01.11.2004

Unverdauliche Wiederbelebungsversuche

Analyse von Tamás Nagy

Ökoideologie kann man nicht essen, ohne sich den Magen zu verderben.

„Eine Möhre zu schnippeln, eine Kartoffel zu schälen, sich selber ein gesundes Vollkornbrot zu schmieren – das gehört für mich zu diesem Bildungsauftrag dazu!“ (Renate Künast, Bundesverbraucherschutzministerin, Bündnis 90/Grüne)

„Darüber, ob der Konsument Rohkost bevorzugt oder nicht, entscheidet letztlich er selbst, beziehungsweise sein Darm – da kann die propagierte Ernährungsweise noch so ‚umwelt- und sozialverträglich‘ sein.“

Angesichts solcher Äußerungen von Verbraucherschutzministerin Künast wird verständlich, warum die meisten Menschen glauben, Vollwertkost sei besonders gesund. Trotzdem richten sich aber nur relativ wenige nach den Vorschriften dieser Ernährungslehre. Das hat gute Gründe, die jedoch Claus Leitzmann, emeritierter Professor und Mitbegründer der zeitgenössischen Vollwertidee, allesamt nicht gelten lassen will. Statt einzugestehen, dass Rohkost den meisten Menschen schlichtweg nicht bekommt, müssen „unqualifizierte Trittbrettfahrer“, „sensationsorientierte Medien“, „Teile der Ernährungsindustrie“ und die „moderne Spaßgesellschaft“ als Sündenböcke herhalten. Gleichzeitig versucht es Leitzmann mit Wiederbelebungsversuchen. Das „inhaltlich von der Wissenschaft zunehmend bestätigte Konzept“ sei weiterhin hoch aktuell und die Vorzüge einer ganzheitlichen Ernährungsweise würden derzeit offenbar wiederentdeckt, schreibt er im Ernährungsrundbrief des Arbeitskreises für Ernährungsforschung. Und weiter: „Kompetente Forschung, professionelle Beratung und der Wunsch nach einer zeitgemäßen und nachhaltigen Ernährungsweise – sowie seriöse Medien – werden die weitere Verbreitung der Anliegen der Vollwert-Ernährung unterstützen und das gute Ansehen des Begriffs wieder stärken.“ Darf es jetzt also der Zeitgeist richten, der sich anscheinend jeder beliebig gearteten Form von Nachhaltigkeit verschreibt? Oder die Medien, die vorher noch den Begriff der Vollwerternährung beschmutzten und jetzt als willige Komplizen Buße tun sollen? Es drängt sich der Verdacht auf, dass Leitzmann selbst nicht mehr an das glaubt, was er schreibt.

„Es hat seinen Grund, weshalb der Mensch seine Nahrung vor dem Verzehr verarbeitet: erst dadurch macht er Kartoffeln, Hülsenfrüchte oder Getreide genießbar.“

Vielleicht hat er schon lange geahnt, dass sein Vollwertkonzept nicht aufgehen kann. Zu sehr stand eine Ideologie im Mittelpunkt und nicht das Individuum. Denn darüber, ob der Konsument Rohkost bevorzugt oder nicht, entscheidet letztlich er selbst, beziehungsweise sein Darm – da kann die propagierte Ernährungsweise noch so „umwelt- und sozialverträglich“ sein. Schon möglich, dass das bestechend einfach gestrickte Prinzip der Kostform – je unverarbeiteter die Nahrung, desto natürlicher, artgemäßer und gesünder – manchen Zeitgenossen zunächst überzeugt hat. Sicher kam es ihm entgegen, wenn er komplizierte Nährstofftabellen beiseite legen konnte und sich nur noch am Verarbeitungsgrad von Lebensmitteln orientieren brauchte. Dennoch machten ihm letztlich die Gesetze der Biologie einen Strich durch die Rechnung.
Denn es hat seinen Grund, weshalb der Mensch seine Nahrung vor dem Verzehr verarbeitet: erst dadurch macht er Kartoffeln, Hülsenfrüchte oder Getreide genießbar. Im unbehandelten Zustand enthalten die meisten Gemüse und Cerealien eine Reihe von Abwehrstoffen, die den Appetit potenzieller Fraßfeinde verderben sollen. Viele dieser Substanzen beeinträchtigen die menschliche Verdauung und senken den Nährwert (zum Beispiel Enzyminhibitoren, Alkylresorcine oder Phytinsäure), andere wiederum sind sogar giftig (wie etwa Lektine, Mykotoxine oder Solanin). Verhängnisvollerweise tummeln sie sich gerade in der als „gesund“ geltenden Randschicht der Getreidekörner, die von Rohköstlern möglichst „natürlich“ mitgegessen wird. Weil schädliche Proteine wie Enzyminhibitoren reich an essenziellen Aminosäuren sind, erweckt Getreideprotein in Nährwerttabellen den Anschein, es sei besonders hochwertig – ein doppelter ernährungswissenschaftlicher Irrtum angesichts der Tatsache, dass es nicht nur selbst größtenteils unverwertbar ist, sondern auch die Verfügbarkeit anderer Nährstoffe verhindert.

