01.05.2003
Vom 11. September bis zum Irakkrieg: Was ist geschehen?
Essay von Jennie Bristow
Was haben Osama bin Laden, die Taliban und der Irak gemeinsam? In der Realität nichts, aber in den Angstträumen des Westens spielen sie die Hauptrollen. Von Jennie Bristow
Aus der täglichen Flut der Nachrichten und Analysen aus dem Irak werden wir nicht unbedingt klüger. Das gilt für die aktuellen Ereignisse auf dem (Nach-)Kriegsschauplatz und erst recht für die Ursachen und möglichen Folgen der US-geführten Intervention am Golf. Und während wir staunend und verwirrt dem Gang der Dinge folgen, wird eine entscheidende Frage nicht gestellt: Wie sind wir eigentlich vom 11. September dahin geraten, wo wir nun sind? Warum folgte auf die großen Terroranschläge in New York und Washington ein Krieg gegen den Irak? Wie wurde aus dem reaktiven Krieg gegen den Terror des obskuren staatenlosen Al Quaida-Netzes Osama bin Ladens ein gezielter Feldzug gegen den Staat an Euphrat und Tigris? Wieso hat sich unsere um multilaterale Institutionen wie Nato, Europäische Union und Vereinte Nationen fest strukturierte Welt in eine verwandelt, in der die Vereinigten Staaten und Großbritannien alleine Krieg führen mussten?
Dazu gibt es verschiedene Hypothesen. Besonders gängig ist die Vorstellung einer Verschwörung der „Falken“ im Weißen Haus. Seit dem 11. September 2001 hätten bestimmte Mitglieder der Bush-Regierung gezielt den insgeheim schon lange geplanten Krieg gegen Saddam Hussein vorbereitet. Doch was wir seither erleben, ist alles andere als eine konzertierte weltpolitische Strategie Amerikas. Der Eindruck ist eher, dass alles zunehmend ungewollt und unkontrolliert aus dem Ruder gelaufen ist.
Um diese Entwicklung zu begreifen, muss man zunächst die Zeit vor dem 11. September betrachten. Der 11. September wurde zum Katalysator politischer Entwicklungen, die ohnehin bereits im Gange waren. Es ist in diesem Sinne durchaus passend, dass die Vereinigten Staaten sich heute genau dort befinden, wo sie schon vor einem Jahrzehnt waren: in einem nicht enden wollenden Konflikt mit dem Irak.
„Der 11. September wurde zum Katalysator der bestehenden Verunsicherung und Angst im Westen und rückte sie zugleich in den Mittelpunkt des politischen Geschehens.“
Kultur der Angst
Von Anfang an lag die wirkliche Brisanz des 11. September weniger im Terrorakt als solchem – so barbarisch und erschreckend er auch war –, sondern in den Reaktionen, die er im Westen auslöste. Die Anschläge auf New York und Washington waren nicht der Beginn einer großen Welle des Terrorismus, wie viele seinerzeit befürchteten. Es gab seither nur einen vergleichbaren Anschlag, nämlich am 12. Oktober 2002 auf Bali, und vergleichbar mit den Ereignissen vom 11. September war er wohl nur, was die Sinnlosigkeit des Terrorakts betraf, der sich dieses Mal nicht einmal gegen ein politisch bedeutsames Ziel richtete, sondern gegen junge westliche Touristen in einer Diskothek.
Der 11. September wurde zum Katalysator der bestehenden Verunsicherung und Angst im Westen und rückte sie zugleich in den Mittelpunkt des politischen Geschehens. In den Vereinigten Staaten wich die Empörung über den brutalen Angriff auf eines der wichtigsten Symbole amerikanischer Macht der Erschütterung, als die Nation sich in der Trauer um die Toten vereinte. An die Stelle des Vertrauens in die Fähigkeit des mächtigen Amerika, den nihilistischen Akten einer kleinen Gruppe von Attentätern die Stirn bieten zu können, trat die Furcht vor möglichen weiteren Angriffen. Auch der Patriotismus gewann vor diesem Hintergrund den Charakter einer Art nationaler Gemeinschaft der Verwundbaren, in der die Nation unter ihrer Fahne eher kauerte als hinter ihr stand. Innerhalb weniger Tage wurde die Kultur der Angst zum prägenden Motiv der Reaktionen auf die Anschläge – nicht nur in Amerika, sondern weltweit. Und als manche Kommentare in Europa und in den Vereinigten Staaten selbst die Frage aufwarfen, ob Amerika diesen Angriff nicht „verdient“ habe, war absehbar, worauf diese Debatte hinauslaufen würde.
