01.03.2003

Therapie auf Teufel komm raus

Essay von Sebastian Anders

Seit einigen Monaten schwappt das Thema satanischer Missbrauch und Kannibalismus durch die deutsche Medienlandschaft. Immer mehr Menschen berichten von schlimmen Kindheitserinnerungen und outen sich als Opfer rituellen Missbrauchs. Sind ihre Erinnerungen real? Sebastian Anders erläutert die Hintergründe.

Im Dezember letzten Jahres erschütterte der Fall des „Kannibalen von Rotenburg“ die deutsche Öffentlichkeit. Der unauffällig lebende und als freundlich geltende Mann hatte gestanden, einen 42-Jährigen über eine Anzeige kennen gelernt, ihn mit dessen Einverständnis getötet und teilweise gegessen zu haben. Angesichts der breiten Berichterstattung verfestigte sich der Eindruck, Ereignisse dieser Art seien keine Einzelfälle, sondern weiter verbreitet. Das Thema dominierte nicht nur die Schlagzeilen der Boulevardpresse. Auch das ZDF widmete sich der Thematik. Am 15. Januar 2003 berichtete das Fernsehmagazin ZDF.reporter über Kannibalismus in Deutschland. In der Reportage von Rainer Fromm wurde von zwei Frauen und einem kleinen Mädchen berichtet, die von Vergewaltigungen, Folter, Mord und Kannibalismus in satanischen Kulten sprachen.[1] Das Mädchen erzählte unter Weinkrämpfen, wie „ein Kind verspeist wurde, so dass nur noch Knochenteile und die Augen übrig blieben“.
Satanismus, Kannibalismus und Missbrauch – spätestens bei dieser Reportage wird klar, dass auch öffentlich-rechtliche Sender auf derart reißerische Themen setzen, ohne stichhaltige und nachvollziehbare Erklärungen zu liefern und ohne damit einen journalistischen Zweck zu erfüllen. Zwar betonte Rainer Fromm stets die „absolute Seriosität“ seiner Recherchen. Auch sprach er korrekt von Indizien, Anhaltspunkten und Hinweisen. Konkrete Beweise für die Wahrheit der berichteten Schilderungen legte er indes nicht vor. Wie sind Schilderungen dieser Art einzuschätzen? Wie ist die Häufung solcher Berichte zu erklären? Ein Blick über den Atlantik hilft, denn: in den USA haben sich ähnliche Fälle bereits vor einigen Jahren ereignet. Die Parallelen sind auffällig und vielsagend.

Unterdrückte Erinnerungen

Gemeint sind die Vorfälle, die in den 80er- und 90er-Jahren die amerikanische Öffentlichkeit schockierten und die später den Begriff „False Memory Syndrom“ (zu deutsch: Syndrom der falschen Erinnerungen) bekannt machten. Ausgangspunkt war eine Häufung von Berichten, denen zufolge Psychotherapie-Patienten – vornehmlich Frauen – plötzlich Kindheitserinnerungen an sexuellen Missbrauch mit zum Teil rituellem und satanischem Hintergrund wiedererlangt hatten. Dieses Phänomen trat fast ausschließlich bei Behandlungen durch Therapeuten auf, die so genannte Aufdeckungstechniken anwandten. Sie basieren auf der Theorie der unterdrückten Erinnerungen: Ihr zufolge werden im Falle traumatischer Erlebnisse – vor allem in der frühen Kindheit – Erinnerungen automatisch in das Unterbewusstsein abgeschoben, wo sie zwar nicht erinnerbar sind, aber dennoch zu psychischen Problemen und Störungen führen können. Sehr häufig treten als Konsequenz solcher Störungen Persönlichkeitsspaltungen auf.[2] Ziel der Aufdeckungstechniken ist es nun, diese unterdrückten Erinnerungen wieder erinnerbar zu machen, damit der Patient sie durch erneutes Durchleben verarbeiten kann und so die Ursache der Störungen behoben wird. Diese Theorie ist allerdings nicht zu verwechseln mit dem Verdrängungskonzept der Psychoanalyse. Denn in der Psychoanalyse sind die Erinnerungen stets präsent und werden wegen der mit ihnen verbundenen unangenehmen Gefühle wieder verdrängt.

