionieren. Hier liegt Staatsversagen vor. Das betrifft vor allem die Innenpolitik zahlreicher Entwicklungsländer, in denen der landwirtschaftliche Sektor unter marktfeindlichen Interventionen leidet. Gerade hier sind ordnungspolitische Weichenstellungen der Schlüssel zum Erfolg, wenn es darum geht, eine nachhaltige Entwicklung zu fördern, die Hunger und Armut wirksam bekämpft.

Die Solidaritätsfunktionen des Marktes nutzen

Die dritte Erkenntnis ist spezifisch wirtschaftsethischer Natur. Sie lautet: Die moralische Qualität der Marktwirtschaft erschließt sich nicht, wenn man rein oberflächlich auf die Intentionen der Marktakteure schaut. Sie erschließt sich nur dann, wenn man die Institutionen des Marktes ins Blickfeld rückt: die Rahmenbedingungen, den Ordnungsrahmen und insbesondere die von diesem (politisch gestaltbaren!) Ordnungsrahmen ausgehenden Anreizwirkungen.

Was heißt das konkret? – Märkte koordinieren die nicht-intendierten Folgen intentionalen Handelns. Eine solche Koordination kann misslingen oder gelingen. Im ersten Fall kommt es zu gesellschaftlichen Abwärtsspiralen. Beispiele hierfür sind Umweltverschmutzung, Arbeitslosigkeit, Korruption, aber auch Hunger und Armut. Im zweiten Fall kommt es zu gesellschaftlichen Aufwärtsspiralen. Sie sind abzulesen an der verbesserten Versorgung mit materiellen und immateriellen Gütern, d.h. an all jenen Zivilisationsleistungen, die in den letzten 150 Jahren dazu geführt haben – und auch in absehbarer Zukunft dazu führen werden –, dass immer mehr Menschen nicht nur sehr viel länger, sondern auch sehr viel besser leben (können), als dies ihren Vorfahren vergönnt war.

Ob die marktliche Verhaltenskoordination gelingt oder misslingt, hängt vom Ordnungsrahmen ab. Er bestimmt, welche Aspekte dem Wettbewerb ausgesetzt sind – und welche nicht. Durch die Festlegung von Eigentumsrechten und Haftungsregeln beispielsweise – also nicht durch die Intentionen der Marktakteure, sondern durch die für sie geltenden Institutionen – wird maßgeblich bestimmt, ob sich das Konkurrenzprinzip der Marktwirtschaft als ruinöser Wettbewerb oder als Leistungswettbewerb entfaltet, ob es in eine Abwärtsspirale („race to the bottom“) oder in eine Aufwärtsspirale („race to the top“) mündet.

Gerade weil es darauf ankommt, politisch die Weichen so zu stellen, dass das eigeninteressierte Verhalten der Marktakteure für die Förderung des Gemeinwohls instrumentell in Dienst genommen wird, ist es so wichtig, dass diese ordnungspolitische Gestaltungsaufgabe im Bewusstsein der demokratischen Öffentlichkeit präsent ist. Oft ist sie es nicht. Dadurch werden Chancen vertan, besonders bei der Förderung globaler Ernährungssicherheit.

Einerseits hat bereits Adam Smith in einer heute noch lesenswerten Analyse darauf hingewiesen, dass der Agrarhandel einen wichtigen Beitrag dazu leisten kann, dass lokale Missernten nicht in Hungersnöte ausarten zu lassen. [3] Andererseits gehört es bis heute nicht zum Bildungskanon, dass Kassamärkte, die dem Austausch von Agrargütern dienen, eine Form institutionalisierter Solidarität sind, indem sie helfen, die katastrophalen Auswirkungen verschärfter Knappheit abzuwenden.

Im Hinblick auf Terminmärkte sind die Defizite ökonomischer Bildung eher noch größer. Im Unterschied zu Kassamärkten werden hier keine physischen Güter gehandelt, sondern lediglich die Preisrisiken physischer Güter. Moralische Vorbehalte entzünden sich oft schon rein begrifflich daran, dass hier „Spekulation“ stattfindet. Dabei ist es in Wirklichkeit doch so, dass die Spekulanten ihren Vertragspartnern eine gesellschaftlich erwünschte Dienstleistung anbieten, indem sie sie von der Unsicherheit über die zukünftige Preisentwicklung entlasten. Wie viel unnötige Aufregung hätte der demokratischen Öffentlichkeit erspart werden können, wäre die Einsicht weiter verbreitet gewesen, dass Finanzspekulanten – und insbesondere auch die vielfach kritisierten Indexfonds – auf Terminmärkten als Versicherungsanbieter auftreten! Funktionierende Terminmärkte operieren im Modus institutionalisierter Solidarität: Sie organisieren solidarisches Handeln, sogar ein solidarisches Handeln zugunsten anonymer Interaktionspartner, d.h. Solidarität mit Fremden, ohne dass diese Solidarität sonderlich intendiert sein müsste.