Der 11. September wurde nicht als Affront gegen die Errungenschaften der entwickelten Welt und deren Werte betrachtet, sondern als schreckliche, aber unausweichliche Folge einer unsicheren Welt. Der Westen habe die Welt nach seinen Vorstellungen geformt und müsse dafür nun mit der Angst leben, war die Lehre, die aus dem Terrorakt gezogen wurde. Die Frage ist, warum die Gesellschaft für diese Interpretation der Ereignisse so empfänglich war.
Die Politik der Risikoangst
Die Kultur der Angst ist keine spontane Reaktion auf reale Gefährdungen. Der weltweiten Panik über mögliche Anschläge mit Milzbranderregern entsprach beispielsweise keine ernsthafte Bedrohung. Unsere Neigung zu Angst vor allen möglichen Dingen – von Kindesentführungen über Nahrungsmittel bis hin zu Mobiltelefonen – rührt nicht daher, dass das Leben riskanter geworden sei. In Wirklichkeit ist das Gegenteil der Fall.
Die Kultur der Angst ist ein Reflex auf die Schwäche der politischen Eliten und ihre Unfähigkeit, die Gesellschaft zu führen. Diese haben im vergangenen Jahrzehnt eine tiefgreifende Desorientierung erlebt. Der alte Gegensatz zwischen Links und Rechts, der sowohl die Innenpolitik als auch die internationale Ordnung prägte, besteht schon lange nicht mehr. Stattdessen haben wir eine Elite, die moderne kapitalistische Gesellschaften mit all ihren Problemen und Widersprüchen verwalten muss, ohne eine eigene Vision der Zukunft oder einen Gegner zu haben, für oder gegen den man sich organisieren könnte. Die politischen Eliten sind sich der Probleme der Gesellschaft schmerzlich bewusst, haben aber keine Konzepte für Lösungen. Das ist der Ausgangspunkt des Risikobewusstseins.
Risiko als soziale Kategorie repräsentiert Anpassung an eine problembeladene Welt. Sie impliziert, dass die Gesellschaft unlösbare Probleme aufweist, die sich nur verwalten lassen. Politiker betrachten sich in diesem Rahmen nicht mehr als Träger einer sozialen Vision, sondern als Verwalter des Risikos. Das Ziel ist nicht mehr die Lösung sozialer Probleme, sondern deren Eindämmung – oft durch immer weitreichendere Regulation individuellen Verhaltens.
„Risiko als soziale Kategorie repräsentiert Anpassung an eine problembeladene Welt.“
Diese Perspektive mag als Antwort auf eine angeblich endemisch krisenhafte Welt plausibel erscheinen, ist aber als Strategie problematisch. Es handelt sich hier um eine durchweg passive, negative Philosophie. Statt Menschen durch eine Vision oder ein Anliegen zu motivieren, beeinflusst man sie durch Verängstigung und erinnert sie ständig an ihre persönliche Verletzlichkeit. Doch sobald man die Risikovermeidung zur genuinen Aufgabe politischer Führung bestimmt hat, wird die Unfähigkeit der Politik, eine gänzlich sichere Welt zu schaffen, zum Gegenstand von Unmut. Das war eine harte Lehre aus dem Anti-Terror-Krieg.
Die amerikanische Regierung reagierte auf den 11. September mit dem Versuch, die Nation und die ganze westliche Welt um eine angemessene Antwort auf die Terrorangriffe zu vereinen. In Ermangelung positiver Empfindungen, auf die sie bauen konnten, spielten die Regierungen der Vereinigten Staaten und anderer westlicher Länder mit der Ängstlichkeit der Gesellschaft. Von neuen Sicherheitsvorkehrungen und -gesetzen bis zu großspurigen Verlautbarungen über den Kampf gegen die „Achse des Bösen“ manifestierte sich das Bestreben, die Menschen in der Furcht vor dem Terror zu vereinen und Schutzmaßnahmen zur Stärkung der eigenen Legitimation zu nutzen.
