01.07.2000
“Von der Kommode geräumt”
Hazel Rosenstrauch liest, empfiehlt und rät ab.
Kürzlich, als es noch kalt war, hatte ich Karel Čapeks Hordubal gelesen, neu aufgelegt in der tschechischen Bibliothek der DVA, Stuttgart. Es steh t mehr darin über Probleme der Auswanderung, die Funktionsweise ethischer Regeln, die Entstehung von Krankheit und Grenzen der Rechtsprechung, als je eine Universität wird lehren können. Davor hatte ich das vielgerühmte Buch von Edouard Glissant, Traktat über die Welt, erschienen bei Wunderhorn, lesen wollen, musste aber nach wenigen Seiten abbrechen. Es ist so grauenhaft schlecht übersetzt, dass der Inhalt verschlossen bleibt. (Auf meine um Erklärung bittende Nachfrage beim Verlag, der dafür immerhin einen Zuschuss kassiert und den stolzen Preis von DM 46,- verlangt hat, bekam ich keine Antwort.)
Viel Vergnügen hingegen hat die Lektüre von Ellen Ullmans Close to the Machine bereitet. Soweit ich den Überblick habe, ist dies eine der klügsten literarischen Bearbeitungen der sozialen, emotionalen und sprachlichen Implikationen des gegenwärtigen Wechsels von Kulturtechniken. Verbreitet wird es offenbar hauptsächlich über Mundpropaganda; Buchhändlern jedenfalls war der Suhrkamp-Band generell unbekannt – dies aber könnte auch an der Ausbildung selbiger liegen.
Die letzte Erkältung dieses kurz zurückliegenden Winters überstand ich eingetaucht in den feministischen Krimi von Maria Gronau, Weiberwirtschaft, (Fischer), der den Gesundungsprozess schon deshalb beschleunigte, weil die Kriminalkommissarin, allein erziehende Mutter mit frechem, selbstbewusstem Sohn, mein Bedürfnis nach Leitbildern stillte.
Als Schmarrn erwies sich Cathleen Schines Darwins Launen, in dem sich “zwei einstige Freundinnen ... auf den Galapagosinseln wiedertreffen”. Ich hatte es als Gegenindikation zu dem viel gepriesenen, bei aller Liebe und Leidenschaft doch sehr mit Männerschweiß behafteten Roman Die Glut von Sandor Márai gekauft; ich las und las weiter, weil ich dachte, dass irgendwann die Geschichte doch noch anfängt oder sich aus dem Geplapper herauskristallisiert, wartete aber vergeblich. Wäre das Buch nicht bei Hanser erschienen, hätte ich gedacht, es gehört zu jenen Büchern, die aus Quotengründen eingekauft, an freischaffende Übersetzer weitergereicht und gedruckt werden, ohne dass je ein kritisches Lektorenauge den Text inspiziert.
Hingegen habe ich mir etwa 25 Zeitungs- und Fachartikel über vergleichende Vergangenheitsbewältigung erspart, weil mir Die Kundin von Pierre Assouline, erschienen im stets zuverlässigen persona-Verlag, auf die Kommode geflattert ist. Der französische Autor geht den Fragen nach Schuld, nach Denunziation in Paris zur Zeit der Besetzung und der Verwirrung der Gefühle von heute notgedrungen realistisch nach (im wahren Sinne des Wortes: Er geht jener Frau nach, von der er annimmt, dann auch erfährt, dass sie während der Besetzung eine befreundete Familie angezeigt hat). “Nie werden wir mit dieser Geschichte zu Ende kommen”, beginnt die Aufzeichnung; nie wird es mir gelingen, die Lektüre solcher Geschichten gänzlich zu vermeiden, aber ich kann mir doch die sorgfältig erarbeiteten auswählen, die den etablierten Rastern zu entkommen versuchen.
Aus Holland kommt von Martin Schouten Marinus van der Lubbe. Eine Biographie. Geschrieben in den 60er-Jahren, wurde es 1999 vom Verlag Neue Kritik auf Deutsch herausgebracht, nachdem es in den Niederlanden und mittlerweile auch hier eine Debatte nicht nur über den “Verursacher des Reichstagsbrands”, sondern (vgl. Hannah Arendt-Institut, Elsner) auch über Widerstand von Einzeltätern gibt. Das Buch ersetzt trotz seiner ausführlichen Dokumentation nicht die Sichtung des historischen Materials, aber spannend ist es, die “Ordnung des Diskurses”, die der Schriftsteller dem Material gibt, mit der aggressiven Debatte rechthaberischer Wissenschaftler im Internet (http://www.zlb.de/projekte/kulturbox-archiv/brand/index.html) zu vergleichen.
Wem die Kraft oder Lust fehlt, ethische Abhandlungen mit biotechnologischen Perspektiven oder biotechnologische Abhandlungen ohne ethische Perspektiven zu lesen, dem empfehle ich Karl Markus Gauß’ Der Mann, der ins Gefrierfach wollte (erschienen bei Zsolnay) – viel Wissen, böse und zugleich klug, ohne Moralin und mit Standpunkt. Gauß ist kein Ritter irgendwelcher Wahr- oder Schönheiten, sondern scharf beobachtender Literat, der z.B. einen Zusammenhang zwischen abendländischer Verachtung des Körpers und dessen postmoderner Perfektionierung so unterjubelt, dass es eine Lust ist, darüber nachzudenken.
Der Hit der vergangenen Saison (da ich Neuerscheinungen meist erst lese, wenn genügend positive Empfehlungen zusammengekommen sind) war das bereits 1996 erschienene Buch von Irvin Yalom Und Nietzsche weinte (btb). Kern der Geschichte ist eine fiktive Begegnung zwischen dem kränkelnden Philosophen und Josef Breuer (heutzutage primär bekannt als Freuds Lehrer), ein vergnügliches, kluges Spiel mit und über Psychoanalyse und Philosophie, Erfindung und Historie, gewürzt mit tiefen und dennoch nicht schweren Gedanken.
Ziemlich schnell weggelegt habe ich Madame Zola und die Pariser Boheme von Evelyne Bloch-Dano. Trotz der viel versprechenden Einleitung und jenen Textpassagen, die ich vor dem Kauf überflogen hatte, entpuppte sich das Buch zu erkennbar als Dissertation. Man merkt, dass die Autorin vor allem zeigen muss, was sie alles weiß und gelesen hat. Im Kampf zwischen gehortetem und verdautem Material siegte die Nachweisnot; man sollte den Zwang, Dissertationen zu drucken, im Zuge der Universitätsreform abschaffen.
Zum Schluss und zu meiner Rechtfertigung erlaube ich mir anzumerken, dass ich die Bücher (mit einer Ausnahme) nicht als Rezensionsexemplare geschenkt bekam, sondern im Buchhandel auf eigene Rechnung gekauft habe.