01.11.1999

Verrohung der Sitten soll Einhalt geboten werden

Analyse von Kai Rogusch

Mit einem neuen Sicherheitskonzept wartet Innenminister Schily auf: Bürger sollen bei der Kriminalitätsbekämpfung mitwirken und helfen, auch "moralische Ordnungsverstöße" zu ahnden. Das Konzept stellt sich “demokratienah” dar, ist aber nicht anderes als eine Ausweitung der staatlichen Gewalt, sagt Kai Rogusch.

Am 17. November 1998 stellte Bundesinnenminister Otto Schily auf der Jahrestagung des Bundeskriminalamts (BKA) unter dem Titel ”Sicherheitsstrategien gegen das Verbrechen an der Schwelle des 21. Jahrhunderts” sein neues Sicherheitskonzept vor. Wie sein Amtsvorgänger Kanther sieht Schily als obersten Nutznießer seiner Kriminalpolitik den gefährdeten Bürger, dem ein Grundrecht auf Sicherheit zustehe. Der Bürger, so die Argumentation, habe einen Anspruch darauf, sich sicher zu fühlen und in seiner Lebensqualität nicht beeinträchtigt zu werden. Zur Erfüllung dieses Anspruchs sollen heute jedoch herkömmliche staatliche Mittel zur Unterbindung normwidrigen Verhaltens nicht mehr ausreichen. Nicht nur der Staat soll daher Kriminalität verfolgen und im Falle eindeutiger, konkreter Gefahren Normbrüche rechtzeitig unterbinden. Es sollen vielmehr alle gesellschaftlichen Kräfte mobilisiert werden, um Kriminalität bereits im Vorfeld eindeutiger Gefahren unschädlich zu machen.

Polizei ohne Grenzen

Um der Komplexität und Mannigfaltigkeit krimineller Phänomene beikommen zu können, müssen nach Ansicht Schilys die Ansatzpunkte staatlichen Handelns vielfältig sein. Betrachtet man seine Vorschläge, so wird deutlich, dass in alle möglichen polizeifremden Strukturen vorgedrungen und die Gesellschaft buchstäblich als Vorhof polizeilicher Arbeit vereinnahmt werden soll.
Schily geht davon aus, dass die Polizei nicht mehr nur in ihren traditionell engen Kompetenzen agieren soll. Kriminalpolitik erfordere vielmehr, dass die Polizei sich den zahlreichen Wurzeln abweichenden Verhaltens zuwendet und ein ”partnerschaftliches” Verhältnis mit allen Teilen der Gesellschaft eingeht. Die Polizei soll in diesem Sinne eine ”Sicherheitspartnerschaft” mit allen übrigen staatlichen Institutionen, Einrichtungen und Organisationen schließen und private Organisationen und Individuen in die polizeiliche Arbeit einbinden. Auch in der Kommunal-, Sozial-, Schul-, Familien-, Medien-, und Wirtschaftspolitik sieht Schily Ansätze für seine Kriminalpolitik: Er möchte sich die privaten Sicherheitsdienste zunutze machen und baut auf die aktive Mitwirkung der Bürger.
Geplant ist nicht nur die Einbeziehung polizeifremder Institutionen, Organisationen und Individuen in die polizeiliche Arbeit. Auch der Informationsaustausch unter allen Beteiligten soll so optimiert werden. Statt sich als abgeschlossene Einheiten voneinander abzuschotten, gelte es, auf allen hierarchischen Ebenen unseres Staates, das heißt auf kommunaler, Landes- und Bundesebene permanente Institutionen zu schaffen, die sämtliche Lager umfassen. Die bereits bestehenden kommunalen Präventionsräte und Landespräventionsräte reichen Schily dabei keineswegs aus. Um der gesamtgesellschaftlichen Kriminalprävention einen ”bundesweiten Impuls” zu geben, will er auch ”Spitzenvertreter aus Industrie und Wirtschaft, aus Medien-, Wohlfahrtsverbänden und Gewerkschaften, aus Politik und Verwaltung auf allen Ebenen in einem Deutschen Forum für Kriminalprävention” zusammenführen. Dadurch soll die Zusammenarbeit staatlicher und privater Kräfte nicht nur horizontal intensiviert, sondern auch die verschiedenen Hierarchiestufen miteinander verbunden werden.