Doch das funktionierte nicht besonders gut. Statt Menschen einander näher zu bringen, verstärkte die Kampagne gegen den Terror nur gegenseitiges Misstrauen und vertiefte das Empfinden von Ohnmacht und Vereinzelung. Statt westlichen Politikern als Beschützer in einer verängstigten Welt neue Kraft und Legitimation zu verleihen, verstärkte diese Strategie nur die schon bestehenden Zweifel an der Legitimation der politischen Eliten.
Legitimationskrise
Dass sich die Kluft zwischen Bürgern und Politikern ständig erweitert, ist ein zentrales Phänomen unserer Zeit. Ohne gesellschaftliche Alternativen oder greifbare Zukunftsvisionen führte das vergangene Jahrzehnt in den westlichen Gesellschaften zu einer ständig fortschreitenden Entfremdung zwischen Bürgern und politischen Parteien.
In den USA wurde mit den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2000 und ihren Sonderbarkeiten bei der Stimmenauszählung die Korruption des politischen Systems zum zentralen Thema. Selbst heute gilt die Präsidentschaft von George W. Bush in manchen Kreisen als illegitimer historischer Zufall, der mit besserer Technologie gar nicht erst eingetreten wäre. Doch da die Demokraten weder überzeugende Themen noch Personen vorweisen können, bestehen für Bush-Gegner wenig Möglichkeiten der politischen Artikulation.
Auch in England folgte auf den spektakulären Wahlsieg Tony Blairs 1997 vier Jahre später ein dramatischer Einbruch und die niedrigste Wahlbeteiligung seit Jahrzehnten. Mangels überzeugender Alternativen blieb Blair mit seiner New Labour Party 2001 im Amt, doch noch nie waren die britischen Wähler so wenig begeistert an die Urnen gezogen. Im übrigen Europa ging zu gleicher Zeit die Sorge um, dass rechtsextreme Parteien aus der Entfremdung der Bürger vom politischen System profitieren könnten, während in Deutschland das Ende der ersten Amtszeit der rot-grünen Koalition von politischer Lähmung und ausgeprägter Unzufriedenheit der Wähler gekennzeichnet war.
Die Legitimation der politischen Eliten steht heute in der ganzen westlichen Welt auf dem Prüfstand. Da ihnen Konzepte oder Visionen fehlen, ist die Stimmabgabe für den einen oder anderen Parteienvertreter inzwischen ein arbiträrer Akt, dem keine wirkliche Identifikation mit Personen oder Programmen mehr innewohnt. Die Politiker wissen das und fürchten sich vor den Folgen. Gesellschaften, die von der „Nicht-in-meinem-Namen“-Haltung geprägt sind, wie sie in den Antikriegsprotesten zum Ausdruck kam, lassen sich schlecht führen. Zugleich macht jeder Versuch, Kohärenz durch Appelle an Angst und Unsicherheit zu stiften, die Lage nur schlimmer, weil das die Schwäche der Politik hervorhebt und letzten Endes auf sie selbst zurückschlägt. Die innenpolitische Botschaft im Krieg gegen den Terror lautete zusammengefasst: „Schützt Euch.“ Solche Botschaften können den Eindruck, dass die Politik unfähig ist, die Lage unter Kontrolle zu bringen, nur bestätigen.
Dieses Misstrauen ist einer der Gründe, weshalb die Kultur der Angst die Gesellschaft heute so nachhaltig prägen kann. Da denen „oben“ nicht zu trauen ist, sind die Individuen in ihrer Isolation für jede neue Panik – ob offiziell oder von Medien und selbsternannten Experten verkündet – empfänglich. Da auch die Politik inzwischen von Selbstzweifel und Zynismus durchzogen ist, besteht keine Instanz, die diesem Trend Einhalt gebieten könnte. Eine Gesellschaft, die sich fürchtet, dürstet zwar nach offiziellem Rat und Beistand, doch gleichzeitig traut man auch diesem nicht mehr.