Die Theorie der unterdrückten Erinnerungen wurden von Pressure Groups wie der „International Society for the Study of Dissociation“ (ISSD) verbreitet. Therapeuten und Psychologen wurden in Aufdeckungstechniken geschult und mit Symptomlisten und Informationen über die Häufigkeit des sexuellen Missbrauchs ausgestattet. Die Listen enthielten derart breit gefächerte Symptome, dass kaum ein psychisch gesunder Mensch – geschweige denn eine Patientin, die mit psychischen Problemen einen Therapeuten aufsuchte – durch das so aufgestellte Raster fallen konnte. Hinzu kam, dass gleichzeitig Symptome wie „übersteigertes Selbstwertgefühl“ oder „zu geringes Selbstwertgefühl“ aufgeführt wurden.
Die den Therapeuten auf Basis dieser Symptome vorgelegten Zahlen über die Häufigkeit sexuellen Missbrauchs entbehrten jeglicher sachlichen Grundlage. In den USA wurden Zahlen von jährlich 50.000 rituell missbrauchten und ermordeten Kindern verbreitet. In Deutschland geistert heute noch die nachweislich falsche Zahl von 300.000 missbrauchten Kindern pro Jahr durch die Medienlandschaft.[3] Mit solchen Zahlen und Informationen ausstaffiert, begaben sich überzeugte Therapeuten auf die Suche nach unterdrückten Erinnerungen an Missbrauchserlebnisse in der Kindheit ihrer Patientinnen – und wurden fündig: Selbst vom Vorhandensein solcher unterdrückter Erinnerungen überzeugt, merkten sie nicht, wie sie ihre Patientinnen während der Therapie auf das Thema Missbrauch lenkten. Die Patientinnen wurden ausdrücklich aufgefordert, ihren Erinnerungen freien Lauf zu lassen. In den meisten Fällen wurden hypnotische und autohypnotische Techniken sowie Psychopharmaka angewandt. Oft steigerten sich dabei die Erinnerungen in ihrer Brutalität und im Ausmaß, und es kam zu heftigen Reaktionen von Patientinnen. Einige Frauen wurden dabei zum Schutz in so genannten „abreaction rooms“ auf Liegen geschnallt, weil sie heftige Anfälle bekamen oder um sich schlugen.

„Menschen können leicht durch Suggestion von Erinnerungen an Geschehnisse glauben, die so niemals stattgefunden haben.”

Das False Memory Syndrom
Die so ermittelten Aussagen von Patientinnen führten zu zahlreichen Verurteilungen vermeintlicher Täter. Daraufhin begannen einige Wissenschaftler, die Theorie der unterdrückten Erinnerungen kritisch zu überprüfen. Sie entlarvten die Theorie als Vermengung wissenschaftlicher Forschungsergebnisse mit pseudowissenschaftlichen Interpretationen. Es ist vor allem Elizabeth Loftus, Richard Ofshe und der „False Memory Syndrome Foundation“ zu verdanken, dass über die Theorie der unterdrückten Erinnerungen aufgeklärt wurde. Loftus zeigte mit Experimenten auf, wie leicht Menschen durch Suggestion von Erinnerungen an Geschehnisse glauben können, die so niemals stattgefunden haben.[4] Die Theorie der unterdrückten Erinnerungen wies mehr Züge einer Ideologie denn einer Wissenschaft auf. Sie bestand aus einem System gegenseitigen Zitierens und Bekräftigens eigener Forschungsergebnisse, während kritische Studien immer mehr ignoriert wurden. Richard Ofshe brachte es auf den Punkt: „Die Fehler, die in dieser Therapie gemacht werden, leiden nicht am Mangel an zuverlässigen Informationen, sondern sind größtenteils das Ergebnis des Ignorierens zuverlässiger Informationen.“[5]

Eine besondere Rolle spielen Erinnerungen an rituellen satanischen Missbrauch, da hierzu eine Vielzahl von Untersuchungen bekannt sind. Laut vorsichtigen Schätzungen der „False Memory Syndrome Foundation“ wiesen bis zu 18 Prozent der Fälle von aufgedeckten Erinnerungen Verbindungen zu rituellem Missbrauch durch satanische Gruppen auf. Die Patientinnen mit solchen Erinnerungen berichteten von unvorstellbaren Folterungen, grausamen Ritualen, Menschen- und Tieropfern, Kannibalismus sowie von Missbrauch durch Außerirdische. Eine Patientin berichtete sogar, dass sie zur Hohen Priesterin geweiht wurde und der Kult jedes Jahr 2000 Säuglinge opferte und teilweise verspeiste. Es folgten Anzeigen und polizeiliche Ermittlungen, die aber zu keinen Verurteilungen führten. So kam dann die Theorie auf, diese Kulte bestünden bereits seit Jahrhunderten und hätten die Gesellschaft bis in hohe Positionen hinein unterwandert. Dabei bedienten sie sich „Mind-Control Techniken“, welche die CIA entwickelt hätte, um die Opfer zu programmieren. Auch die NASA und die Mafia seien laut dieser Theorie in die satanische Verschwörung verwickelt gewesen.[6]

