01.09.2005

Wählen, aber was?

Kommentar von Sabine Reul

Die vorgezogene Bundestagswahl am 18. September hat eine neuartige Situation geschaffen. Aufgrund der außergewöhnlichen Umstände, unter denen sie zustande kam, ist das Interesse der Bürger an diesem Wahlgang gewiss hoch – umso mehr, da die großen Parteien sich alle einen „Neubeginn“ auf die Fahnen schreiben. Doch die hohe Aufmerksamkeit der Bevölkerung steht in deutlichem Widerspruch zur geringen Bereitschaft der Parteien zum politischen Dialog. Das ist wohl das prägende Merkmal dieser Wahlauseinandersetzung.

Natürlich gibt es Wahlprogramme, in denen die Parteien darlegen, was sie tun und erreichen wollen, sollten sie eine Regierung bilden können. Und da deren Inhalte mangels Kommunikationsbereitschaft der Parteien in der Öffentlichkeit kaum debattiert werden, sollen sie hier einmal kurz resümiert werden.


Bündnis 90/Die Grünen
Die Grünen stehen nach wie vor für die Ökologie. Sie fordern Ressourcensparen, Ausbau der Ökosteuer, Beibehaltung des Gentechnikverbots, verstärkte Förderung der erneuerbaren Energien, und sie wollen dem Verbraucherschutz noch größere Priorität einräumen, als er schon jetzt genießt.


SPD
Die SPD wirbt für die Fortsetzung der Schröderschen Sozialstaatsreformen, möchte aber einen „starken und sozialen Staat, der seinen Menschen höchstmögliche Sicherheit gibt“, bewahren. Dazu soll ein Steueraufschlag auf hohe Einkommen beitragen. Die SPD sieht sich als „Partei des technischen Fortschritts“ und will, im Gegensatz zu den Grünen, die Gen- und Biotechnologien fördern, setzt aber in der Energiepolitik, ganz wie der grüne Koalitionspartner, auf erneuerbare Energien und dieBeibehaltung des Atomausstiegs.


CDU/CSU
Die Union stellt Wachstum und Beschäftigung in den Mittelpunkt ihres Wahlprogramms. Sie will „Eigenverantwortung statt Staatsgläubigkeit“ fördern durch Bürokratieabbau und Lockerung des Kündigungsschutzes wie der Tariflöhne. Die Lohnnebenkosten sowie die Einkommen- und Körperschaftssteuern sollen gesenkt, zur Gegenfinanzierung bestehende Steuerschlupflöcher geschlossen und die Mehrwertsteuer erhöht werden. Außerdem stellen die Unionsparteien eine Rückführung der staatlichen Neuverschuldung auf Null bis zum Jahr 2013 in Aussicht. Anders als Grüne und SPD lehnen die Unionsparteien in ihrem Programm den Atomausstieg als „umweltpolitisch und technologisch verheerend“ ab (ohne sich allerdings näher über alternative Maßnahmen zu äußern). Für die Bio- und Gentechnologie wollen sie einen „notwendigen und verantwortbaren Rechtsrahmen“ schaffen.


FDP
Die FDP präsentiert ihr Wahlmanifest als „Programm gegen die Angst vor den Risiken der Zukunft“. Es gehe „nicht mehr um das Verteilen schuldenfinanzierter Wohltaten, sondern um das Erwirtschaften von Wohlstand“. Deshalb wirbt die FDP für durchgängige Steuersenkungen und den Ersatz der verschiedenen staatlichen Versorgungssysteme durch ein einheitliches steuerfinanziertes Bürgergeld. Auch will die Partei „das Tarifkartell aufbrechen“, den Kündigungsschutz lockern und zudem den Einfluss der Gewerkschaften in Unternehmen durch eine Reform der Mitbestimmung beschneiden. Die FDP möchte eine „Option zur künftigen Nutzung der Kernenergie offen halten“, aber auch die erneuerbaren Energien weiter entwickelt sehen. Zudem erstrebt man eine „Änderung der deutschen Stammzellgesetzgebung“ und will die Grüne Gentechnik fördern. Naturschutz solle „wissenschaftlich begründet“ erfolgen, statt als „Deckmantel für Bevormundung missbraucht“ zu werden.


Die Linkspartei
Das gemeinsame Programm der Linkspartei aus PDS und der SPD-Abspaltung Wahlalternative Soziale Gerechtigkeit (WASG) mit den Spitzenkandidaten Gregor Gysi und Oskar Lafontaine war vor Erscheinen dieser Novo-Ausgabe noch nicht verabschiedet. Doch was die neue Formation will, ist aus dem vorläufigen Wahlprogramm der Linkspartei.PDS und dem Wahlmanifest der WASG schon zuvor ersichtlich. Man fordert ein „öffentliches Zukunftsinvestitionsprogramm“, Arbeitszeitverkürzungen, mehr öffentliche Beschäftigung und Arbeitsmarktprogramme sowie eine „deutliche“ Erhöhung der Spitzensteuersätze und der Erbschaftssteuer. Die WASG fordert zudem die konsequente Umstellung der Energieversorgung auf erneuerbare Energieträger und die „Reduzierung der gesamten Stoffströme“ (was immer man sich darunter vorzustellen hat). Sie will offenbar sozialdemokratischer als die SPD und grüner als die Grünen sein, den Sozialstaat sichern, sich als „Opposition gegen die herrschende neoliberale Politik“ präsentieren und „die Macht des Kapitals zurückdrängen“. Die Beteiligung an einer Regierung, die „Sozialabbau betreibt“, lehnt die WASG ausdrücklich ab.
Die PDS wirbt deutlich zurückhaltender für eine auf Erhöhung der Kaufkraft und Ausweitung der öffentlichen Investitionen gestützte expansive Wirtschaftspolitik, eine an der Wertschöpfung statt der Zahl der Beschäftigten bemessene Besteuerung der Unternehmen („Wertschöpfungsabgabe“), aber in jedem Fall auch für eine steuerliche Umverteilung „von oben nach unten“. Wie die SPD und die bürgerlichen Parteien plädiert die PDS daneben für die stärkere Ausrichtung des Aufbaus Ost auf die Förderung der Zukunftsbranchen. Zugleich möchte man für einen „sorgsamen Umgang mit der natürlichen Umwelt“ sorgen und „gentechnikfreie Zonen“ fördern. Die PDS will wohl links und grün sein, sich gleichzeitig aber auch künftig die Beteiligung an ostdeutschen Koalitionsregierungen sichern.
 