Angst macht politische Führer nicht legitimer, sondern steigert nur das Misstrauen und die Unsicherheit der Öffentlichkeit. Vor diesem Hintergrund erklärt sich, wieso amerikanische und europäische Politiker die Antwort auf den 11. September 2001 schließlich auf der internationalen Bühne suchten.
„Da denen „oben“ nicht zu trauen ist, sind die Individuen in ihrer Isolation für jede neue Panik – ob offiziell oder von Medien und selbsternannten Experten verkündet –empfänglich.“
Nationales Interesse
Innerhalb weniger Wochen begann die US-Regierung mit der Bombardierung Afghanistans. Die Begründung war wenig stichhaltig, denn nach allem, was über die Urheber der Angriffe vom 11. September bekannt war, handelte es sich um im Westen ausgebildete Muslime ohne bedeutende Verbindung zu Afghanistan, und keine Organisation bekannte sich jemals zu den Anschlägen. Doch da eine angemessene Antwort auf den 11. September im eigenen Land sich nicht anzubieten schien, wurde eine Militärintervention am Hindukusch eingeleitet.
Der Krieg in Afghanistan war eine seltsame Sache. Seit Beginn der 90er-Jahre kompensieren westliche Regierungen mangelnde innenpolitische Legitimation durch die Projektion von Macht und moralischer Überlegenheit in anderen Regionen der Welt. Der erste Golfkrieg, die Intervention in Bosnien und schließlich der Kosovo-Krieg waren die Wegmarken dieser Politik der moralisch legitimen Intervention zum Schutz von Minderheiten vor vermeintlichen Tyrannen und Völkermorden. Triebkraft dieser militärischen Abenteuer war zwar nicht das Ringen um die Gunst der Wähler, aber auch kein offenkundiges strategisches oder politisches Interesse. Westliche Staaten nutzten die Welt eher als Bühne für die Bestätigung ihrer Legitimation – gegenüber der eigenen Bevölkerung, der Welt und in ihren Beziehungen untereinander.
Doch der Krieg in Afghanistan war komplexer. Die Welt stand hinter Präsident Bush im Krieg gegen den Terror, doch wo er stattfinden sollte, war nicht ohne weiteres ersichtlich. Afghanistan – ein geeigneter Kandidat und ein ungefährliches Ziel – bot sich als sinnvolles Terrain für die Reaktion auf den 11. September und einen Test westlicher Entschlossenheit an. Doch von Anfang an stand die bombastische Rhetorik in ausgeprägtem Widerspruch zum verhaltenen Charakter der militärischen Kampagne.
Schon wenige Tage nach dem 11. September äußerten viele Beobachter die Sorge, Amerika könne zu einem aggressiven Rachefeldzug ausholen, und wunderten sich, als dies dann nicht eintrat. Bush baute umsichtig internationale Unterstützung für die Intervention in Afghanistan auf, die von ausgeprägter Zurückhaltung und politisch korrekten Zielvorgaben gezeichnet war. Lebensmittelpakete regneten zeitgleich mit den Bomben auf das Land; die Beseitigung der humanitären Missstände unter dem Taliban-Regime wurde als zentrales Kriegsziel benannt; und man versicherte ohne Unterlass, es handele sich keinesfalls um einen Krieg gegen den Islam.
Zwar wurde der Verlauf der Kampagne militärisch von vielen Beobachtern als unbefriedigend eingestuft, doch unter PR-Gesichtspunkten präsentierte sie sich als angemessene Reaktion auf den 11. September, da sie als Maßnahme zur Eindämmung oder Beseitigung mörderischer Terroristen und Warnung an deren potenzielle Nachahmer gedacht zu sein schien.
Doch der Krieg war in Wirklichkeit eine chaotische Blamage. Bin Laden ließ sich nirgends auftreiben; die Taliban leisteten keinerlei Widerstand gegen den Feind. Was als Kampf gegen staatenlose Terroristen begann, sah daher wie ein westlicher Einsatz gegen ein wehrloses Land der Dritten Welt aus, nur um im nächsten Schritt auf so unergründliche Weise in eine humanitäre Mission zur Rettung der Afghanen zu mutieren. Diese Neubestimmung des Kriegsziels musste wie eine nachträglich beigebrachte PR-Aktion erscheinen.