Polizisten als Pädagogen

Wie der Staat mittels der Sicherheitspartnerschaft zwischen ”rechtstreuem” Bürger und Polizei immer weiter in kommunale Winkel vordringt, sieht man bereits heute. Die Einbindung polizeifremder Körperschaften in die polizeiliche Arbeit hat in Deutschland bereits vor Schilys Amtsübernahme begonnen. In Gummersbach beispielsweise hat die Kreispolizeibehörde in Zusammenarbeit mit der örtlichen Gesamtschule Ende April 1998 ein Projekt zur Gewaltvermeidung ins Leben gerufen, das zu Teilen aus einer anonymen Schülerbefragung entwickelt worden war. Mit der Bezeichnung ”SchuPo” versehen, umfasst das Projekt nunmehr die Jahrgangsstufen 5 bis 13. Die Projektgruppe ist je zur Hälfte mit Polizeibeamten und Pädagogen besetzt und arbeitet an den Themenfeldern Gewalt, Jugendkriminalität, Sucht und Drogen, sexualisierte Gewalt, Polizei und Gesellschaft. Die Eltern werden von der Projektgruppe über die Diskussion auf dem Laufenden gehalten. Durch Elternbriefe werden sie ferner gebeten, die übermittelten Inhalte durch familiäre Gespräche mit den Kindern zu unterstützen. Ergänzend findet eine Zusammenarbeit von Schule und Polizei in Lehrerkonferenzen und Fortbildungen, Fachschaften und Stufenkonferenzen statt. Mittlerweile erfolgen regelmäßig Besuche von Polizisten in Schulklassen und in Klassenpflegschaften, in denen Eltern und Schüler gemeinsam vertreten sind.

“Alle Beteiligten sollen “im partnerschaftlichen Zusammenwirken” mit der Polizei alltäglich “stark belästigende Verhaltensweisen, wie aggressives Betteln, Lärmen, Verunreinigungen des öffentlichen Verkehrsraums” und dergleichen unterbinden helfen”

Langzeitarbeitslose als Stadtwacht

Zu dem Eindruck, dass die Polizei sich immer mehr Augen und Ohren verschafft, musste man auch gelangen, als lokale Printmedien am 19. August 1998 vermeldeten: ”Iserlohner freuen sich über ihre Stadtwacht”. Ehemalige Langzeitarbeitslose wurden dort nach einer speziellen Ausbildung als so genannte ”Stadtwächter” tätig. Zwar haben sie keinerlei hoheitlichen Befugnisse, und sie sind unbewaffnet. Sie tragen aber Dienstkleidung und können jederzeit per Handy die Stadtverwaltung oder die Polizei anrufen, wenn ihnen irgendein Bürger verdächtig erscheint.

Vertrauen verschwindet

In den USA geht die vermeintliche Bürgernähe der Polizei mittlerweile so weit, dass sich die Polizei an der Sanierung von Wohnvierteln unter Mitwirkung der Bewohner beteiligt. Schily beabsichtigt nun, auch diejenigen Verhaltensweisen ins Visier zu nehmen, die bisher zwar mitunter als moralisch anstößig bezeichnet wurden, die aber noch nichts mit Kriminalität zu tun hatten. Der ”Verrohung der Sitten”, die Schily zu den ”mannigfaltigen und komplexen” Wurzeln verbrecherischen Verhaltens zählt – als Symptom eines schwindeligen Abstiegs, eines Abdriftens von immer mehr Bürgern in die Kriminalität – soll ”vor Ort” in der kommunalen Gemeinschaft ein Ende bereitet werden.
Mit dem Vorbild der bereits in einigen Städten bestehenden Gefahrenabwehrverordnungen, die Raufereien, Pöbeleien, Trinkgelage und das Essen im öffentlichen Raum bei Androhung von polizeilichem Einschreiten verbieten, fordert Schily von den Bürgern ein Mitwirken bei moralischen Ordnungsverstößen. Ein Mitwirken, wohlgemerkt – die Beilegung solcher moralischer Konflikte soll dem Bürger anscheinend nicht mehr obliegen.
Alle Beteiligten sollen ”im partnerschaftlichen Zusammenwirken” mit der Polizei alltäglich ”stark belästigende Verhaltensweisen, wie aggressives Betteln, Lärmen, Verunreinigungen des öffentlichen Verkehrsraums” und dergleichen unterbinden helfen.
Diese Zielsetzung wird von vielen Kommentatoren als ”Empowerment” bezeichnet. Die Beteiligung der Bürger erscheint ”demokratienah” und aus der spontanen kommunalen Gemeinschaft herrührend. In Wirklichkeit führt diese Politik jedoch zu einer unendlichen Ausdehnung des staatlichen Gewaltmonopols. Denn wer hat wohl in dieser schon fast intimen Partnerschaft zwischen Polizei und Bürger die dominierende Stellung inne?

Verpolizeilichung der Gesellschaft

Die Folgen dieser Einbeziehung der gesamten Bevölkerung in die Kriminalitätsbekämpfung sind nicht zu übersehen. Es verändert sich nicht nur die Beziehung zwischen Polizei und Bürger. Auch das Verhältnis der Bürger untereinander wird von dieser Verpolizeilichung sozialer Beziehungen nachhaltig beeinträchtigt. Denn in dem Maße, wie die Polizei in immer mehr gesellschaftliche Teilbereiche vordringt, den Bürger als erweiterten Arm der Polizei einbindet und damit in bürgerfreundlichem Gewand einer allgegenwärtigen Kontrolle Vorschub leistet, wird das Misstrauen zwischen den Menschen weiter geschürt und Mündigkeit, Autonomie und Selbständigkeit der Bürger untergraben.

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