01.11.2006

Was Gammelfleisch und „Little Man“ gemeinsam haben

Analyse von Jürgen Wimmer

Raubkopien aktueller Hollywoodstreifen sind vor allem deshalb beliebt, weil die Originale zu schlecht sind, als dass man dafür bezahlen möchte, sagt Jürgen Wimmer.

Little Man: Ein etwas kurz geratener Gangster versteckt sich als Kleinstkind in einer biederen Familie. Dazu wurde das Gesicht von Marlon Wayans (links, eigentlich normal groß) auf den Körper eines Zwergwüchsigen gemorpht. Regie: Keenen Ivory Wayans.


Sideways Durch Mundpropaganda in den USA zum Dauerbrenner: Sideways von Alexander Payne. Von links: Sandra Oh, Thomas Haden Church, Virginia Madsen, Paul Giamatti.


Superman Returns: Brandon Routh wollte hierzulande in Superman Returns einfach nicht abheben. Regie: Bryan Singer





Stellen Sie sich vor, Sie erhalten eine schriftliche Einladung zu einem Geburtstagsumtrunk mit dem Hinweis, es sei verboten, das Tafelsilber zu stehlen, weshalb Leibesvisitationen durchgeführt würden (mit Bitte um Verständnis). Die meisten Menschen fänden das nicht sonderlich einladend. Seit einigen Jahren freilich hat es sich bei Einladungen zu Filmvorführungen für die Presse eingebürgert, die geschätzten Gäste auf Folgendes hinzuweisen (ungekürztes Zitat):


„Diese Filmvorführung wird zur Vermeidung unbefugter Aufzeichnungen überwacht. Mit Ihrem Besuch erklären Sie sich damit einverstanden, kein Aufzeichnungsgerät in den Kinosaal mitzubringen. Ferner stimmen Sie einer Durchsuchung und Abgabe Ihrer mitgeführten Taschen, Tüten, Rucksäcke, etc. einschließlich einer Leibesvisitation nach Aufnahmegeräten zu. Sollten Sie versuchen, den Aufführungsraum mit einem Aufnahmegerät zu betreten, wird man Ihnen den Zutritt untersagen. Für den Fall Ihres Versuchs der Inbetriebnahme eines Aufnahmegeräts sind Sie damit einverstanden, dass Sie unverzüglich aus dem Kinosaal verwiesen werden und das Gerät entschädigungslos einbehalten wird. Unbefugte Aufzeichnungen werden den Strafverfolgungsbehörden zur Kenntnis gebracht und können eine straf- und zivilrechtliche Haftung Ihrerseits zur Folge haben.“
 

„Bei Filmvorführungen für die Presse schleichen Sicherheitsleute durch den Saal und überwachen die versammelte Journaille sorgfältig, bei größeren Produktionen sogar mit Nachtsichtgeräten.“



Das ist weder gelogen noch übertrieben. Professionelles Sicherheitspersonal filzt sorgfältig jedes Jackett, jede Handtasche, fragt misstrauisch nach dem Inhalt von, sagen wir, einer Nasentropfenverpackung. Die Ganzkörper-Metalldetektoren piepsen fleißig bei jedem Schlüsselbund und Portemonnaie, und erst wenn die letzte Gürtelschnalle kontrolliert und abgesegnet ist, dürfen die geladenen Gäste den Kinosaal betreten. Die Filmvorführung beginnt meist mit einer Schrifttafel, die auf den Schaden durch Raubkopien hinweist und irgendwelche Verlustzahlen in Milliardenhöhe nennt. Läuft der Film dann endlich, bewegen sich permanent Silhouetten durchs Bild: Die Sicherheitsleute schleichen durch den Saal und überwachen sorgfältig die versammelte Journaille, bei größeren Produktionen sogar mit Nachtsichtgeräten. Da kommt gute Laune auf!