„Im Vergleich zu typischen Pflanzenfressern wie Rindern oder Federvieh hat der Mensch weder Pansen noch Kropf, die ihm dabei helfen, Körner aufzuschließen und bekömmlich zu machen.“

Unangenehme Blähungen, die für den Einstieg in die Vollwertkost meist typisch sind, zählen zu den eher harmlosen Nebenwirkungen der Antinutritiva. Über einen längeren Zeitraum konsumiert, können sie gar eine intestinale Autointoxikation hervorrufen, also eine Selbstvergiftung, die vom Darm ausgeht. Der Grund: Sobald Amylaseinhibitoren aus dem Vollkorn körpereigene Enzyme regelmäßig an der Stärkeverdauung hindern, bleibt diese den Darmbakterien überlassen. Dadurch kommt eine regelrechte „Zuckerfabrik“ in Gang, die schließlich zur Bildung von giftigen und stark riechenden Stoffen bzw. Gasen führt, unter anderem von Gärungsalkoholen, Fuselölen und Fäulnisstoffen wie Indol, Kresol oder Skatol sowie jeder Menge biogener Amine. Die das Erbgut verändernden Zellgifte schädigen Schleimhaut, Drüsen, Muskeln, Nerven und Immunsystem des Darms. Nach Angaben von Karl Pirlet, dem ehemaligen Ordinarius an der Uniklinik Frankfurt und seit Jahrzehnten ärztlich und wissenschaftlich mit den Folgen der Vollwerternährung beschäftigt, hat die Giftwirkung nicht nur Erkrankungen der Verdauungsorgane zur Folge: Sie kann auch zu chronischen Katarrh- und Infektionszuständen führen, zur arteriellen Gefäßsklerose sowie zu entzündlichen und degenerativen Erkrankungen des Bewegungsapparates.

Dass stetiger Vollkornverzehr den Verdauungstrakt langfristig überfordert, liegt auf der Hand. Schließlich hat der Mensch im Vergleich zu typischen Pflanzenfressern wie Rindern oder Federvieh weder Pansen noch Kropf, die ihm dabei helfen, Körner aufzuschließen und bekömmlich zu machen. Er nutzt Getreide erst seit rund 10.000 Jahren in nennenswerter Menge als Nahrungsmittel und musste aufwändige Verarbeitungsmethoden wie Mahlen, Fermentation und Backen entwickeln, um es verdauen und seine Nährstoffe verwerten zu können. Im Gegensatz zum modernen Rohköstler haben sich selbst unsere frühen Vorfahren nicht mit rohen Getreidekörnern verköstigt. Zu den Prozeduren, denen bereits einfache Breie und Fladen – also die Vorstufen des Brotes – unterworfen waren, gehörten das Rösten und Zerstoßen der Körner. Dazu griff der Mensch in der Stein- und Bronzezeit auf einfache Mahlsteine und Mörser zurück. Der Röstvorgang verbesserte die Verdaulichkeit der Produkte, indem er einen erheblichen Teil der sekundären Pflanzenstoffe zerstörte. Auch die Römer rösteten ihr Getreide. Damit erleichterten sie nicht nur das Marschgepäck der Legionäre, sondern schützten das Gut zudem vor Schimmel und Fäulnis.
Davon, wie gefährlich unverarbeitete Fasernahrung ist, zeugen nicht zuletzt die erschreckenden Ergebnisse einer Gießener Studie: Der langjährige Verzehr von Rohkost (70 bis 100 Prozent der Nahrungszufuhr) äußerte sich bei den über 500 Teilnehmern in einem starken Gewichtsverlust. Innerhalb von knapp vier Jahren büßten die männlichen Probanden durchschnittlich fast zehn und die weiblichen zwölf Kilogramm Körpergewicht ein. Bei nahezu einem Drittel der Frauen unter 45 Jahren blieb die Regelblutung aus, rund 70 Prozent klagten über Menstruationsbeschwerden. Untergewicht und Amenorrhoe korrelierten positiv mit der Höhe des Rohkostverzehrs. Die Autoren verweisen in diesem Zusammenhang auf ein erhöhtes Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen sowie Osteoporose. Dass sie dennoch mit der Bemerkung schließen, ein Rohkostanteil von 50 Prozent der zugeführten Nahrungsmenge sei „für die Gesundheit unter normalen Bedingungen optimal“, dürfte wohl daran liegen, dass Claus Leitzmann die Untersuchung betreute.