„Eine Art autistischer Sprachlosigkeit beherrscht diesen Wahlkampf.“



Wie man zu diesen Programmen im Einzelnen stehen mag, sei zunächst dahingestellt. Jedes ist nicht ohne weiteres auf einen Nenner zu bringen, denn es mangelt an klaren Prioritäten. Die Wahlaussagen beinhalten zu viel, darunter reichlich Widersprüchliches, und haben daher eher Wunschlisten- als Programmcharakter. Doch sie bieten fraglos reichlich Stoff für eingehende und heftige Auseinandersetzungen.


Demokratieverweigerung
Doch in der Öffentlichkeit werden die Programme kaum diskutiert. Es wird weder wahrnehmbar für sie geworben, noch gegen die Vorschläge der Konkurrenz inhaltlich fundiert Stellung bezogen. Eine Art autistischer Sprachlosigkeit beherrscht diesen Wahlkampf. Das gilt insbesondere für den Umgang mit der Linkspartei. Der SPD fällt nichts Besseres ein als der Hinweis, Gysi und Lafontaine hätten sich aus der Verantwortung gestohlen. Das ist unbestreitbar wahr, aber kein politisches Argument. Auch die anderen Parteien meiden die inhaltliche Auseinandersetzung mit den Ideen einer expansiven Konjunktur- und Umverteilungspolitik aus den 70er-Jahren, für die die Linkspartei steht. Während die Union zu zunehmend wüsten Beschimpfungen greift, begnügen sich die Grünen mit dem Vorwurf des Populismus – als seien nicht die politischen Vorschläge der Linkspartei das Problem, sondern, dass sie das Missfallen aufgreift, dass die rot-grüne Regierungspolitik hervorgerufen hat.
Ist es schiere Selbstgefälligkeit, oder sind es Müdigkeit, Furcht oder mangelndes Vertrauen in die eigenen Programme, die die Parteien dazu bewegen, sich der inhaltlichen Auseinandersetzung zu verweigern? Statt sich für die radikalere Konzeption einer Staatsverschlankung seiner Partei stark zu machen, streitet FDP-Generalsekretär Westerwelle seit Wochen mit der CDU/CSU nur über die Erhöhung der Mehrwertsteuer. Das weckt den Eindruck, ihm fehle das Engagement für die umfassendere liberale Vision, die das Programm der FDP vermitteln will und bestärkt die Wahrnehmung der Bürger, Politiker könnten nur über ödes Klein-Klein reden.
Die Aufbruchstimmung, die nach der Ankündigung vorzeitiger Neuwahlen für kurze Zeit spürbar war, lässt sich nicht besser ersticken als durch diese technokratische Schwundform des politischen Diskurses. Das gilt genauso für die Floskeln, mit denen die CDU-Führung (offenbar in einer späten Nachahmung des Schröder-Wahlkampfs von 1998) die Wähler betören möchte. „Was Arbeit schafft, muss in Deutschland wieder eine Heimat haben“, erklärte Angela Merkel in Mecklenburg-Vorpommern. Was dieser Satz neben der gefälligen Reihung der Wörter Deutschland, Arbeit und Heimat beinhalten mag, werden sich möglicherweise selbst ihre treuen Zuhörer fragen.
Die Verkürzung von Politik auf steuerliche Zahlenspiele und Werbeprosa zeigt: trotz der Beschwörung eines Neubeginns wurstelt die Politik so kopflos weiter wie bisher. Da redet man über mögliche Koalitionen, ohne den ersten Schritt getan zu haben, sprich: das eigene Programm nicht nur aufzuschreiben, sondern in der Öffentlichkeit inhaltlich zu begründen.
Deshalb lässt sich nur schwer erahnen, was eine neue Regierung, gleich welcher Parteienkonstellation, nach dem 18. September tun wird. Denn alles bleibt unausgesprochen, diffus und jederzeit aufkündbar. Vor allem fragt man sich, woraus ohne demokratische Auseinandersetzung über politische Ziele die politische Legitimation einer neuen Regierung durch den Souverän erwachsen soll. Dafür bedarf es geistig ambitionierter Debatten mit und zwischen den Bürgern. Doch dafür fehlt es der Politik wohl an Mut und Vorstellungskraft.
Durch die außerplanmäßige Auflösung des Bundestags wurde eine Periode des „kalten“ Wahlkampfs geschaffen, in der der Eintritt in den „heißen“ aus Rücksicht auf die noch ausstehenden Entscheidungen über die Verfassungsmäßigkeit der vorgezogenen Wahlen aufgeschoben wurde. Gerade sie bot die Chance, dem Wähler die grundsätzlichen Überlegungen hinter den jeweiligen Parteiprogrammen ausführlich zur Kenntnis zu bringen. Doch die ist auch dieses Mal nicht genutzt worden.

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