30.08.2017

USA aus deutscher Sicht – was kann der Frosch vom Wal lernen?

Essay von Gerhard Bachleitner

Titelbild

Foto: Nout Gons via Pexels / CC0

In Deutschland dominieren Ökologie und Grenzendenken, in den USA Zuversicht und Gestaltungswille. Besonders deutlich zeigt sich das beim Thema Verkehr

Amerika ist ein Land, in dem aus deutscher Sicht, das heißt nach deutscher Ideologie, alles falsch gemacht wird, das aber als Siegermacht zweier Weltkriege seinerzeit auch die Rolle eines Über-Ichs gespielt hat, dessen Autorität Entlastung geboten hat.

Die Ambivalenz der Vereinigten Staaten als Vorbild und Zerrbild muss man sich immer wieder neu klarmachen, und man muss sich den Gedanken aus dem Kopf schlagen, das Land sei dem unsrigen als westlich-demokratische Gesellschaft weitgehend ähnlich, nur größer. Der Unterschied zwischen Deutschland und den USA ist nicht in erster Linie quantitativer, sondern qualitativer Natur. Es waren auch grundsätzlich andere Faktoren bei der Staatsentstehung am Werke.

„Der Unterschied zwischen Deutschland und den USA ist nicht in erster Linie quantitativer, sondern qualitativer Natur.“

Das Anderssein kann man in zwei Richtungen anschauen und auslegen. Ich kann in Amerika mit deutschen Augen auf das Land blicken und ich kann dort mit amerikanischem Blick auf Deutschland zurückschauen. Erstere Perspektive ist so gewöhnlich, dass sie medial allenthalben präsent ist und auch keine nennenswerte intellektuelle Anstrengung erfordert. Darauf können wir hier weitgehend verzichten. Stattdessen soll im Folgenden eher die zweite Perspektive eingenommen und der in Deutschland gerne erhobene moralische Alleinvertretungsanspruch relativiert werden. Man kann in Europa vorgebrachte ökologische Bedenken für gerechtfertigt halten – und politisch trotzdem als Irrweg erkennen und ablehnen. Man kann den USA neidisch-missgünstig ihren exorbitanten Ressourcenverbrauch vorhalten – es ändert nichts daran, dass dieser Lebensstil komfortabel und wünschenswert ist und als Zeichen von Kultur und gelebter Demokratie gelten kann.

Amerikanische Naturbeherrschung vs. deutsche Zivilisationsaversion

Seit Mitte der 1970er-Jahre gilt in Europa und besonders in Deutschland eine fortschrittsorientierte Moderne, dich sich u.a. aus dem Positivismus des 19. Jahrhunderts speist, als obsolet und erledigt. Man gibt sich mindestens postmodern, füllt das Sinndefizit mit einer grünen Ersatzreligion aus und verwendet die so sakral aufgeladene Natur als Waffe gegen den Menschen. Jedweder menschlichen Lebensregung und allen menschlichen Bedürfnissen wird von den staatlichen Organen kraft der mittlerweile auch juristisch verankerten Ökodoktrin eine stets zu schützende (oder vielmehr in ihrem gerade angetroffenen Zustand zu konservierende) Natur entgegengehalten. Diese menschenfeindliche Weltanschauung verdichtet sich in mehreren Grundüberzeugungen:

Verkehr ist per se von Übel und das modernste und effektivste Verkehrsmittel, das Flugzeug, ist am meisten von Übel. Natürlich sind auch Flughäfen und deren Ausbau von Übel.

  • Bewegung ist überhaupt von Übel.
  • Jede Naturveränderung ist von Übel – obwohl Natur in Wahrheit gerade das ist, was sich stets (schon von sich aus) ändert.
  • Jede Verbesserung der Natur – derjenigen, die man etwa als Nahrung zu sich nimmt, und derjenigen, die man selbst ist – ist strafwürdig.
  • Der Mensch ist die Erbsünde der Natur.