Nach Gründen für dieses Brimborium muss niemand lange suchen: Seit Jahren sinken die Besucherzahlen. Kaum ist ein Film in den Kinos, wird er auch schon als abgefilmte Raubkopie über die einschlägigen Tauschnetze Emule und Bittorrent unters Volk gestreut. Das ist unerfreulich. Nach der Musikindustrie, die noch im alten Jahrtausend durch den legendären Napster unter Druck geriet, hat es mit wachsenden Bandbreiten nun auch die Filmindustrie erwischt. Das illegale Austauschen von Musik und Filmen ist längst zum Volkssport geworden, und auch wenn hin und wieder jemand erwischt und verurteilt wird (meist Schüler, Arbeitslose, alleinerziehende Mütter), tut das dem Datenstrom keinen Abbruch. Der Anteil der Tauschbörsen am gesamten Internet-Traffic beträgt tagsüber 50 Prozent, in der Nacht sogar 80. Da glüht die Leitung.


Kinobesucher werden deshalb mittels der schon erwähnten Schrifttafeln zu Beginn eines Films angewiesen, „verdächtige Aktivitäten“ (also surrende Kameras) zu melden. Wer eine Anti-Piracy-Seite aufruft, kommt sich indes leicht verschaukelt vor: Fakten und Informationen, etwa wie der angegebene Milliardenverlust sich konkret errechnet, finden sich dort nicht, wohl aber tanzende Sprüchlein in kunterbunten Farben, die den Besucher ermahnen, dass er gefälligst die Originale kaufen solle. Und es ist die Rede davon, dass Kopien keine Qualität böten. Das abschließende „No further comment!“ ist typisch, weil völlig die Situation verkennend, denn genau hier müsste die Diskussion ansetzen: Bieten denn die Originale Qualität?


Natürlich garantiert nur ein gutes Kino vollen Filmgenuss, theoretisch zumindest. Denn ob sich das, was da oft gezeigt wird, überhaupt genießen lässt, ist eine Frage, die von der Filmindustrie nicht gern gehört wird. Es ist doch erstaunlich, dass trotz rigoroser Strafandrohungen immer mehr Leute der digitaltonbeschallten Kinoleinwand irgendwelchen abgefilmten Ramsch vorziehen: winzige Bilder, unscharf und schief, ohne Kontrast, mit Köpfen im Bild, dazu ein Ton, der sich anhört, als sei er durch eine Wolldecke hindurch aufgenommen (vielleicht abgesehen vom Popcorngeknister des Nachbarn). Da stimmt etwas ganz grundsätzlich nicht – es sind die Filme selbst.
Ein Blick auf das Kinojahr 2006 zeigt, dass die Zuschauer von den Produzenten offenbar in zunehmendem Maße falsch eingeschätzt werden.


Trugschluss Nummer 1: „Was vor 30 Jahren ein Hit war, wird auch heute einer!“ Also wird ein Remake nach dem anderen hingeworfen, doch sehen mag es kaum einer. Da addieren sich vor allem Horror-Neuaufgüsse wie „The Fog“, „Unbekannter Anrufer“ oder „Das Omen“, dazu TV-Serien („Miami Vice“, noch halbwegs erfolgreich), Katastrophenfilme („Poseidon“, schnell untergegangen) oder Klamauk („Der rosarote Panther“).


Trugschluss Nummer 2: „Fortsetzungen gehen immer!“ Das mag für „Fluch der Karibik 2“ gelten, der rasend schnell die Milliarden-Umsatz-Marke überschritt und damit bewies, dass auch heute noch fette Umsätze zu machen sind. Dem stehen jedoch schon von der Planung her grotesk unsinnige Projekte wie „Basic Instinct 2“ entgegen. Und brauchte die Welt wirklich einen dritten „The Fast and the Furious“?


Trugschluss Nummer 3: „Trickfilme sind eine Bank!“ Stimmte einmal. Früher gab es auch nur ein oder zwei abendfüllende Trickfilme pro Jahr, doch inzwischen sind sie zur Landplage geworden. „Tierisch wild“, „Ice Age 2“, „Ab durch die Hecke“, „Himmel und Huhn“, „Cars“, „Jagdfieber“ und so weiter – manche ganz hübsch, andere nur nervtötend – graben sich gegenseitig das Wasser ab. Selbst Hartgesottene haben von quasselnden Tieren langsam genug.
 

