01.07.1999

Von der Unerträglichkeit des Gleichschritts mit anderen

Von Heinz-Norbert Jocks

Anmerkungen zum Fall Peter Handke. Von Heinz-Norbert Jocks

An dem Fall Peter Handke irritiert erstens, daß man jede seiner Aussagen nur noch kommentiert wahrnimmt. Zweitens, daß keiner derjenigen, die von ihm abgerückt sind, auch nur einen Moment lang darüber nachsinnt, was denn wohl plötzlich in ihn gefahren ist. Man tut so, als sei die Frage seiner ideologischen Schuld bereits geklärt. Nirgends das bei ihm zu lernende Spiel von Fragen: Warum sieht er die Dinge so quer? Was treibt ihn so, daß er sich, statt im friedlichen Pariser Vorort vor dem Fernseher die Hände in den Schoß zu legen, im bebombten Belgrad aufhält? Daß er das alles tut, dabei sein Leben riskierend, ist das wirklich damit schon vom Tisch, daß man ihn der pathologischen Vernarrtheit eines nur Irrenden verdächtigt? Ist es nicht vielmehr so, daß er die Konsequenzen seiner Kritik an der Macht des Sekundären zieht, und zwar auf eine sich nicht gerade schonende Weise?
Außerdem ist da noch zu klären, ob es überhaupt sein kann, daß er mir nichts, dir nichts so ins Fahrwasser falscher Wahrnehmung wie in einem schlechten Horrorfilm geraten ist, den er angeblich bedenkenlos gutheißt? Und zwar so, daß er nicht nur bejaht, was von Belgrad aus befohlen wird, sondern sich sogar – man höre, wie berichtet wurde – zum “serbischen Ritter” hat schlagen lassen? Seinem kurzem Brief an die Süddeutsche Zeitung – darin schrieb er, ihm müsse das “wohl im Schlaf passiert sein, im Sirenenklang”; mitbekommen habe er es “erst durch Ihre und andere deutsche Zeitungen” – wird jedenfalls ebensowenig Bedeutung beigemessen wie dem Widerruf seines Interviewversprechers vor laufender Kamera des Serbischen Fernsehens, der so ausgelegt wurde, als wöge das Schicksal der Serben in seinen Augen schwerer als das jüdische. Allenfalls über Handkes Nachtrag kurz informierend, tut man so, als änderte das an dem darauf aufgebauten Gesamturteil rein gar nichts. Das griffige Populärfeindbild Handke bleibt so unkorrigiert wie undifferenziert.

Der Einzelgänger

Trotz seiner Äußerungen zur Massenvernichtung der Juden ist auch keine Rede mehr davon, daß er die Ausrede von der Jugend als einer Zeit der Verführbarkeit nicht gelten läßt und dem Österreicher Kurt Waldheim nie verzieh, 1943 in Saloniki nur weggeschaut zu haben, “als die griechischen Juden – auf eigene Kosten! – mit ‘Kinder- und Gruppenermäßigung’ durch ganz Europa in den Vernichtungsurlaub geschickt wurden”. Fürwahr, ein Weg– oder Kleinredner des braunen Terrors ist er beileibe nicht, und deshalb die Frage, ob ihm nun wirklich die Sensibilität für die eskalierende, außer Kontrolle geratene Situation im Kosovo fehlt. Nein, wer ihm das vorwirft, hat seine Texte nicht gründlich genug studiert, denn sonst vernähme er, daß bereits in Abschied des Träumers vom neunten Land das “Unrecht der serbischen Führung, das faktische Entziehen der Autonomie des vor allem albanischen Kosovo” benannt ist. Wenn dieser Schriftsteller unterwegs ist, sich ein Eigenbild von der Lage zu machen, so sicherlich nicht als ein hinterhertrottelnder Partei-, sondern als ein skeptischer Einzelgänger, dabei gewiß mit dem Ich-Erzähler in Die Wiederholung sympathisierend, dem es seit jeher unerträglich gewesen war, “im Gleichschritt mit anderen, auch bloß einem einzigen, zu sein”. Sein gegengängiges Aus-der-Reihe-Tanzen, das einen anderen als den herrschenden Blick erst ermöglicht, gipfelt darin, daß er den Gleichklang der Medien pro NATO-Einsatz sowie deren spezielle Spiegelung laufender Ereignisse hinterfragt und sich vor einer Vereinnahmung von gleich welcher Seite verwahrt. Seine Sympathien für Jugoslawien rühren aus einer Zeit weit vor der Bombardierung, als der Schuhputzer von Split sein Werk so wunderbar verrichtete, daß der Erzähler von 1987 in ihm “den Heiligen der Sorgsamkeit” erblickte.

