01.02.2003
Vom Standpunkt des Zuschauers
Von Michael Wetzel
Peter Handke über Filme, Bilder und auch Bücher.
Peter Handke: Mündliches und Schriftliches. Zu Büchern, Bildern und Filmen
Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 2002, 166 S. (geb. m. SU), EUR 19,90
Peter Handke hat sich Zeit seines Lebens nie gescheut, Standpunkte zu beziehen. Vom legendären Auftritt in Princeton bis hin zum Engagement in der so genannten Jugoslawienfrage hat er aber auch gezeigt, dass Standpunkte nur Momentaufnahmen im Verlaufe eines Gedankengangs darstellen. In diesem Sinne ist Handke immer ein großer Geher gewesen, ein Wanderer durch die Wüsten der Wirklichkeit, auf die Berge und bis ans Ende der Welt, ohne von sich je zu behaupten, in allem bewandert zu sein. Es ist eher ein Wahr-Nehmen als ein Wissen der Wahrheit, was Handkes Schreiben bestimmt. Für ihn gilt, was rund hundert Jahre zuvor Rilke seinem Malte Laurids Brigge in den Mund legte, dass nämlich die Zeit der großen Erzählung vorbei sei und es vielmehr darauf ankomme, Sehen zu lernen.
Auf die Frage „Wohin gehen wir?“ gab Novalis die berühmte Antwort: „Immer nach Haus!“ Nur wenige kennen die Fortsetzung des romantischen Triebes, sich überall zuhause zu fühlen. Auch Handke stand seit Langsame Heimkehr im Verdacht der Heim-Suchung durch Heilsvorstellungen und Holismen, dabei ist er doch ebenfalls einer, der sich in der Fremde zuhause fühlt und sich daher gern zu jenen Orten flüchtet, an denen andere Welten, andere Wirklichkeiten zuhause einbrechen, und die er liebevoll altfränkisch Lichtspieltheater nennt. Handke war und ist ein großer Kinogänger, wie er den von ihm selbst übersetzten Roman Moviegoer von Walker Percy betitelte. Der neueste Sammelband von Reden und Aufzeichnungen zu Filmen, Malerei und neuerer Literatur dokumentiert diese Leidenschaft, die sich selbst noch im Sprechen über andere Bilder und Texte durchsetzt. Sicherlich, das neue Buch wurde als gewissermaßen sekundärer Verstärker von Handkes letztem Großroman Der Bilderverlust, also der Erzählung von den Bildern, die in keinem Film vorkommen, auf den Markt gebracht. Dabei darf aber nicht vergessen werden, dass Handkes Kinoleidenschaft eine alte Geschichte ist. Sie ist vielleicht so alt wie die Leidenschaft für Literatur, sie reicht auf jeden Fall zurück bis in die Zeiten seiner zweiten oder dritten Sozialisation im Dunkel der Kinosäle, in denen sich – anders als in den Büchern – das Andere als Wirklichkeit erschloss.
„Für Handke gilt, was rund hundert Jahre zuvor Rilke seinem Malte Laurids Brigge in den Mund legte, dass nämlich die Zeit der großen Erzählung vorbei sei und es vielmehr darauf ankomme, Sehen zu lernen.”
„Seelenspeise“ nennt Handke die Erfahrungen an den Orten, an denen ihm erstmals „so etwas wie ein Weltgefühl“, „ein Erwecken, ein märchenhaftes“, der Sinne, ein „Appetit auf die Welt“ widerfuhr. Schon früh wurde der so Gespeiste produktiv und drehte selbst Filme, wobei die Kleinformate der Kultursender nicht unbedingt die große Leinwand erreichten. Diesem Widerstand gegen das Massenmedium Film fühlt sich Handke auch in seinen neueren Texten verpflichtet. Am Beispiel der Avantgardisten Jean-Marie Straub und Danièle Huillet beschwört er – wie übrigens schon in seinen Texten von 1968 – ein Kino der Abschreckung, der radikalen Entfernung von dem, was im Amerikanischen Movies genannt wird. Es geht um ein anderes Kino, in dem die monomane, ja monströse Exhibition des dramatischen Sprechens sich an jene Dimensionen der Darstellung wagt, die prinzipiell undarstellbar bleiben, die das Bild „in der Brust bewahren“, die „vom Verschwinden und vom Tod“ erzählen, von den „Zwischenräumen“, wie Handke es auch eingedenk der verehrten „Hexenmeisterin“ Marguerite Duras formuliert, d. h. den frei gelassenen Räumen zwischen den Dingen, den Menschen, aber auch zwischen den Bildern.
Die Erinnerung an Duras, die Doppelbegabung im Medium der Literatur und der Kinematographie, unterstreicht auch das implizite Motto, das Handke im Vorwort seiner Textsammlung bei Horaz findet. Das berühmte ut pictura poesis schreibt nämlich einer ganzen abendländischen Tradition das Gleichnis von Malerei und Dichtung ins Merkbuch. Auch Handke hat dieses Gleichgewicht zu wahren gesucht und vor allem in der langjährigen Zusammenarbeit mit Wim Wenders um eine Übersetzung seiner Textwelten in entsprechende Bildwelten gerungen. Dass die dabei sich stellenden Probleme der Übertragung den sprachlichen nicht fremd sind, zeigt Handke in den zwei kleinen, seinem englischen und seinem französischen Übersetzer gewidmeten Beiträgen. Sie werden ergänzt um andere Publikationen über Maler und Dichter, die aber immer wieder aus der Perspektive des Kinogängers betrachtet werden: so wenn die Prosa von Hermann Lenz auf ihre unmetaphorische Erlebnisweise einer praktischen Bildmontage zurückgeführt oder Josef Jankers Autor-Leistung mit der Herstellung von Schnappschüssen verglichen wird.
Auch bei der Malerei, die Handke im Moment ihrer monumentalen oder zumindest materiellen Manifestationen z. B. in den Arbeiten Emil Schumachers oder Anselm Kiefers aufgreift, denkt Handke gern in Kategorien des Kinos, träumt er von „hollywoodbreiten“ Außeninstallationen der Werke Kiefers oder vom zwischenzeitlichen „Hin und Her“ zwischen Rede und Schrift in den Gemälden Schumachers, dem blow up kleiner Bildpunkte zu neuen Filmen, die dann im Kopf des Zuschauers laufen (wie er es auch am Beispiel des iranischen Regisseurs Abbas Kiarostami beschreibt). Immer wird dabei vom Standpunkt des Zuschauers aus argumentiert, anders etwa als in Patrick Roths ebenfalls vor kurzem erschienenen Frankfurter Poetikvorlesung, in der filmische Montagetechniken mit dichterischen Verfahrensweisen verglichen werden. Nicht, dass Handke, der selbst Regie geführt hat, nicht auch auf diesem Gebiet bewandert wäre, Film aber, in dem jedes Endbild zugleich als Anfangsbild weitergeht, ist für ihn Metapher eines Erweckens des Zuschauers, was umgekehrt aber heißt, wie Handke es mit den Worten des Filmkritkers Helmut Färber formuliert: „wachrufen die Selbsterkenntnis des Kunstwerks“.