01.05.2007

Web 2.0 – so what?

Kommentar von Jürgen Wimmer

Web 2.0 – so what?

Hört sich an wie die Neuerfindung des Internets, dieses „web 2.0“, auch wenn der entsprechende Wikipedia-Artikel wenig verheißungsvoll mit den Worten beginnt: „... ist ein unscharf umrissener Oberbegriff für die Beschreibung einer Reihe neuer interaktiver Techniken und Dienste des Internets.“ Egal, wie unscharf: Die Zeiten der langweiligen, statisch aufgebauten Webseiten sind vorbei. Jetzt ist Interaktivität angesagt.
Ein Domaininhaber, auf dessen Seite nicht alles vom Logo über die Schrift bis zu den Bildern munter herumzappelt, kann sich kaum noch auf der Höhe der Zeit wähnen. Und der einzelne Anwender kann endlich alle Welt an seinem Leben hautnah teilhaben lassen.


Früher wurde ein Tagebuch mit seinen Geheimnissen sorgsam versteckt, der Inhalt mittels Vorhängeschloss vor neugierigen Augen gesichert; heute geht’s direkt ab damit ins Netz: Bloggen nennt sich das, und endlich kann jeder nachlesen, wie der Heinz von um die Ecke über Globalisierung, Klimaerwärmung und den FC Bayern München denkt. Dabei kann man ihn auch noch anschauen, denn er hat beim Bilderdienst flickr.com seine jüngsten Urlaubsfotos hochgeladen und seine spannenden Mallorca-Videos auf youtube.com verewigt. Auch weiß nun jeder dank dieser kostbaren Bilddokumente, wie seine Modelleisenbahn aussieht und was sein Dackel zum Frühstück frisst. Und dafür muss er nicht einmal, wie früher, eine eigene Seite betreiben. Klasse Sache!


Nun gibt es natürlich Spielverderber, die solche Errungenschaften nicht zu würdigen wissen. Einer davon heißt Tim Berners-Lee und gilt als Erfinder des World Wide Web. Er sagt, der Begriff web 2.0 sei „nichts als Gewäsch, und niemand weiß, was das überhaupt bedeutet“. Nicht wenige Anwender bekommen allerdings mehr und mehr eine Ahnung davon, was hinter dem modischen Schlagwort tatsächlich steckt: nicht allein Interaktivität und nützliche neue Dienste, sondern auch (und leider in wachsendem Maße) die reine Nervenzerrüttung.


Das Stichwort heißt Ajax. Damit ist heutzutage nicht mehr die Fußballmannschaft aus Amsterdam gemeint, sondern die Programmierung einer Webseite mit „Asynchronous JavaScript and XML“. Die Idee dahinter ist grundsätzlich nicht übel: Teile einer Webseite können einzeln durch Benutzereingaben verändert werden, ohne dass die gesamte Seite neu geladen werden muss. Praktisch.


Unglücklicherweise weckt dies in manchem Programmierer das Spielkind. Was das bedeutet, merkt der geplagte Surfer, wenn er seine Maus über eine Internetseite bewegt und dabei Bilder wie Texte beginnen, hektisch hin und her zu springen. Einen Link anzuklicken wird da zum mäßig lustigen Fang-mich-Spielchen, denn während die Maus Richtung Ziel strebt, poppt hier irgendein Menü unaufgefordert hoch, dort eine Infobox ohne Infos, oder ein Bild vervierfacht mal eben seine Größe (und fällt genauso schnell wieder zusammen), oder die Schrift ändert sich, und als Folge der ganzen permanenten Umformatierung ist der anvisierte Link längst woandershin gewandert. Also geht der Klick mitunter ins Leere oder an die falsche Adresse. Auch wenn dies für den Surfer arg unerquicklich ist, so eröffnet es doch zumindest der Werbung neue Perspektiven.


Zugegeben: Einerseits erwarten die meisten Surfer, dass jedes Angebot im www gefälligst kostenlos zu sein habe, andererseits müssen die Betreiber dieser Angebote natürlich von irgendetwas leben. Ohne Werbung geht es also nicht; wohl aber ginge es ohne massive Belästigung. Da erscheinen nach wie vor die verhassten Pop-ups (trotz voreingestellter
Pop-up-Unterdrückung) oder Pop-ins oder Flash-Werbung, die bisweilen gar den Browser abstürzen lässt. Wie kommt wohl eine Botschaft an, die erst einmal mit dem Wegklicken unerwünschter Fenster verbunden ist? Aufdringlicher sind nicht einmal Ramschhändler beim Touristen-Abzocken.


Nun denkt sich der halbwegs erfahrene Anwender: Haha, ich kann ja in meinem Browser einfach Javascript deaktivieren und habe Ruhe! Dann sind allerdings zahlreiche Funktionen nicht mehr verfügbar, zum Beispiel bei zahlreichen Webmail-Diensten. Mal eben ins Verzeichnis „Papierkorb“ wechseln? Nicht ohne Javascript! Wichtig ist offenbar nicht mehr, dass ein solcher Dienst funktional und einfach von jedem Rechner aus zu bedienen ist, sondern, dass selbst triviale Aktionen irgendeinen Effekt brauchen oder eine völlig blödsinnige Animation. Dafür wird die Benutzbarkeit zum Teil sogar erheblich eingeschränkt; so ist es bei einigen Seiten nicht mehr möglich, Lesezeichen auf tiefer liegende Inhalte zu setzen, zum Beispiel auf eine routinemäßig benötigte Fahrplanabfrage. Manchmal funktioniert nicht einmal mehr der „Zurück“-Knopf richtig. Dafür sieht die Seite dann mächtig cool aus.


Aber da muss man eben durch. Ein IT-Techniker berichtet, dass einige seiner Kunden den ganzen entbehrlichen Firlefanz jetzt auch so haben wollen, mit der einzigen Begründung, „weil das doch jetzt alle so machen“. Vor vielleicht fünf Jahren gab es schon einmal eine ähnliche Epidemie. Damals hieß die Krankheit „Flash-Intro“. Diese protzigen Startseiten mit ihren unendlich langen Ladezeiten waren zu rein gar nichts nütze. Folglich wurde weltweit nichts häufiger angeklickt als die „Skip-Intro“-Schaltflächen, was dann mit der Zeit sogar der begriffsstutzigste Webmaster einsah. Die Ajax-Unsitten lassen sich leider nicht so leicht umgehen. Eigentlich müssten die Seitenbetreiber, die sich den ganzen Zappelschund installieren lassen, nur einmal versuchen, ihr eigenes Angebot regelmäßig selbst zu nutzen.


Natürlich gibt es auch sinnvolle Anwendungen für die ganze Technik; der Landkarten-Dienst Google Maps zum Beispiel. Die Frage ist, in wie vielen Jahren sich die Webseiteninhaber mit dem neuen Spielzeug endlich so weit ausgetobt haben werden, dass sich der Blick wieder auf das eigentlich Selbstverständliche richtet: Nutzerfreundlichkeit. Aber bis dahin gibt’s bestimmt schon das web 3.0 mit neuen Quälgeistern.

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