Der Tagträumer

Vor allem aus dem Erzählten in Die Wiederholung geht hervor, welche Spannbreite seine Liebe zu Jugoslawien eigentlich einnimmt. Ein wahrer Text, mit autobiographischen, der Geschichte des älteren Bruders der Mutter nachgehenden Spuren. Dort hören wir, wie dem Erzähler “das vormorgendliche, auf den ersten Blick so unwirtliche Industriegelände einen ganz anderen Eindruck von Arbeitern, ja überhaupt von Menschen” als von denen im eigenen Land gab. Da, in der vertrauten Fremde, deren Prägung sich laut Handke nicht einzig und allein aus der Grundverschiedenheit der “Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung” herleiten ließ, sah er sich auf der Schwelle zu einem Land, das, anders als das sogenannte Geburtsland, ihn “nicht beanspruchte als einen Schulpflichtigen, als Wehr-, Ersatz- oder überhaupt ‘Präsenz’-Diener, sondern im Gegenteil, sich von ihm beanspruchen ließ, indem es das Land seiner Vorfahren, und so, mit all seiner Freude, auch sein eigenes Land war.” Mehr noch, sich auf der Straße in den Passantenstrom einfädelnd, kam dem Zwanzigjährigen dieser weniger wie ein Strom, der ihn einlochte, denn wie “ein zum Staunen gemächliches Dahin” vor. Da die Straße frei von einer Mehrzahl war, so gab es auch “keinen in der Minderheit – nur ein vielfältiges und zugleich einhelliges Treiben” wie später nur noch in den Weltstädten. Gewiß, dies sind literarische Formulierungen, von einer Fiktion zeugend, die von einer guten Gemeinschaft tagträumt, dabei von einer Sprache wie dem Slowenischen angetan, das selbst für das Unscheinbarste einen Namen schafft.

Der Fragensteller

Wieder von Slowenien, seiner Geh-Heimat, handelt Handkes Abschied des Träumers vom neunten Land, jener zunächst in der Süddeutschen publizierte Essay, der, obgleich ebenso ultramedienkritisch wie die folgenden, weit weniger Staub aufgewirbelt hat. Im Grunde rollt er dort als einer der großen Fragensteller unseres Jahrhunderts noch einmal die Geschichte des auseinandergebrochenen Jugoslawiens in der Absicht auf, sie wieder zu öffnen. Vermutend, es habe sich einige Jahre nach Titos Tod “eine große Zahl, jedenfalls die Mehrheit, innerhalb der nördlichen Völker Jugoslawiens, den Zerfall ihres Staates von außen einreden lassen”, räumt er ein, daß “die serbische Übermacht in dem Staatsapparat die kleine slowenische Teilrepublik zwar vielleicht hier und da schikaniert oder übervorteilt oder niedergeredet, aber doch keinmal in der Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg gegen sie einen solchen Völkerrechtsbruch gesetzt habe, der es Slowenien erlaubte, von sich aus, wie es geschah, den historischen Staatsvertrag für nichtig geworden zu erklären”. Eine von Handke in Sloweniens Hinwendung zu Mitteleuropa zu Recht bedachte Gefahr liegt darin, daß die neuen Grenzen in Jugoslawien “nicht nach außen, viel mehr, bei jedem der jetzigen Einzelstaaten, nach innen wachsen, [...] bis es bald kein Land, weder slowenisch, noch kroatisch, mehr gibt, ähnlich wie im Fall Monte Carlo oder Andorra”. Vieles von dem, was Handke schreibt, ist von dieser berechtigten Angst vor dem Verschwinden von Eigenheiten eines Landes per Grenzziehung geprägt. Darauf, daß Eigenständigkeit keiner Eigenstaatlichkeit bedarf, hebt er ab, dabei wie Walter Benjamin die Grenze von der Schwelle insofern scheidend, als Übergänge ein Hin- und Herfluten von allem meinen, während jede Grenzziehung auf Ab- und Ausgrenzung zielt. Für mehr Schwellenbewußtsein plädiert Handke im Hinblick darauf, daß dann, wenn jeder die Pässe, Pforten und Durchschlüpfe sehen würde, es endlich “eine Geschichte ohne Totschlag und Krieg gäbe”. So jedenfalls ist es in dem Film Der Himmel über Berlin zu hören.

“Wenn Handke Serbien in Schutz nimmt, so hat das weniger mit Parteinahme als mit seiner Liebe zu einem ihm eben nicht nur vom Hörensagen bekannten Land zu tun.”

