01.05.2005
Vatikan – Weltmacht oder Moral-Tankstelle?
Analyse von Michael Fitzpatrick
„Katholizismus-light“ ist zu einer Zuflucht für westliche Politiker geworden, die ihre moralische und geistige Autorität verloren haben.
Nach den Feierlichkeiten zu Ehren von Papst Johannes Paul II. drängt sich die Frage auf, ob die katholische Kirche zu einem Hauptakteur in der neuen Weltordnung aufgestiegen ist.
Ich war in New York, als der Tod des Papstes bekannt gegeben wurde. Innerhalb weniger Stunden strömten Tausende von Menschen in die St. Patricks Kathedrale in Manhattan, wo Bischof Egan eine Gedenkmesse im Beisein des Bürgermeisters der Stadt, Michael Bloomberg, und weiterer Würdenträger sowie Angehöriger anderer Glaubensrichtungen abhielt. Derweil konkurrierten Politiker und Fachleute aller Art mit katholischen Priestern und evangelikalen Predigern, Rabbinern und Imamen am Flughafen um die Möglichkeit, dem toten Papst ihren letzten Respekt zu zollen.
Es schien, als hätte das Land, das einst von in Europa unterdrückten Protestanten gegründet wurde, nun seinen Frieden mit der lange Jahre in den Randbereich gedrängten Religion gemacht. Die amerikanische Elite (die so genannten WASPs:White Anglo-Saxon and Protestant / Weiße Anglo-Sachsen und Protestanten) stand dem Katholizismus traditionell ebenso feindlich gegenüber wie den diversen katholischgeprägten ethnischen Minderheiten aus Irland, Italien, Polen und Lateinamerika. Der Ku-Klux-Klan – in der heutigen Erinnerung als eine rassistische Organisation bekannt – war bis in die 20er-Jahre des letzten Jahrhunderts hinein aufgrund seiner radikal antikatholischen und antisemitischen Ausrichtung (eine populistische Version der WASP-Ideologie) eine einflussreiche Massenbewegung. Nun zollte Billy Graham, eine der führenden Autoritäten des evangelikalen Protestantismus, in einer bewegenden Rede Johannes Paul II. seinen Respekt (in ähnlicher Weise haben amerikanische christliche Fundamentalisten gemeinsame Sache mit dem amerikanischen Judaismus bezüglich der Unterstützung des Staates Israel gemacht).
In England symbolisierte die verschobene Hochzeit von Prinz Charles und Camilla Parker-Bowles die Umkehrung des seit den Tagen Heinrichs VIII. und der protestantischen Reformation überaus angespannten Verhältnisses zwischen der britischen Monarchie und dem Vatikan. Die Kontroverse über die Verbindung einer katholischen Geschiedenen mit dem britischen Thronfolger und Chef der Church of England verdeutlichte den institutionalisierten Antikatholizismus des britischen Staates. In den vergangenen 400 Jahren prägte ein ausgeprägter Antikatholizismus die englische Elite. Er diente als Basis für die Mobilisierung von Massen, angefangen bei den Gordoner Unruhen in den 80er-Jahren des 17. Jahrhunderts bis hin zu den sektiererischen Erhebungen, die in zahlreichen englischen und schottischen Städten als Reaktion auf die massenhafte Einwanderung irischer Katholiken im 19. und 20. Jahrhundert erfolgten.
Die konservativen Tories konnten durch ihre lokalen Kampagnen gegen katholische Schulen in Städten wie Liverpool Unterstützung innerhalb der Bevölkerung gewinnen. Die Wahlerfolge der Labour Party seit den 20er-Jahren des letzten Jahrhunderts waren indes nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass es gelungen war, irische Katholiken mit englischen Religionsgegnern und Gewerkschafter mit Sozialisten zu vereinen. Sektiererische Spannungen übten bis lange in die Nachkriegzeit einen signifikanten Einfluss auf die englische Politik aus.
Doch allem Anschein nach ist der Katholizismus ganz plötzlich und unerwartet wieder modern und zu einer respektablen Religion geworden. Im Zuge der öffentlichen Trauer um den Papst rückte sie sogar in den Blickpunkt internationaler Aufmerksamkeit. Das ist erstaunlich, bedenkt man, dass sich der Katholizismus als die vorherrschende Religion des europäischen Mittelalters seit dem Aufkommen der modernen kapitalistischen Gesellschaft im Niedergang befand. Als die bürgerlichen Revolutionäre 1789 in Frankreich versprachen, den letzten Adligen mit den Eingeweiden des letzten Priesters erdrosseln zu wollen, strebten sie an, sowohl die autokratische Monarchie als auch die etablierte Kirche zu Fall zu bringen. Das Ziel, Kirche und Staat zu trennen, wurde am erfolgreichsten in den USA umgesetzt (und hielt sich beständig trotz zahlreicher reaktionärer Gegenkampagnen).