„Kassamärkte organisieren Ex-post-Solidarität und Terminmärkte Ex-ante-Solidarität. In beiden Fällen handelt es sich um institutionalisierte Solidarität mit Fremden.“

Aufgrund eines eklatanten Mangels an ökonomischer Bildung kommen viele Bürger jedoch nicht auf den Gedanken – und halten es auf Anhieb sogar eher für eine absurde Idee –, dass Kassamärkte Ex-post-Solidarität (= Notfallhilfe) und Terminmärkte Ex-ante-Solidarität (= Versicherungsleistungen) organisieren. In beiden Fällen handelt es sich um institutionalisierte Solidarität mit Fremden. [4] Doch da dies häufig nicht erkannt wird und im öffentlichen Bewusstsein nicht präsent ist, läuft die demokratische Politik systematisch Gefahr, die Verwirklichung moralischer Anliegen primär über eine Außerkraftsetzung anstatt durch eine bessere Inkraftsetzung solcher Märkte anzustreben.

Das aber stellt die Logik unseres Zivilisationsmodells auf den Kopf: Hunger und Armut wurden in Deutschland nicht dadurch überwunden, dass man die Bevölkerung vor dem Markt in Schutz genommen hat, sondern vielmehr dadurch, dass man allen Bürgern – Frauen und Männern, Jungen und Alten, Dorfbewohnern und Stadtbewohnern, Bauern und Nicht-(mehr)-Bauern – die Option eröffnet hat, sich in die marktwirtschaftliche Arbeitsteilung zu integrieren und an den entsprechenden Wachstumserfolgen teilzuhaben. Es gibt keinen überzeugenden Grund, den derzeit noch unter Hunger und Armut leidenden Menschen einen anderen Weg zu empfehlen.

An moralischem Engagement fehlt es nicht, wohl aber an intellektueller Orientierung

Fazit: Es gibt einen Weg, der aus Hunger und Armut herausführt. Diesen Weg werden die Betroffenen zwar letztlich selbst gehen müssen. An uns, den Bürgern reicher Staaten, liegt es jedoch, diesen Weg ebnen zu helfen: durch ordnungspolitische Weichenstellungen für eine gelingende „Wachstums-Governance des Stadt-Land-Nexus“. Diese Formel bringt zum Ausdruck, dass es vor allem darauf ankommt, den wirtschaftlichen Strukturwandel in Entwicklungsländern nicht aufzuhalten oder künstlich zu verzögern, sondern stattdessen konsequent darauf zu setzen, dass Mobilität gefördert und Hungerbekämpfung durch Armutsbekämpfung vorangetrieben wird.

Dass uns das in der Vergangenheit nicht recht gelungen ist, liegt sicherlich nicht daran, dass es an gutem Willen gefehlt hätte. Ganz im Gegenteil: An moralischem Engagement herrscht kein Mangel. Mangel jedoch herrscht an intellektueller Orientierung. So kommt es gerade in Deutschland immer wieder zu dem Phänomen, dass moralisch engagierte Bürger, die Hunger und Armut auf dieser Welt wirksam bekämpfen wollen, besten Gewissens falschen Antworten anhängen, deren politische Umsetzung kontraproduktiv wäre und den betroffenen Menschen nicht nützen, sondern schaden würde. Hier tut Aufklärung Not!

Mit der hier entwickelten Argumentation sollte aufgezeigt werden, wie Wirtschaftsethik helfen kann, die richtigen Fragen zu stellen. Dies setzt freilich die innere Bereitschaft voraus, sich von Vor-Urteilen und Fehl-Urteilen zu befreien, die den Blick auf die wirklich relevanten Alternativen verstellen. Das ist unbequem und macht Mühe. Diese Mühe aber sind wir den Menschen schuldig, die so lange noch unter Hunger und Armut leiden, bis wir uns dazu durchringen – und global dafür einsetzen –, Märkte ganz gezielt zur Förderung globaler Ernährungssicherheit zu nutzen: als Instrument einer institutionalisierten Solidarität mit Fremden.

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