„Der Mensch ist das Maß aller Diätetik und nicht das Nahrungsmittel.“

Wie ungesund Rohkost auf Dauer sein kann, mussten die meisten Anhänger der Vollwertlehre letztlich am eigenen Leib erfahren. Von den Tücken der Körner blieben nicht einmal ihre Aufklärer verschont: viele griffen – im stillen Kämmerlein, versteht sich – auf Altbewährtes zurück, weil sie ihre propagierte Kost selbst nicht mehr vertrugen. Natürlich finden sich unter den Ernährungsextremisten mitunter auch solche, die besonders verdauungsstark sind und längere Zeit mit Fasernahrung zurechtkommen. Dass aber die allermeisten Zeitgenossen an Rohkost scheitern oder daran erkranken, scheint die Prediger nicht weiter zu kümmern. Im Gegenteil: „Vom Prinzip her gelten diese Empfehlungen nicht nur für Gesunde, sondern auch für Kranke…“, verkündet Leitzmann in seinem Lehrbuch Vollwert-Ernährung – Grundlagen einer vernünftigen Ernährungsweise.
Doch wenn schon Gesunde daran erkranken – wie riskant mag Vollwert dann erst für Kranke sein? Karl Pirlet bringt es auf den Punkt: „Eine Ernährungsweise, die sich monoman an der Vollwertigkeit, an der Nährstoffdichte der Nahrungsmittel orientiert, aber die jeweilige Besonderheit des Nahrungskonsumenten, die Not des Patienten, übersieht oder vernachlässigt – eine solche Ernährungsweise kann aus wissenschaftlicher und ärztlicher Sicht nicht als vernünftig bezeichnet werden.“ Schließlich sei der Mensch das Maß aller Diätetik und nicht das Nahrungsmittel. Laut Pirlet ist eine Ernährung nur dann „naturgemäß“, wenn sie der Natur des Einzelnen und seiner Verdauung entspricht. Die Vollwerternährung aber, so wie sie derzeit propagiert und praktiziert wird, schade mehr, als sie nütze.