Während der Geist des Protestantismus mit dem kapitalistischen Unterfangen leichter zu vereinbaren war, wurde die katholische Kirche immer tiefer in Kämpfe mit den Ideologien der modernen Gesellschaft hineingezogen. Aus der Ära der Kriege und Revolutionen, die ihren Höhepunkt in der Mitte des 20. Jahrhunderts fand, ging sie stark geschwächt hervor. Die Kirche war diskreditiert durch ihre Kollaboration mit den diktatorischen Regimen der Welt und vor allem durch ihre beschämende Komplizenschaft mit den Nazis. Obwohl die Bewegungen des sozialen Katholizismus in Europa und der Befreiungstheologie in Lateinamerika das Ansehen der Kirche bei den Gläubigen wieder stärkten, blieben starke interne Meinungsverschiedenheiten bestehen. Das Bevölkerungswachstum in den Ländern der Dritten Welt mag den Rückgang der Kirchgänger in der westlichen Welt zahlenmäßig ausgeglichen haben; der globale Status der Kirche war jedoch beim Antritt des letzten Papstes im Jahr 1978 auf dem Tiefpunkt angelangt.
„Die Wege westlicher Politiker zu neuer moralischer Autorität führen nach Rom.“
Die katholische Kirche hat vom Zusammenbruch der Sowjetunion und der durch den Kalten Krieg definierten Weltordnung profitiert. Zehn Jahre nach Amtsantritt des Papstes stellte der Niedergang des Kommunismus die inhaltliche Erschöpfung aller alten Ideologien der kapitalistischen Welt bloß. Die westlichen Eliten proklamierten zwar den Sieg des freien Marktes, spürten aber den steigenden Bedarf an moralischer und spiritueller Autorität. Sie suchten nach Mechanismen, mit denen sie die destruktiven Auswirkungen des freien Marktes auf die Gesellschaft eindämmen zu können glaubten. In einer Welt, die sie als zunehmend unsicher empfanden, begaben sie sich wieder auf die Suche nach traditionellen Glaubensgrundlagen und nach Bestätigung – und beschritten somit den Weg nach Rom und zu Johannes Paul II.
Der Verfall der traditionellen Institutionen des britischen Establishments – der seinen deutlichsten Ausdruck im Niedergang des Hauses Windsor und der Church of England fand – bereitete dem zunehmenden Einfluss der katholischen Kirche in Großbritannien den Weg. Ich erinnere mich noch daran, wie es war, als die führenden konservativen Politiker Anne Widdecombe und John Selwyn-Gummer Anfang der 90er-Jahre dem Anglizismus den Rücken kehrten und der katholischen Kirche beitraten. Mein Vater, zeit seines Lebens Unterstützer des irischen Republikanismus, der Labour Party und der katholischen Kirche, sagte damals: „Wenn noch mehr von diesen Tories beitreten, trete ich aus.“ Natürlich hat er das nie getan.
Als Ian Duncan Smith und Charles Kennedy Anfang dieses Jahrhunderts die Führung der konservativen bzw. liberalen Parteien übernahmen, bemerkte ein Kommentator, dass nunmehr zweieinhalb der drei Parteivorsitzenden Katholiken seien – bei dem Halben handelte es sich um Tony Blair. Dies war eine nicht vorhersehbare und während großer Teile der englischen Geschichte undenkbare Entwicklung. Aber mit der Lösung der Irlandfrage durch den Friedensprozess in Nordirland wurde ein wichtiges Hindernis für die katholische Assimilation überwunden.
In seinen ersten Jahren als Papst nahm Johannes Paul II. die Liberalisierungstendenzen zurück, die sich aus dem zweiten Vatikanischen Konzil unter der Leitung von Papst Johannes XXIII. Mitte der 60er-Jahre ergeben hatten, und unterdrückte rücksichtslos die Befreiungstheologen, insbesondere Hans Küng und Edward Schillebeeckx. Seine Haltung brachte er in einer Reihe von Schriften und Enzykliken klar zum Ausdruck: erzkonservativ im Hinblick auf Dogma und Moral (vor allem Sexualmoral), jedoch politisch liberal durch seine Kritik an finanzpolitischen (Verschuldung der Dritten Welt) und militärischen (Invasion im Irak) Exzessen der westlichen Mächte.