Doch selbst im Kampf gegen die erbärmliche Bauernarmee der Taliban gelang es der US-Streitmacht, sich in sinnlose Scharmützel zu verstricken. Zudem kam es zu bedauerlichen Zwischenfällen wie dem Artilleriebeschuss von Hochzeitsgesellschaften. Achtzehn Monate später ist ein Ende dieses Krieges noch immer nicht in Sicht und der Verbleib bin Ladens ein Mysterium. Dabei wurden die ursprünglichen Kriegsziele so häufig revidiert, dass sie inzwischen keiner mehr kennt. Der Afghanistan-Krieg wurde somit sowohl praktisch als auch symbolisch zunehmend zum Problem. Das wäre eventuell nicht weiter von Belang gewesen, wäre da nicht auch noch der Irak.
Zurück an den Golf
Seit mit dem Krieg gegen den Irak der wohl unpopulärste westliche Krieg aller Zeiten begann, sind viele der Ansicht, die Vereinigten Staaten wollten, ungeachtet der Ergebnisse der UN-Waffeninspektionen, schon lange unbedingt diesen Krieg. Zweifellos gibt es in der US-Regierung Personen, die von einer Art Saddam-Obsession geplagt zu sein schienen. Auch Äußerungen Bushs dahingehend, man habe es „mit dem Typen zu tun, der meinen Vater umbringen wollte“, waren nicht gerade geeignet, den Eindruck zu mildern, dass die USA auf diesen Krieg geradezu versessen schienen.
Doch eines sollte klar sein: Was immer die amerikanischen Pläne hinsichtlich des Irak gewesen sein mögen, die US-Regierung hatte sicher zu keinem Zeitpunkt die Absicht, sich in einen Krieg zu stürzen, der den UN-Sicherheitsrat spalten, US-Gegnern weltweit Auftrieb geben, die Bevölkerung von der politischen Elite entfremden und viele amerikanische Soldaten das Leben kosten würde.
Der Irak-Konflikt in seinen ganzen Weiterungen ist nicht das Ergebnis einer strategischen Mission der amerikanischen Führung, sondern tiefgreifender und vielschichtiger Spannungen in der westlichen Welt, die sich an einem Punkt bündeln, der zufällig Irak heißt. Das hat weder mit der Mentalität George Bushs, der Bedrohung durch den Terror, noch mit den sanfteren Gefühlen der „alten“ Europäer für ihre arabischen Nachbarn oder den Prinzipien der neuen Friedensbewegung ursächlich viel zu tun. Es geht um hausgemachte Spannungen und Widersprüche im Westen selbst, die auf der internationalen Bühne ausgelebt werden.
Seit zwölf Jahren nimmt der Irak die Rolle des Schurkenstaats sans pareil ein. Schon 1991 war der erste Golfkrieg nach dem Zerfall der Sowjetunion ein Fokus für westliche Gemeinsamkeit gegenüber einer neuen, unsicheren Welt. Diese Einigkeit, die sich in Institutionen wie UN und Nato verkörperte, half, die Spannungen im westlichen Bündnis unter Verschluss zu halten und den internationalen Beziehungen eine gewisse Ordnung und Struktur zu geben.
„Der Irak-Konflikt in seinen ganzen Weiterungen ist nicht das Ergebnis einer strategischen Mission der amerikanischen Führung, sondern tiefgreifender und vielschichtiger Spannungen in der westlichen Welt, die sich an einem Punkt bündeln, der zufällig Irak heißt.“
Heute wird oft die Frage gestellt, warum man Saddam Hussein nicht schon damals erledigt habe. Diese Fragestellung verkennt, dass man Saddam Hussein, hätte es ihn seit 1991 nicht mehr gegeben, neu hätte erfinden müssen. Die zwölf Jahre lange Kampagne gegen Saddam Hussein mit Bomben, Sanktionen, Inspektionen und Kontrollen aller Art half den westlichen Regierungen, ihre Kohärenz zu wahren. Der Wunsch, Kontrolle auf eine als zunehmend ungemütlich empfundene Weltordnung auszuüben, milderte die Spannungen im westlichen Bündnis – und um Kontrolle auszuüben, benötigt man nun einmal ein paar Schurkenstaaten.