„Wer vor dem Kauf erst einmal in einem Roman herumblättert, wird nicht schief angesehen. Dasselbe Recht fordern nun die Filmfreunde.“



Trugschluss Nummer 4: „Komödien müssen grundsätzlich für 14-jährige, schwerstpubertierende Bürschlein gedreht werden!“ Das bedeutet: Fäkalhumor mit dem Holzhammer. Ein Beispiel: In „Die Chaoscamper“ repariert Robin Williams in einer ziemlich langen Szene die Bordtoilette seines Wohnmobils, was natürlich mit einer meterhohen Kotfontäne endet und … – ach, das wollen Sie gar nicht wissen. Noch übler ist, was dem zahlenden Zuschauer in Lustspielen wie „Mein verschärftes Wochenende“ oder „Little Man“ zugemutet wird. Dagegen wirkt 70er-Jahre-Lederhosen-Klamauk wie reiner Molière. Das andere Extrem sind biedere Beziehungskomödien wie „Couchgeflüster“ oder „Trennung mit Hindernissen“, die einfach nur so herumplätschern, bis sie irgendwann vorbei sind.


Trugschluss Nummer 5 (besonders fatal): „Was den Amerikanern gefällt, gefällt der ganzen Welt!“ Seit Jahren produziert Hollywood mit seinen Superheldenfilmen am europäischen Geschmack vorbei. Mit Ausnahme von „Spiderman“ blieben alle diese Filme in Deutschland hinter den Erwartungen zurück. Besonders krasses Beispiel: „Superman Returns“. In den USA spielte er annähernd 200 Millionen Dollar ein, bei uns hatte er am Startwochenende gerade 200.000 Besucher und verabschiedete sich schon nach zwei Wochen aus den Top Ten. Manche Dokumentarfilme laufen besser.


Da ein Kinobesuch mit Nebenkosten wie Anfahrt, Popcorn und Cola nicht ganz billig ist, sind die potenziellen Kunden eben vorsichtig geworden. In vergangenen Zeiten mussten sie die Katze im Sack kaufen und mit den Werbetrailern vorlieb nehmen. In solch einer 30-Sekunden-Highlight-Parade lässt sich auch der letzte Ladenhüter noch als Kleinod verkaufen. Doch das Vertrauen ist weg. Wer in einer Buchhandlung vor dem Kauf erst einmal in einem Roman herumblättert, hier und da ein paar Absätze oder gar Seiten liest, wird wohl kaum schief angesehen. Dazu werden sogar Leseecken angeboten. Dasselbe Recht lösen nun die Filmfreunde für sich ein, leider nicht legal, und sie verschaffen sich über die Raubkopie erst einmal einen Eindruck. Und der ist dann eben meist nicht erfreulich.


Dabei kommt es allerdings auch zu positiven Überraschungen. „Sideways“ von Alexander Payne zeigt zwei Freunde (Paul Giamatti, Thomas Haden Church), die in Kalifornien von Weingut zu Weingut fahren und dabei amüsante wie schmerzliche Erfahrungen machen; ein kleiner Ensemblefilm ohne Effekte und Schenkelklopfer, dafür mit langen Dialogen und einer geradezu devoten Liebeserklärung an den Pinot noir. Am amerikanischen Startwochenende spielte der Film erst einmal nur magere 207.000 Dollar ein (zum Vergleich: selbst der Flop „Poseidon“ brachte es noch auf 22,1 Millionen Dollar). Sein bestes Ergebnis hatte „Sideways“ erst in der 15. Woche mit 6,35 Millionen, und am Ende wurden es dann erstaunliche 71,5 Millionen (zum Vergleich: Der mit ungleich mehr Aufwand und Werbung positionierte „Poseidon“ kam nur auf 60,7 Millionen). Das zeigt eines: Zuschauer wissen Qualität zu würdigen, solange ihnen jemand die Gelegenheit dazu gibt. Zumeist aber werden Filme wie „Sideways“ schon aus den Kinosälen verdrängt, bevor sich überhaupt irgendetwas herumsprechen könnte.
 