Die westliche Politik konnte mit der Kritik des Papstes an ihrer Militärpolitik in der Regel immer gut leben, zumal sie keinerlei praktische Konsequenzen hatte. Hocherfreut war man zumeist über die päpstliche Propagierung einer von Gott gesandten orthodoxen Moral. Schon der ehemalige US-Präsident Dwight Eisenhower hatte einmal bemerkt: “Unsere Regierung macht keinen Sinn, wenn sie nicht in tiefem religiösen Glauben verankert ist. Und es ist mir egal, in welchem.“
„Es ist eine große Ironie, dass der Papst die moralische Autonomie der Gläubigen akzeptiert, während seine liberalen Kritiker tatsächlich die Unterwerfung des Einzelnen unter das Diktat des ‚safer sex‘ fordern.“
Das von den Medien geleitete und begleitete öffentliche Massentrauern um Johannes Paul II. lieferte ein übertriebenes Bild von der Stärke des heutigen Katholizismus und verschleierte die tiefer liegende Labilität der Kirche. Während der Jahre des Pontifikats Johannes Pauls II. tobte ein beständiger Kampf zwischen Modernisierern und Traditionalisten. Es ging u.a. um Fragen des Zugangs von Frauen zum Priesteramt und um das Zölibat. Zusätzlich angeheizt wurden die Kontroversen durch die scheinbar endlosen Skandale wegen sexuellen Missbrauchs durch Kleriker.
Allein die Gebrechlichkeit des Papstes hatte die Konflikte während der letzten fünf Jahre etwas gedämpft, so dass damit zu rechnen ist, dass sie nun mit neuer Stärke aufbrechen werden. Die Tatsache, dass Johannes Paul II. eine Reihe konservativer Kardinäle ernannt hat, um die eigene Position zu stärken und eine konservative Nachfolge zu sichern, spricht dafür, dass eher eine Periode verstärkter interner Kämpfe bevorsteht als eine der Stabilität.
Es existiert ein unauflösbarer Widerspruch zwischen den Anforderungen, die die westlichen Eliten einerseits und die gläubigen Massen andererseits an die Kirche stellen. Während die Mächtigen der Welt einen neuen Papst nach altem Zuschnitt wollen – einen „Johannes Paul III.“: autoritär, dogmatisch, orthodox –, wünschen sich die meisten Katholiken angesichts der universellen Ablehnung doktrinärer Orthodoxie im Bereich der Sexualmoral einen Papst, der in moralischen und politischen Fragen liberaler ist.
Praktisch die einzige Kritik, die an Johannes Paul II. geäußert wurde, betraf seine Weigerung, für die Nutzung von Kondomen zum Schutz vor Aids zu werben. Ihm wurde vorgeworfen, damit zur Verbreitung der Krankheit beigetragen zu haben. Doch dieser Vorwurf geht ins Leere: Warum sollte man erwarten, dass sich Leute, die problemlos das päpstliche Verbot des außerehelichen Geschlechtsverkehrs ignorieren, um die Haltung des Papstes zur Benutzung von Kondomen scheren? Wenn Millionen von Katholiken dennoch keine Kondome benutzen, um sich vor HIV zu schützen, so muss das andere Gründe haben als den Gehorsam gegenüber dem Papst. Liberale im Westen glauben, die Lösung des HIV-Problems in den Entwicklungsländern könne durch ein positives Votum des Papstes hinsichtlich des Gebrauchs von Kondomen herbeigeführt werden. Es ist eine große Ironie, dass der Papst zumindest die moralische Autonomie der Gläubigen akzeptiert, während seine liberalen Kritiker tatsächlich die Unterwerfung des Einzelnen unter das Diktat des „safer sex“ fordern.
„Wie viele Divisionen hat der Papst?“, soll Stalin einst gefragt haben. Das Begräbnis Johannes Pauls II., dessen Kombination von autoritärer Herrschaft und Begeisterung der Massen einiges mit dem Stalinismus gemein hat, suggerierte, der Papst verfüge über erhebliche Kräfte. Doch die Millionen, die sich ins Trauergetümmel um den Kirchenpromi stürzten, sind nicht die Kader einer militanten Bewegung mit festem Glauben an die Erlösung. Sie sind atomisierte Bürger einer modernen Welt, die sich für einen Moment in oberflächlicher Weise einer gemeinsamen emotionalen Erfahrung hingeben. Schon morgen werden sie – und mit ihnen die politischen Führer, die sich zum Papstbegräbnis einstellten – erkennen, dass die Doktrinen des Katholizismus keine Lösungen für irdische Probleme im neuen Jahrtausend bieten.