Damit haben auch die Dissidenten im UN-Sicherheitsrat kein Problem. Keine westliche Nation hat Interesse daran, den Irak zu verteidigen, Amerika zu brüskieren oder eine Spaltung im westlichen Bündnis auszulösen. Selbst die Antikriegs-Lobby – von Jacques Chirac bis zu den Demonstranten auf den Straßen der westlichen Welt – forderte lediglich mehr Zeit für Kontrolle mittels Diplomatie statt Krieg. Dass der Westen den Irak kontrollieren muss, ist also nach wie vor unhinterfragt. Doch viele andere Spannungen sind inzwischen in den Vordergrund getreten, die dafür sorgen, dass die Stabilität, für die das westliche Bündnis steht, erstmals ernsthaft in Frage gestellt scheint.
Man betrachte beispielsweise Frankreich. Was erhoffte sich Präsident Chirac von einem Streit mit den Vereinigten Staaten über ein paar Monate Waffeninspektionen mehr oder weniger? In der langfristigen Welt sehr wenig, doch kurzfristig hat die fragile Chirac-Präsidentschaft einen starken Ansehensschub für sich verbuchen können. Chirac gilt nun nicht mehr als eine zweitrangige Figur, der ein Korruptionsverfahren bevorsteht, die aber wenigstens besser ist als Le Pen, sondern als Held mit politischen Grundsätzen, der sich für das kleine Frankreich gegen die bösen USA stark macht. Die Haltung der deutschen Regierung unter Gerhard Schröder zur Irakfrage hat zwar kein vergleichbares Maß an patriotischer Begeisterung ausgelöst, dem deutschen Kanzler aber ebenfalls neue Legitimation in weiten Teilen der Bevölkerung verschafft.
Dass das in dieser Form auftreten kann, liegt daran, dass die USA selbst Zweifel an der Legitimität ihrer Dominanz in der unipolaren Welt hegen. Seit Jahren hat sich Washington auf die Stützung der UN für seine militärischen Abenteuer verlassen. Das Unbehagen gegenüber direkter unilateraler Ausübung amerikanischer Macht in der internationalen Arena war deutlich – deshalb auch der Aufstieg nicht-staatlicher Akteure und multilateraler Institutionen, welche die Weltereignisse inzwischen in ein undurchschaubares Netz nicht zurechenbarer Instanzen hüllen.
Deshalb auch hat Bush bis zuletzt die Vereinten Nationen mit Flehen, Drohgebärden und Kompromissen für den Krieg gegen den Irak gewinnen wollen. Nachdem die USA den Konflikt unter der Annahme, man werde die Verbündeten schon mit ins Boot holen, einmal in Gang gesetzt hatten, hatte man wenig Appetit auf einen Alleingang. Als es dann schließlich doch dazu kam, war der Grund ein rein negativer: Da man schon so weit gegangen war, gab es keinen Weg zurück.
Unter dem Eindruck ihres Unvermögens, auf den 11. September entschieden und erfolgreich zu reagieren, und nach der wenig beeindruckenden Intervention in Afghanistan, besann sich die US-Elite auf den Irak. Die USA haben sich zuerst nach außen gegen Afghanistan, dann wieder zurück in den innenpolitischen Antiterrorkampf und schließlich wieder nach außen gegen den Irak gerichtet, um gegen einen ausgemachten Schurkenstaat doch noch einen Erfolg verbuchen zu können. Dabei wurde die Schwäche und Substanzlosigkeit der amerikanischen Politik in einer Weise deutlich, die andere Regierungen ermutigte, sich Amerikas Schwäche parasitär für die eigenen kurzfristigen Ziele zunutze zu machen.
All das wird vor einer Öffentlichkeit ausgespielt, die von der Politik desillusioniert und von der Kultur der Angst geprägt ist. Auf jeden Versuch der Politik, so etwas wie Macht zu projizieren, reagiert diese Öffentlichkeit ablehnend, furchtsam und zynisch. Und die Medien, die viel für Gerüchte und Verschwörungstheorien, wenig hingegen für Analyse sorgen, boten ein treues Abbild der tiefen Verwirrung unserer Tage. So kamen wir vom 11. September dahin, wo wir nun sind.