23.06.2009

Tod auf Vorrat

Kommentar von Kai Rogusch

In Deutschland hat die Bürokratisierung des Sterbeprozesses einen neuen Schub erhalten. Das neueste Gesetz zur Verbindlichkeit von Patientenverfügungen, das der Bundestag am 18. Juni erlassen hat, gibt zwar vor, die „Autonomie“ der Patienten zu sichern. Ein genauerer Blick in das Gesetz offenbart jedoch, dass diese „Autonomie“ im Ergebnis darauf hinausläuft, eine vorab verfügte Selbstaufgabe eines Patienten unumstößlich zu juridifizieren. Das gilt auch für den Fall, dass sich der Patient in einem Zustand auch nur vorübergehender Artikulationsunfähigkeit befindet.

Das Problem des neuen Gesetzes liegt darin, dass sich das Sterben nicht im Vorhinein normieren lässt und dass die Vorfestlegung eines in die unbekannte Zukunft reichenden Todeswunsches unabsehbare Folgen nach sich ziehen kann. Die neue Norm birgt eine fatale Radikalität: Schriftliche Patientenverfügungen können künftig unabhängig vom Stadium der Erkrankung im Voraus einen Abbruch lebenserhaltender Maßnahmen für Ärzte und Angehörige verbindlich erklären. Der schriftlich festgelegte Wille soll im Falle der Artikulationsunfähigkeit des Patienten also auch dann unumstößlich sein, wenn das Leiden des Patienten noch nicht als unumkehrbar tödlich gilt. Ein Motorradfahrer beispielsweise könnte nun für die Zukunft schriftlich für den Fall, dass er nach einem Unfall in Koma liegt, verfügen, dass die Beatmungsmaschinen abgestellt werden, falls ihm beide Beine abgenommen werden müssten.

Entsprechend haben sich in der Debatte auch Stimmen vernehmen lassen, die den im Gesetz angelegten „Automatismus“ monieren. So verwies der SPD-Abgeordnete Rene Röspel darauf, dass sich scheinbar unverrückbare Positionen eines Menschen unter dem Eindruck einer Krankheit ändern könnten. Es gebe Fälle, in denen man den Willen einer mittlerweile erkrankten Person erfülle, indem man gegen ihren früheren Willen verstoße. Zweifel bezüglich der Regulierbarkeit des Lebensendes äußerte auch der CDU-Abgeordnete Hubert Hüppe: Man könne nicht mit einem Gesetz regeln, was nicht zu regeln sei, gab er zu bedenken. Es gebe Tausende von möglichen Situationen, in die eine Person geraten könne, die nicht mit der Abfassung einer Patientenverfügung geregelt werden könnten.

Indem der Bundestag eine juristische Standardisierung eines Patientenwillens ermöglicht, beseitigt er mitnichten die viel beklagte „Rechtsunsicherheit“, sondern weitet sie im Gegenteil sogar noch aus. Der FAZ-Redakteur für Innenpolitik, Stefan Dietrich, gab zu bedenken, dass mit dem neuen Gesetz zur bisherigen Abwägung zwischen ärztlicher Indikation und mutmaßlichem (oder dokumentiertem) Patientenwillen im Einzelfall nun auch noch die Einhaltung einer Gesetzesnorm geprüft werden müsste, die jedoch nur schematische Vorgaben machen kann. Dies könnte sich im Alltag so auswirken, dass bei Sterbenden nicht mehr sorgsam darauf geachtet werden muss, ob sie wirklich noch wollen, was sie als Gesunde geäußert haben.

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