„Anstatt wieder Wert auf die Qualität von Drehbüchern zu legen, stellen die Filmproduzenten lieber ihre potenziellen Kunden unter den Generalverdacht, Diebe zu sein.“



Ist der kleinste gemeinsame Nenner beim Publikum wirklich immer gleich die unterste Schiene? Ein gutes Beispiel ist der aktuelle Film mit Adam Sandler, „Klick!“ Die Idee ist gut: Ein von Familie und Job überbelasteter Workaholic erhält auf wundersame Weise eine Universal-Fernsteuerung, die ihm erlaubt, sein ganzes Leben mittels Knopfdruck zu steuern. Vor 20 Jahren wäre daraus wahrscheinlich eine hübsche Fantasy-Komödie geworden. Heute? Furz-Humor, Penis-Witze, eine peinliche Moralpredigt obendrein. Und das ist noch nicht einmal der Bodensatz. Wenn Komödien versuchen, Komödien zu parodieren, wie in „Date Movie“, ist nur noch Katastrophenalarm angesagt. Sind es nur die berufsmäßigen Griesgrame von Kritikern, die darob verzweifeln? Hören wir, was der zahlende Otto Normalzuschauer schreibt (und zwar in der Internet Movie Database): „Totale Zeitverschwendung“ (Jamalsy, Australien), „die schlechteste Parodie aller Zeiten“ (Brian Wilson, Michigan) und vor allem: „Glaubt nicht der Werbung!“ (clowtree, NYC). So doof sind die Leute also doch nicht.


Das Schlimme daran ist allerdings, dass dieses Zeug über kurz oder lang die Sehgewohnheiten der nachwachsenden Generation völlig ruiniert. Ein heute 16-jähriger Teenager, der mit solchen Filmen aufwächst, weiß überhaupt nicht mehr, was eine Komödie ist. Was soll er sagen, wenn er zufällig einmal, ganz gegen seinen Willen, bei einem Film von, meinethalben, Billy Wilder, François Truffaut oder Howard Hawks hängen bleibt? Also Filme, die eine Handlung haben, Wert auf ihre Charaktere legen, sich nicht dem Zwang hingeben, alle drei Sekunden einen Lacher herauszuquälen und in denen – man soll es nicht für möglich halten – niemand mit Kot beschmiert wird? Das muss auf jugendliche Zuschauer zutiefst verstörend wirken. Hier sind, nebenbei angemerkt, die Schulen gefragt, und filmhistorische wie -ästhetische Bildung gehört endlich auf den Lehrplan. Das heißt nicht, dass Neuntklässler jetzt mit Tarkovskij genervt werden sollen. Aber wer heute den Aufguss „Poseidon“ vorgesetzt bekommt, sollte schon wissen, dass es da ein weitaus besseres Original von 1972 gibt.


Woher also kommt der Besucherschwund? Sind die Milliardeneinbußen der letzten Jahre wirklich ausschließlich (oder überwiegend) das Ergebnis von Bittorrent und Emule? Das kann nur glauben, wer über eine ausgesprochen selektive Wahrnehmung verfügt. Es kann nur einen Ausweg geben: Die Filme müssen endlich wieder besser werden. Das will natürlich niemand hören, und anstatt wieder Wert auf die Qualität von Drehbüchern zu legen, stellen die Produzenten lieber ihre potenziellen Kunden unter den Generalverdacht, Diebe zu sein. Zum Teil hängen noch auf dem Kino-Pissoir einschüchternde Plakate, welch grausige Kerkerhaft bei Wasser und Brot allen Raubkopierern droht. Unterdessen wird in Hollywood weiter gepfuscht und gemurkst, was das Zeug hält, und es wird von Jahr zu Jahr schlimmer. Das gibt doch zu denken: Wer als Handwerker oder gar Lebensmittelproduzent solch bewusst minderwertiges Zeug fabriziert, wird dafür belangt. Die Filmindustrie dagegen belangt ihre Kunden, weil sie ebenjenes minderwertige Zeug nicht mehr unbesehen kaufen. Aber ob nun Gammelfleisch im Döner oder „Little Man“ im Kino; da ist letztlich kein großer Unterschied.

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