Vollwertig veräppelt: Das Konzept einer kargen Kost

Morgens ein Frischkornmüsli aus eingeweichten Körnern, Früchten, Nüssen und Vorzugsmilch, mittags und abends Gemüse- sowie Obstsalate, als Zwischenmahlzeit wieder Obst, Gemüse bzw. Nüsse – so sieht der ideale Speiseplan des modernen Vollwertköstlers aus. Ob es ihm schmeckt oder nicht: Die Hälfte seiner Nahrungsmenge soll er in Form von Rohkost zu sich nehmen und täglich mindestens drei Esslöffel Getreide als Frischkorn schlucken. Damit huldigt er nicht nur Kollaths eiserner Regel „Lasst unsere Nahrung so natürlich wie möglich“, sondern auch der zeitgemäßen Vollwertbibel von Leitzmann und Kollegen. Die predigt, dass ein Lebensmittel umso mehr Nährstoffe enthält, je weniger es verarbeitet wird. Der Frage aber, ob diese vom Verdauungstrakt tatsächlich aufgenommen beziehungsweise verwertet werden, haben sich die Experten lieber nicht gewidmet. Wer sich auf Vollwertkost einlässt, muss mit einer nahezu lakto-vegetabilen Ernährung zurechtkommen. Fleischverzehr wird in der Szene nicht gerne gesehen. „Da ... tierische Lebensmittel häufig viel Fett und Protein enthalten, ist die naheliegende Konsequenz, pflanzliche Lebensmittel in den Vordergrund zu stellen und den Verzehr tierischer Lebensmittel zu vermindern“, lautet ein Grundsatz der Vollwerternährung. Wenn aber vor allem Kohlenhydrate gesund und Fette und Proteine schädlich sind, weshalb raten die Vollwertexperten dann nicht auch von proteinreichen Linsen oder fetthaltigen Avocados ab? Vielleicht liegt das ja daran, dass nur pflanzliche Lebensmittel „gesundheitsfördernde Inhaltsstoffe“ enthalten. Bloß: Wenn die sekundären Pflanzenstoffe so wichtig für das Funktionieren des Körpers sind, dann müssten sie doch auch im tierischen Gewebe vorhanden sein. Die optimalen Gehalte würden sich folglich im Fleisch und in den Organen von Wiederkäuern befinden, da diese eine viel größere Menge pflanzlicher Nahrung auf der Suche nach den „gesunden Stoffen“ durchfiltern, als es der Mensch je könnte. Demnach müssten zumindest Tierinnereien in den Vollwertempfehlungen gut abschneiden. Doch weit gefehlt: Sie finden sich in der Kategorie „möglichst meiden“. Eigentlich logisch, denn Innereien enthalten ja mehr Schadstoffe als das nur bedingt empfehlenswerte Fleisch. Vor diesem Hintergrund aber ist nicht nachvollziehbar, warum die ebenfalls schadstoffreichen Randschichten des Getreidekorns seinen wahren Wert ausmachen sollen. Alles, was mit Genuss zu tun hat, steht auf dem Index der Vollwerternährung. Dazu gehören in erster Linie Zucker und Süßwaren. Erwartungsgemäß landet jedoch der Honig, ein Zuckerkonzentrat par excellence, in der Rubrik „mäßig verarbeitete Lebensmittel“ und ist damit „sehr empfehlenswert“. Übertroffen wird er nur noch von süßem Obst mit dem Prädikat „besonders empfehlenswert“. Dummerweise enthält gerade dieses neben Zucker auch jede Menge Fruchtsäuren. Wie eine Gießener Studie zur Zahngesundheit erbrachte, sind letztere offenbar dafür verantwortlich, dass Rohköstler im Vergleich zu Zuckerschleckern etwa ein Dreifaches an kaputten Zähnen aufweisen. Die Bewertung von Kochsalz gibt ebenfalls Rätsel auf, zumal es sich dabei, wie beim Zucker, um ein hochgereinigtes Produkt handelt. Allerdings wird Salz besser beurteilt und gilt sogar als „sehr empfehlenswert“, wenn es mit Jod versetzt wurde. Wäre es hier nicht wesentlich „natürlicher“, der Klientel schlicht etwas Fisch zu empfehlen? Anscheinend nicht, denn der soll nur „bis 1x/Woche“ gegessen werden. Obwohl die Gießener Ernährungswissenschaftler vorgeben, Produkte nach deren Verarbeitung zu bewerten, scheint die Kenntnis der Lebensmitteltechnologie nicht zu ihren Kernkompetenzen zu zählen. Wie sonst ist zu erklären, dass sie Oliven, die roh ungenießbar sind und deshalb nach allen Regeln der chemischen Kunst entbittert werden, mit „sehr empfehlenswert“ bedacht haben? Und weshalb unterscheiden sie zwischen Käse mit und ohne Zusatzstoffe? Schließlich wird dieser unter Zugabe von Lab beziehungsweise Chymosin hergestellt, also mit Enzympräparaten, die genauso wie viele andere Zusatzstoffe nicht deklariert werden müssen. Dasselbe gilt für Milchprodukte: Warum sind sie „weniger empfehlenswert“, wenn sie mit Kräutern, Gemüse oder Obst versetzt wurden? Oder haben die Autoren hier Zusatzstoffe gemeint, aber Zutaten geschrieben? An dergleichen Unstimmigkeiten hat die aktuelle Orientierungstabelle von Leitzmann und Mitarbeitern auffällig viel zu bieten. Kein Wunder, denn die Einteilung von Lebensmitteln nach Verarbeitungsgrad hält allenfalls ideologischen Kriterien stand. Einen soliden wissenschaftlichen Nachweis, ob Vollwertkost tatsächlich „gesünder“ macht, haben die Experten noch nicht erbracht. Warum wohl?

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