Auf kommunaler Ebene lässt sich dieses Vorgehen jederzeit studieren. Beispielsweise wurde vom Bündnis Gartenstadt München im Oktober 2012 formuliert: „Baumrecht vor Baurecht!“, d.h., es werden Mieter gegen Bäume ausgespielt. Und die Lokalbaukommission versichert: „Wir kämpfen um jeden Baum!“Ein solches Denken hat etwas Inhumanes, gar Wahnhaftes.

„Man gibt sich mindestens postmodern, füllt das Sinndefizit mit einer grünen Ersatzreligion aus und verwendet die so sakral aufgeladene Natur als Waffe gegen den Menschen.“

In Amerika hingegen fühlt man sich nicht nur frei von der Bürde der europäischen Geschichte, wie etwa Alexis de Tocqueville in seinem Klassiker „Über die Demokratie in Amerika“ ausgeführt hat, sondern auch frei gegenüber der Natur. „Die amerikanische Landschaft kennt kein Eremitentum“, schrieb der deutsche Philosoph Gotthard Günther. „Sie ist dem Menschen nämlich nicht mythisch überlegen. Der letztere, wo immer er auch in dieser Welthälfte auch ist, steht von vorneherein auf gleicher Stufe mit ihr. In ihr wirken keine überirdischen Kräfte, die fordernd oder drohend an ihn herantreten könnten.“ 1

Dass eine solche Haltung ambivalente Züge trägt, wird man jederzeit zugestehen. Gotthard Günther: „Der emotionale Abstand gegenüber der Individualität der Landschaft ist die psychologische Voraussetzung des rücksichtslosen Raubbaus, der mit dem Boden, seiner Tierwelt und seinem Waldbestand getrieben wird... Europas Forstkultur, die ein sehr enges seelisches, beinahe mythisches Verhältnis zum Walde voraussetzt, ist fast unbekannt (Ausfluss kühl rechnender, rationaler Erwägungen; sentimentale Motive spielen keine Rolle).“ Aber es bleibt doch wichtig, einen zur überkommenen europäischen Weltanschauung alternativen und kontrastiven Lebensentwurf als autark und in sich stimmig wahrzunehmen: „Man fühlt sich frei von bestimmten kulturellen Verpflichtungen, die der verantwortungsbewusste Europäer heute wie einen stumpfen Druck auf sich lasten fühlt. Unfassbare Bedrohungen, die den Menschen in der Alten Welt umgeben, haben sich in der amerikanischen Atmosphäre auf eine unbegreifliche Weise verflüchtigt. Das Leben zeigt ein leichtes und heiteres Gesicht und eine ungekünstelte Simplizität, in der ‚Probleme‘ etwas lächerlich wirken.“ 2

„Schon der Aufbruch wäre verdächtig. Das würde Energie erfordern und hätte Bewegung zur Folge – zwei Todsünden für die deutsche Ideologie.“

DiscoveryEin Raumschiff dieses Namens wird wieder einmal gestartet. Wie hieße ein Raumschiff, wenn es eine deutsche Raumfahrt (noch) gäbe? (Sie wurde ja nach dem Kriege von Amerikanern zwangsumgesiedelt). Könnte es „Entdeckung“ heißen? Natürlich nicht, denn das wäre Erinnerung an das Zeitalter der Entdeckungen im 15./16. Jahrhundert, das zugleich Eroberung und Kolonialismus bedeutete. Die deutsche Nachkriegsideologie will nicht mehr entdecken. Sie weiß alles schon (besser). Im Fernsehen ein „Entdeckungskanal“? Undenkbar. Hollywood liefert ihn – auf Englisch.

Überhaupt, schon der Aufbruch wäre verdächtig. Das würde Energie erfordern und hätte Bewegung zur Folge – zwei Todsünden für die deutsche Ideologie. „Wissen Sie nicht, dass Sie einzementiert sind in einen Zuteilungs- und Umverteilungs- und Berechtigungsstaat? Der freie Regung lähmt oder stört. Wie können Sie da an eigene Bewegung denken?“ 3 In der Tat, schon der Urknall war ein Verbrechen – gegen die „Harmonie der Natur“.

