01.11.2000

Warum die Ganztagsschule besser ist

Analyse von Christiane Grefe

Christiane Grefe plädiert dafür, den Schulalltag auf den Nachmittag auszudehnen. So können langfristige Unterrichtsprojekte realisiert werden. Kinder werden dabei an ein anderes Lernen herangeführt.

Bei der globalen Konkurrenz-Regatta segelt Deutschland hoffnungslos hinterher – wenn man den Katastrophen-Szenarien selbst ernannter Schul- und Bildungsexperten glaubt. “Alarmierend”, “erschreckend”: So geißeln Politiker und Publizisten eine angeblich kaum des Lesens und Schreibens mächtige Horde von Schulabsolventen, die alles Mögliche sei – nur nicht “fit für die Zukunft”.

Davor, dass wir alle “nicht mehr gut und rasch genug” seien, warnte der frühere Bundespräsident Roman Herzog. Und drohende Zeigefinger mahnen von FAZ bis Stern: Das “Bohren dünner Bretter” müsse schnellerem Ausbildungstempo weichen, größerer Pauk- und Anpassungsbereitschaft, Disziplin.
Tatsächlich liegt die Forderung, die Schule nur auf vage Arbeitsmarktprognosen hin auszurichten, selbst auf tiefem Niveau: dem der Kaffeesatzleserei. Nebulös und widersprüchlich ist zudem das Bild jener “Wissens- und Informationsgesellschaft”, auf deren Bedarf man die Kinder zugeschnitten haben will: “Das Wissen” verdoppele sich in immer kürzeren Abständen, heißt es immer wieder – im selben Atemzug aber soll es rasend schnell veralten. “Was sind das überhaupt für merkwürdige Wissensmengen”, spottet da der Münchner Semiotiker Hermann Sottong, “die wie Wegwerfware produziert, konsumiert und wieder entsorgt werden müssen?” Nein, die gestrenge Schul-Schelte im “Vorgesetzten-Ton”, wie Hans Magnus Enzensberger das nennt, ist vor allem eines: So alt wie die Welt.
Doch sie wird gehört: Eltern fordern laut GEO-Wissen-Umfrage (s. GEO Wissen, Nr.1/1999, S.22) mehr Berufsvorbereitung statt einer umfassenden geistigen und menschlichen Bildung ihrer Kinder. Und selbst erstklassige Gymnasiasten sind von den Verfallsklagen erschlagen: “Eine Schafherde”, so lust- und ziellos charakterisierten Schülerzeitungs-Redakteure ihre Altersgenossen bei einem Seminar der Hypo-Vereinsbank in München; “total orientierungslos”, “glauben an nichts, wollen nichts”. All das lässt vermuten, dass nicht ein ideologisch verstellter Blick in die Zukunft Ansätze für notwendige Bildungsreformen erkennen lässt, sondern der nüchterne auf die Gegenwart.

Hier und heute zeigt es sich dann ganz konkret: Auf keinen der einschneidenden Umbrüche, denen Kindheit und Jugend seit Jahrzehnten ausgesetzt sind, hat das Bildungssystem bisher angemessen reagiert. Der wachsenden Macht der Medien, zunehmender Mobilität, größerer sozialer Ungewissheit, Arbeitslosigkeit und dem immer festeren Zugriff der Konsumindustrie auf die Freizeit von Alice im Plunderland kann aber die heutige Familie allein kaum mehr gegensteuern.
Denn diese ist ja nicht nur zur Kleinst-Familie geschrumpft, sondern auch noch zerrissen zwischen Geschwindigkeitsunterschieden: Eltern- und Kinderaufbrüche und -heimkünfte zu jeweils verschiedenen, sich ständig ändernden Tageszeiten; Kinder unter Leistungsdruck mit arbeitslosen Eltern; Eltern in Terminhetze mit herumlungernden Kindern.

Das entstandene Bildungs- und Erziehungs-Vakuum soll und muss nun die Schule füllen. Mehr Schul-Aufgaben aber dauern. Und somit braucht auch dieses Land etwas, was andere längst haben: die Ganztagsschule als Regelschule, bis 15.30 Uhr, für alle Altersgruppen. Als längst fällige Reaktion auch auf noch andere Veränderungen:

Zeit zum Spielen. Früher zogen Jungen und Mädchen nach dem Mittagessen bis abends auf die Straße; was sie solange unternommen hatten, ging zu Hause niemanden etwas an. Ein solch spontanes Eigenleben der Kinder ist heute nicht mehr selbstverständlich: Wohnumgebungen sind autogerecht verbaut, die Nachmittage mit Terminen verplant, und insbesondere in Städten ist die “Kinderdichte” gering. Es mag manchen absurd erscheinen, Frei-Räume ausgerechnet im pädagogischen Kontrollzentrum Schule inszenieren zu wollen. Doch Reformschulen haben vielfach vorgemacht, wie aus Lernkasernen Lebensräume mit Abenteuer-, kreativen Entfaltungs- und Rückzugsmöglichkeiten werden können. Schon wenn der Schulhof auch nachmittags geöffnet wird, kommen selbst Unterrichtsmuffel freiwillig wieder.