Der Phänomenologe

Wer die Texte, rund um Jugoslawien, aufmerksam liest, entdeckt eine aus Primärbegegnungen gewonnene Lehre vom gelebten Miteinandersein in einer multikulturellen Gesellschaft, in der die unterschiedlichsten Religionen, Lebensformen und Kulturen friedlich via Schwelle koexistieren. Er versteht auch, warum der Erzähler auf seiner ersten Serbien-Reise den Menschen, die er dort trifft, noch die dann wieder und wieder verneinte Frage stellt, ob das große Jugoslawien je neu erstehen könne. Auch bei ihm aber die Ahnung, daß die konkrete Möglichkeit dazu längst verspielt ist, und zugleich das bis in Zeitungsfotodetails bohrende Mißtrauen gegenüber der Berichterstattung seitens der Medien. Im Grunde haben wir es mit philosophischen, Paul Virilio verwandten Fragen aus der phänomenologischen Perspektive zu tun wie: Was können wir wissen, “wo eine Beteiligung beinah immer nur eine (Fern-)Sehbeteiligung ist?” Des Schriftstellers hartnäckiger Wille zu einem keine Einzelheit unter den Teppich kehrenden Zusammenhang arbeitet an keiner Leugnung “serbischer Untaten, in Bosnien, in der Krajina, in Slawonien durch eine von der ersten Realität absehende Medienkritik”.

Der Paradoxe

Im Gegenteil, er verlangt eine allen gleichermaßen gerecht werdende und alle ohne Ausnahme zur Verantwortung ziehende Klärung vor einem wirklich unabhängigen internationalen Gericht. Je mehr man sich in seine Texte vertieft, um so stärker die Einsicht, daß man sie grundfalsch rezipiert, sobald man sie nach einer eindeutigen Stellungnahme abklopft. Dieser poetische Blick entspringt einem paradoxen Geist, dessen einer Teil angesichts der Berichte und Abbildungen aus den serbisch-bosnischen Internierungslagern nicht anders kann, als in dem Volk der Serben, das “bisher in der Geschichte kaum je die Täter, oder Erst-Täter war, ein schwerschuldbeladenes, eine Art Kainsvolk” zu erblicken. Ein anderer Teil in ihm winkt ab, wenn es gilt, die Partei der Mehrheit zu ergreifen. Er kann buchstäblich seinen Nur-Fernseh-Augen nicht trauen, weil “allzu schnell für die sogenannte Weltöffentlichkeit nämlich in diesem Krieg die Rollen des Angreifers und des Angegriffenen, der einen Opfer und der nackten Bösewichte, festgelegt und fixgeschrieben worden waren”. Gegen diese “heutigen Voraus-Schuldzuweisungen” richtet sich Handkes literarische Gegenmaßnahme des Frei- und Widerfragens. Er hofft auf eine wenn auch nur in Nuancen anders geschriebene Geschichte, die über die gegenseitige Bildstarre der Völker hinwegrettet, damit ein Neben- und Durcheinander aller, auch jenseits der multikulturellen Hauptstadt, nicht nur machbar, sondern menschliches Bedürfnis ist.
Wenn Handke Serbien in Schutz nimmt, so hat das weniger mit Parteinahme als mit seiner Liebe zu einem ihm eben nicht nur vom Hörensagen bekannten Land zu tun. Auf eine “Ursachen-Ausforschung” drängend, sieht er die Aufgabe des Poetischen darin, “den Anstoß zum gemeinsamen Erinnern, als der einzigen Versöhnungsmöglichkeit” zu geben. Darum sein Appell, auch auf die Vor-Geschichte zu hören, verknüpft mit der Hoffnung, mit dem “Problem-Darstellen”, das dann doch beherzt werde, erst tauchten alternative, keine weiteren Grenzen errichtende, ja organisch gewachsene, statt erpreßte Friedenslösungen auf.
Einen erneuten Anlauf in diese Richtung unternimmt er mit seinem jüngsten Theaterstück Die Fahrt im Einbaum oder Das Stück zum Film vom Krieg. Darin treten drei Internationale nach dem Krieg auf. Der erste bekennt, in dem bekämpften nie ein “Land für sich”, sondern immer “bloßes Kriegsgebiet, Gelände, Frontlinie, Fluchttunnel, Massakerstelle, Fallschirmlandequadrat” gesehen zu haben, und ein weiterer, dieses ganze Land von Anfang an nur gehaßt zu haben.
Den Bogen seiner Kritik am internationalen NATO-Verhalten spannt Handke bis hin zu dem Satz “Euch also gehört die Sprache zu diesem Krieg”. Sein Engagement deckt sich da wohl mit der Figur des Griechen, der sich “seine Art Informationen auf Umwegen” verschafft, dabei den Internationalen vorhaltend, scheinheilig im Namen des Guten aufzutreten, ohne je einen “Hauch von Gutem in diesem Land hinterlassen zu haben”. Er, der von ihnen “nur wenigstens einmal einen anderen Ton” hören will, erinnert zudem an die Zeit, als Journalisten noch eine Instanz waren, “an die der einzelne in seiner Wut oder Not sich wenden konnte”. Wenn darin nicht doch noch etwas von einer Aussicht auf Umkehrung festgeschnurrter Verhältnisse steckt, unter denen auch die poetische Sicht der Dinge einmal ernst genommen sein wird! Zu wünschen wäre es jedenfalls seit langem.

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