Verkehr

2011 warb ein Plakat für das Verkehrsmuseum München allen Ernstes mit dem Bild eines Kindes auf einer Schildkröte und der Überschrift „München mag’s mobil“. Die fortschrittsskeptische Einstellung ist offensichtlich. Die deutsche Öko-Ideologie prangert an Amerika natürlich auch die autofreundlichen Städte an. Dabei wird dort das viel stärkere Verkehrsaufkommen durchaus gut bewältigt (weil der Wille da ist). Und das wegen der flächenmäßigen Erstreckung sehr viel größere und damit teurere Straßennetz ist in wesentlich besserem Zustand als das weniger aufwendige deutsche, weil dieses, auch durch Bevorzugung falscher Verkehrsalternativen, bewusst vernachlässigt und mit abwegigen Strukturvorgaben (z.B. unterirdisch statt oberirdisch) überfrachtet wird. In Amerika müssen Straßenzüge oder Stadtviertel auch nicht durch teure Lärmschutzwände abgeschottet werden, weil fast jeder am motorisierten Verkehr Anteil hat und nehmen muss und nicht anderen missgönnt, worauf er selbst Anspruch erhebt.

Die Atmosphäre wirkt immer noch lässig-großzügig, während die deutsche Rückbauerei und Selbststrangulation, die ja angeblich zur Humanisierung der Stadt unternommen wird, nur einengend wirkt. Das Rechtsabbiegen an Kreuzungen bei fehlendem Querverkehr, das in Deutschland wegen angeblich zu dichten Verkehrs kaum möglich ist (Ausnahme Kreuzungen mit „Grünpfeil“), funktioniert hier problemlos und erleichtert den Verkehr spürbar. Nachts werden überdimensionierte Linksabbiegerregelungen durch ein blinkendes Rotlicht der Entscheidung des Einzelnen zurückgegeben.

„Die Atmosphäre wirkt immer noch lässig-großzügig, während die deutsche Rückbauerei und Selbststrangulation, die ja angeblich zur Humanisierung der Stadt unternommen wird, nur einengend wirkt.“

Höchst sympathisch ist natürlich das Fehlen von Fahrradwegen; an den Boulevards fehlen gelegentlich sogar die Fußwege. Ich bin auf einem solchen Boulevard regelmäßig mit dem Fahrrad unterwegs, weil es in diesem Falle die einzige direkte Verbindung zum Ziel ist, und finde mich auf einer in jeder Richtung vierspurigen Strecke mit 45 mph Tempo. Aus deutscher Sicht wäre dies der blanke Wahnsinn, wesentlich schlimmer als auf dem Mittleren Ring in München, der natürlich eine Radwegbenützungspflicht hat. Hier aber gibt es nur neben wenigen größeren Rechtsabbiegerspuren schmale Radspurmarkierungen für die Geradeausfahrt. Ansonsten ist der Radfahrer auf sich selbst gestellt – und es funktioniert! Das Fahren ist angenehmer und harmonischer als auf all den zugebauten und zu Tode regulierten deutschen Straßen und Radwegen. Der einzige amerikanische Imperativ zum Fahrradverkehr, der als milde Empfehlung an die Autofahrer auf einem gelben Schild erscheint, lautet: „share the street“(teilen Sie sich die Straße) – und das genügt.

Wenn den deutschen Autofahrern immer die vermeintliche Gelassenheit des amerikanischen Autoverkehrs entgegen gehalten – und damit u.a. einer Tempobeschränkung das Wort geredet – wird, ist das irreführend. Der Verkehr fließt, wenn er fließt, überall zügig und angemessen. Kein Polizist lauert in Amerika mit der Radarpistole hinter einem Straßenstück, das zufällig 200 Meter lang gerade ist und deshalb angeblich „zum Rasen“ einlädt, wie ich in München immer wieder erleben muss. Die Grundhaltung gegenseitiger Rücksichtnahme ist eine Folge administrativ-regulatorischer Zurückhaltung. Nur von dem, was mir gutwillig-großzügig zubemessen wird, kann ich im Einzelfall etwas abgeben. Wenn mir von vornherein alles weggenommen oder missgönnt wird, muss ich auf dem Verbliebenen mit eiserner Sturheit beharren.