Zeit für Gemeinschaft. Die meisten Jungen und Mädchen wachsen ohne oder mit nur einem Geschwister auf. In Zeiten hoher Scheidungsziffern erzieht rund ein Fünftel der Eltern – und sei es zeitweise – allein. Jedes dritte Kind verbringt die Nachmittage ohne Betreuung; auch allein mit seinen Problemen. Dass “Schlüsselkinder” oft passiv vor Computerspielen oder dem Fernseher sitzen, ist nicht nur ein Klischee. Mit jenen überversorgten Sprösslingen, deren Mütter täglich Tourneen durchs Förder- und Freizeitangebot organisieren, haben sie das Defizit an sozialen Erfahrungen gemein. In der Ganztagsschule hingegen haben die Kinder weit größere Chancen, Anerkennung zu ernten als im Korsett des reinen Fachunterrichts. Wo Schüler den Lehrern nicht nur von-Uhr-bis-Uhr, sondern auch beim Essen, in der Bibliothek oder bei einer Rockmusical-Inszenierung begegnen, da kann zudem eher ein Vertrauensverhältnis entstehen. Dass viele Lehrer sich mit derart selbst organisierter pädagogischer Arbeit weder anfreunden mögen noch dafür ausgebildet sind, spricht gegen sie und gegen das, was sie auf der Hochschule lernen – nicht gegen die Ganztagsschule.

Zeit für Verantwortung. In großen Familien oder funktionierenden Nachbarschaften hatten Kinder Aufgaben: auf die Geschwister aufpassen, der Oma nebenan Essen bringen. Heute sind die Jungen und Mädchen aus der Erwachsenenwelt ausgeklammert, werden kaum mit der Arbeitswelt konfrontiert, haben über die allmächtigen Lehrer und Eltern hinaus nur selten eigene Beziehungen zu Erwachsenen. In ihren Gleichaltrigen-Gettos herrscht der wattige Zustand ewiger Vorbereitung aufs “eigentliche” Leben. In Ganztagsschulen haben sie Zeit, gemeinsam mit erwachsenen Experten an etwas zu arbeiten: einer Solaranlage, dem kalten Büfett für den Vortragsabend. Und sie übernehmen Verantwortung: für die Klassenzimmerpflanzen, für die Schul-Homepage im Internet oder für die Jüngeren. So sind sie wichtig. Und können sich auch so fühlen.

Zeit für Erlebnisse. Kinder tauchen immer öfter ab in virtuelle Welten. Und aus den Medien haben sie von allem schon gehört – von Smogalarm, Regierungs- oder Prominentenehe-Krisen. Doch die Kluft zwischen der frühen Informiertheit und der Erfahrungsreife ist groß: Orientierung – also die Fähigkeit, Informationen auch zu bewerten – schafft erst der Abgleich mit eigenem Erleben. Von ganzen Tagen im Wald über den Besuch im Bildhauer-Atelier bis zum gemeinsamen Lernen mit Kindern aus anderen Schichten ist in der Ganztagsschule auch für Unmittelbarkeit mehr Zeit: “Wir haben nur eine Kindheit”, sagt Hartmut von Hentig, “und die ist für die elementaren Erfahrungen da.”