Man spürt in Amerika stets die affirmative Grundhaltung, Verkehr zu ermöglichen, und weil das dortige Verkehrssystem den Verkehrsteilnehmer nicht zum Idioten oder Bösewicht macht und mit dummen und bösen Regelungen verfolgt, sondern ihn für einen selbstbestimmten, eigenverantwortlichen Menschen hält, ist es allemal vorzuziehen. Es fühlt sich auch deshalb humaner an, weil es nicht von vornherein die Kollektivierung von Mobilitätsbedürfnissen, also ihre Delegierung an die Obrigkeit, fordert und propagiert, sondern stets vom Individuum ausgeht.

„Das amerikanische Verkehrssystem macht den Verkehrsteilnehmer nicht zum Idioten oder Bösewicht.“

Exemplarisch ist eine Geschichte aus dem Washingtoner Vorort Springfield. Dort bewältigen die Bürger ohne jegliche übergeordnete Organisation gemeinsam ihr Pendlerproblem. „Die Autobahn I 95 wurde von den Behörden zu einer HOV 3 erklärt“, d.h., sie darf „nur von Fahrzeugen mit mindestens drei Insassen benutzt werden – ein klarer Eingriff des Staates in den Markt. Doch statt sich in die chronisch verspäteten und unbequemen öffentlichen Verkehrsmittel zu zwängen, entwickelte sich ein quasi privates Transportsystem.“ 4 In einer deutschen Stadt würde man eine „Trambahnbeschleunigung“ einrichten, deren Hauptzweck es ist, den Individualverkehr zu behindern und die Bürger in die öffentlichen Verkehrsmittel zu zwängen. In Amerika käme der Gedanke an administrierte Kollektivierung des Verkehrs und die Enteignung von Mobilitätsbedürfnissen zum Glück gar nicht erst in den Sinn.

„An einer Straßenecke kurz vor der Einfahrt auf die I 95 bildet sich jeden Morgen eine kleine Schlange von Pendlern. Ein Privatwagen fährt vor, drei Pendler steigen ein und fahren dann zusammen in die Stadt. Das geht morgens so lange, bis der Letzte mitgenommen wurde. Abends funktioniert das Ganze dann genauso in umgekehrter Richtung. Auf Zuruf stimmen die Passagiere darüber ab, wer eine Woche lang sein Fahrzeug zur Verfügung stellt.“ 5

In amerikanischen Städten wird in den meisten Wohngebieten den Hausbesitzern ihr grüner Vorgarten zugebilligt, auf dem sie dann auch Platz für ihre beiden Automobile haben. In deutschen Großstädten wird dieses individuelle Grün meist nicht mehr gewährt und vor allem kein Stellplatz darauf geduldet. Stattdessen pflanzt man kommunale Bäume auf die Straße, wo sie nicht hingehören und die Straße verengen, und handelt sich außerdem nachwachsende Kosten (für Laubbeseitigung und Zuschnitt) und Gefahren ein. So kann man durch systematische Fehlallokation der Ressourcen die Verhältnisse nachhaltig verschlechtern.

Size does matter

Auch wenn ich in Amerika nur zu Hause sitze und meine deutsche Enklave nicht verlasse, habe ich Anteil an der Weite des Landes und der Großzügigkeit seiner Zivilisation. In Deutschland aber kann ich noch so viel unterwegs sein – ich stoße früher oder später immer auf enge Verhältnisse, geografisch und mental. In Deutschland finde ich im öffentlichen Raum, auf den Straßen, eine flächendeckende Behinderungsarchitektur vor: gebaute Engstirnigkeit, Missgunst, Niedertracht. Wenn etwa in einem Hörfunkbeitrag ein Einkaufszentrum geschildert werden soll – in München der Euro-Industriepark aus den 70er‑Jahren –, wird fortwährend genörgelt, dass es ein Industriepark sei, also ein „Unort“. Als belastende Beweise gelten die autogerechte Gestaltung, geräumige Straßen und ausreichende – in deutscher Diktion „riesige“ oder „gigantische“ – Parkplätze.

Grenzen und Begrenzungen haben wir in Europa im Übermaß, auch im Kopf. Amerika ist ein Kontinent für sich und sich selbst genug. Die Grenze zu Kanada ist nicht der Rede wert. Zu Mexiko hat man zwar einen Zaun errichtet, aber das ist eine andere Geschichte. Der Blick geht stets vor allem ins Freie, übers Meer in die ganze Welt. Der Horizont ist die Machbarkeit (ein für die deutsche Ideologie misstönendes Wort), das Vertrauen in die eigene technische Problemlösungsfähigkeit.

„Grenzen und Begrenzungen haben wir in Europa im Übermaß, auch im Kopf. Amerika ist ein Kontinent für sich und sich selbst genug.“

Amerika ist ein willkommenes Heilmittel gegen den deutschen Selbsthass, ist Urlaub von der deutschen Verbohrtheit und Kleinlichkeit. In der Weite der Städte und des Landes wird sofort fühlbar, woher Großzügigkeit und Gelassenheit kommen und welchen psychosozialen Stress die hohe Bevölkerungsdichte deutscher Städte verursacht, in denen man sich fast wortwörtlich ständig auf die Füße tritt und allenthalben Rücksicht nehmen muss. Die deutsche Borniertheit tausche ich gerne gegen amerikanische Ahnungslosigkeit ein, und mit der in Deutschland gelernten Bedürfnislosigkeit kann ich im Lande des gefräßigen Kapitalismus gut überleben, weil ich ihn unterlaufen kann und so unverwundbar bin.

Amerikas Hang zur Größe ist eine Platitude, gleich, ob man an Autos, Kühlschränke oder Flughäfen denkt. „Think big“ ist tief im Selbstverständnis verankert und wird auch ungeniert als Strategie propagiert. Komplexe Probleme werden gerne durch rein quantitative Verfahren, sozusagen durch schiere Masse, „erschlagen“. In der IT lässt sich dies an vielen Stellen nachweisen. Anspruchsvolle Software kann man schneller machen, indem man sie effizienter (und eleganter) programmiert – aber man kann auch auf die nächste Prozessorgeneration warten, die den schlechten Code einfach schneller abarbeitet. Man kann das „Buch des Lebens“ für heilig erklären und das Leben tatenlos für eine mystische Eigenschaft halten – oder man kann die anfangs herkulisch anmutende Aufgabe angehen, das menschliche Genom zu entschlüsseln und nebenbei Bioinformatik und synthetische Biologie entwickeln.

Man kann überliefertes Kulturgut zwischen verstaubenden Buchdeckeln mit konservatorischer Betulichkeit lagern – und dann schon mal aufgrund „unerklärlicher Versäumnisse“ die Anna-Amalia-Bibliothek mit Unikaten abbrennen lassen oder das Kölner Stadtarchiv in Schutt und Asche legen. Oder man kann wie Google das Wissen der Welt sozusagen unterschiedslos auf den Scanner legen, es allerorten und für allezeit zugänglich machen.