Zeit zum Wissen-Lernen. Zugleich müssen sich Kinder mit einer immer komplexeren Welt, also auch immer Neuem, auseinandersetzen: Kaum sind Sexualerziehung, Drogeninformation, interkulturelles Lernen und umweltbewusstes Verhalten in den Stundenplan integriert, da wird schon mangelnde ökonomische und juristische Kenntnis beklagt und Gesundheitserziehung gefordert, und auch dieses: “Europa muss im Kopf beginnen!”
Den Computer beherrschen Kinder zwar munter von selbst. Aber sie brauchen Anstöße, wie man Informationen kritisch bewertet: Von wem stammen sie? Was sollen sie bezwecken? Wie verlässlich sind sie? All das macht die Bildung in den klassischen Schulfächern noch notwendiger. Denn allen Internet-Euphorikern zum Trotz kann keine Datenbank die eigene Auseinandersetzung mit Homer und Heisenberg, Kant und Knallgas, Bismarck und Bartok ersetzen: Nur wer etwas weiß, kann Fragen stellen, politische Urteile fällen – und, vor allem, Zusammenhänge erkennen.
Und das alles sollen Mama und Papa, die “Hilfslehrer der Nation”, ihren Sprösslingen am Küchentisch ganz allein eintrichtern? Die Vorstellung ist vermessen, abgesehen davon, dass die Eltern oft überhaupt nicht verfügbar sind.

Zeit zum Denken-Lernen. Gewiss können auch Ganztagsschulen neue Ansprüche nicht einfach durch zusätzliche Unterrichtsstunden bewältigen. Aber sie bieten die besseren Voraussetzungen dafür, Kinder durch Projektarbeit selbständig zu machen. Denn wichtig ist nicht die schiere Menge des Wissens, sondern dass man an Beispielen lernt, es sich auch zu erschließen: “Wer denken lernt”, sagt der Präsident der Carnegie-Stiftung, Vartan Gregorian, “kann alles denken.” Nur wer auf Vormittag und Nachmittag baut, kann den sturen 45-Minuten-Unterrichtsrhythmus zugunsten offener Lernzeiten und Pausen durchbrechen. So können langfristige Projekte möglich werden – und individuelle Lern-Rhythmen. Kinder, die Themen – ob allein oder im Team – selber auswählen, planen und umsetzen, lernen mit größerer Motivation: Wird ihnen etwas zugetraut, dann trauen sie sich auch selbst etwas zu.
Beweglichkeit in den Stundenplänen ermöglicht zudem, theoretisches Lernen mit praktischen Erfahrungen zu verbinden – und das quer durch die Disziplinen: Da denken sich Schüler ein Produkt aus und gründen für dessen Herstellung oder Vertrieb eine Firma, gemeinsam mit einem Betriebswirt, der Kunst- und der Gemeinschaftskundelehrerin. Oder sie diskutieren im Unterricht den historischen Weg zur Demokratie und lernen diese zugleich praktisch bei den täglichen Entscheidungen und Konflikten in der Schule.

Es ist gewiss kein Zufall, dass an den lebendigsten Reformschulen auch nachmittags gelernt wird. Dort trifft man auf selbstbewusste Kinder mit eigenen Antrieben: bei ihrer Arbeit kaum ansprechbar. In ihrer natürlichen Neugier sind sie wandelnde Belege dafür, dass “Pauken” und “Spaß” eben kein Gegensatz sein müssen.
Über all diese pädagogischen Vorzüge hinaus würde die Ganztagsschule mehr Gerechtigkeit schaffen: Teure Nachmittagsbetreuung oder Privatschulen können sich nur wenige Familien leisten. Dass Väter und Mütter bei verlässlichen Unterrichtszeiten Beruf und Familie besser unter einen Hut kriegen, ist ein gewichtiges Argument.

Indes auch eines der umstrittenen: Kaum sonst wo wird der Einfluss der Eltern, meist der Mütter, aufs “eigene” Kind so leidenschaftlich verteidigt wie hierzulande, obwohl die Kinder in der Schule ja nicht für immer verschwänden und die Wirklichkeit ihrer Betreuung zu Hause längst entwichen ist. In England, Frankreich, Italien, der Schweiz, auch in den USA verbringen Jungen und Mädchen ganz normal ihren Tag in der Schule und nehmen deren Freizeit- und Förderangebote selbstverständlich an.

In Deutschland aber findet nur etwa jedes 20. Kind einen Ganztagsplatz. Statt die Ursache dafür, das Finanzproblem, anzugehen, mystifizieren die einen “Überpädagogisierung” und angeblichen “Stress” – und warnen die anderen vor “Kuscheleckenpädagogik”.
Ganz im ritualisierten Schema der Bildungsdiskussion: Erziehen oder möglichst viel Stoff pauken? Ehrgeiz fördern oder soziales Einfühlungsvermögen? Die humanistische Bildung retten oder Informatikexperten züchten? Lernen lernen oder einen Wissenskanon?
Als wären das Alternativen!

Auch deshalb ist die Ganztagsschule wichtig: Dort lernen Kinder die ganze Bandbreite – nicht oder, sondern und.

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