Eine Suchmaschine kann man intelligent zu machen versuchen, indem man Semantik, also logische Strukturen, implementiert – und tatsächlich gibt es deutsche Forschungsprojekte, die ernsthaft dieses Ziel verfolgt haben und zweifellos (und markterfolglos) in der Tradition des Hegel’schen Weltgeistes anzusiedeln sind. Man kann aber auch wie Google-Suchanfragen mit 99 Prozent Müll beantworten, und das eine Prozent Rest ist dann immer noch ausreichend, um die Anfrage zu erledigen. Man kann beliebig komplexe Datenstrukturen sozusagen auf Verdacht und „dumm“ durchsuchen und wird überraschende und nützliche Korrelationen finden. „Data Mining“ nannte man dies bisher. Nun heißt es „Big Data“.

Größe gilt in Amerika beinahe als Wert an sich und ist Teil der Mentalität, wie diverse Buchtitel suggerieren: „Denken Sie groß!“, „Erfolg durch großzügiges Denken“, „Die Wunderwirkung großzügigen Denkens“, „Denke nach und werde reich“, „Kraft des positiven Denkens.“ In letzterem Buch findet sich der in deutschen Ohren obszön klingende Satz: „Der Mensch ist auf Erden, um ein erfülltes, glückliches, herrliches Leben zu führen.“ Stets waren Größe und der Mut zur Größe, der Wille zur Macht, Anlass und Antrieb zur komfortablen Möblierung des eigenen Landes und zur Umgestaltung der restlichen Welt (soweit sie den eigenen Interessen hinderlich war). Hier wird Realpolitik im eigentlichen Sinne betrieben, mit einer klaren Rangfolge: Macht zu haben heißt, der Macht jederzeit zum Recht verhelfen zu können.

„Amerikas Hang zur Größe ist eine Platitude, gleich, ob man an Autos, Kühlschränke oder Flughäfen denkt.“

Sich über Amerikas Schulden das Maul zu zerreißen und deren Schuldhaftigkeit anzuprangern ist leicht. Leicht ist es auch, über den Dauerstau auf den Straßen der amerikanischen Ballungsgebiete und die damit verbundene schlechtere Luftqualität die Nase zu rümpfen und die verfehlte Verkehrspolitik anzuprangern. Soviel Verkehr will erst einmal bewältigt sein. Jedes deutsche, großstädtische Straßennetz bräche bei dieser Verkehrslast sofort zusammen, weil seine Regelung mit dem vorgeblichen Ziel der Sicherheitsmaximierung doch nur den Zweck der Effizienzverminderung verfolgt. In Personenkilometern gerechnet ist der amerikanische Verkehr keineswegs unerträglich unsicher, der deutsche Verkehr jedoch sicher unerträglich, weil er Freiheit enteignet und Rationalität sabotiert.

Fazit

Man kann Kontrast und Konflikt der beiden skizzierten Lebensstile philosophisch unschwer vertiefen und beispielsweise im 19. Jahrhundert auf die Strömungen von Pragmatismus (USA) und deutscher „idealistischer“ Systemphilosophie zurückführen. Man kann sich über die Weltverbesserungsattitüde der in den einschlägigen IT-Firmen verkörperten kalifornischen Ideologie belustigen, doch dass sie im Markt höchst erfolgreich funktioniert, haben inzwischen auch die EU-Marktstrategen bemerkt – und kein Gegenmittel zur Hand. Und notabene kommt der Transhumanismus, den unter anderem Ray Kurzweil in seiner Singularitätsuniversität propagiert, eigentlich aus Sachsen, von dem Dynamit-Denker Nietzsche, der auch schon wusste, dass der Mensch etwas ist, das überwunden werden muss. Man sagt sogar, dass die deutsche Rede vom Über-Menschenund Über-Ich bei der Namensgebung der Taxivermittlungsagentur Uber Pate gestanden habe, bei der verständlicherweise lediglich die Umlautpunkte wegfallen mussten. Man könnte also die deutsche Geschichte und Geistesgeschichte durchaus kreativer lesen und käme viel weiter. Wenn man aber pragmatische Gesichtspunkte und Strategien, wie sie in den USA allenthalben erfolgreich praktiziert werden, auch künftig abzulehnen gedenkt, wird man sich darauf einstellen können, in der Bedeutungslosigkeit zu verschwinden.

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