Diese Mutmaßungen entpuppten sich als pure Hysterie. Alarmiert durch die sich häufenden Anschuldigungen wurden in den Niederlanden, Deutschland, Großbritannien und in den USA Studien über rituellen satanischen Missbrauch durchgeführt. In Deutschland liegt eine Sonderauswertung des Landeskriminalamtes Nordrhein-Westfalen vor, in der es heißt: „Ob es hingegen überhaupt oder in der Häufigkeit zu den geschilderten schwersten Straftaten kommt, ist zu bezweifeln.“[7]  Eine Anfrage an das Bundeskriminalamt zur Existenz rituellen satanischen Missbrauchs ergab im Mai 2002 folgende Stellungnahme: „Nach Erkenntnissen des BKA konnte dieser Verdacht zum Teil definitiv ausgeräumt werden.“
In einer von der britischen Regierung beauftragten Studie wurden 86 Fälle von Berichten über rituellen satanischen Missbrauch untersucht. 1994 wurden die Ergebnisse veröffentlicht: Die Existenz rituellen satanischen Missbrauchs konnte nicht nachgewiesen werden.[8]Eine Untersuchung im Auftrag des niederländischen Justizministeriums ging 500 ähnlichen Berichten nach. Es kam lediglich zu einer Verurteilung, die jedoch nicht auf einen Kult hinwies. Das Justizministerium erließ daraufhin eine Polizeirichtlinie, nach der bei Anschuldigungen wegen rituellen und satanischen Missbrauchs erst dann Verhaftungen vorgenommen werden dürfen, nachdem zuvor der Therapeut des Opfers einer Überprüfung unterzogen wurde und sich zusätzliche, den Verdacht erhärtende Beweise ergeben haben.[9]

„In den USA wurde die Theorie um die unterdrückten Erinnerungen als „Psycho-Hit der frühen 90er-Jahre“ entlarvt.”

Die ausführlichste Untersuchung stammt aus den USA. Die Studie des „National Center on Child Abuse and Neglect“ über rituellen satanischen Missbrauch, in der in fünf Jahren 11.000 Personen – überwiegend Therapeuten – befragt und über 12.000 Fälle untersucht wurden, konnte keinen einzigen Verdachtsfall bestätigten. Auffallend dabei war, dass über 80 Prozent der gemeldeten Fälle auf nur 1,4 Prozent der Befragten zurückgingen.[10]

Diesen beruhigenden Erkenntnissen folgten in den 90er-Jahren Hunderte Schadenersatzklagen gegen amerikanische Therapeuten, die auf Basis der nun als pseudowissenschaftlich entlarvten Theorie der unterdrückten Erinnerungen angebliche Missbrauchserinnerungen provoziert hatten. Die Klagen führten fast ausnahmslos zum Erfolg. Der größte Schadenersatzanspruch belief sich auf 10,6 Millionen US-Dollar, ein selbst für amerikanische Verhältnisse hoher Betrag. Selbst führende Vertreter der Pressure Groups distanzierten sich von ihren früheren Aussagen, und die Theorie um die unterdrückten Erinnerungen wurde als „der Psycho-Hit der frühen 90er-Jahre“ entlarvt.[11]

Der „Psycho-Hit“ schwappt nach Deutschland

Mit zehnjähriger Verspätung ist das Thema „unterdrückte Erinnerungen“ auch in Deutschland angekommen. Dies geht einher mit der Ausbreitung einschlägiger Pressure Groups, die sich dieses Themas annehmen und es in die Öffentlichkeit tragen. Eine dieser Gruppen ist der deutsche Ableger der „International Society for the Study of Dissociation“ (ISSD).[12] In diesen Zusammenhängen sind auch Ulla Fröhling und Michaela Huber aktiv, zwei der wichtigsten Verfechterinnen der Theorie der unterdrückten Erinnerungen. In der Szene zählen ihre Bücher zu den einflussreichsten Werken. In Fröhlings Roman Vater unser in der Hölle wird die Geschichte einer Frau erzählt, die sich in Therapie an rituellen satanischen Missbrauch in ihrer Kindheit zu erinnern beginnt. Im Nachwort des Romans wird Sympathie für die in den USA längst verworfene Therapieform zum Ausdruck gebracht. Sie zweifelt darin sogar bedeutende Freisprüche in Missbrauchs-Verfahren in Deutschland an. Diese Prozesse von Nordhorn, Coesfeld, Flachslanden und Worms sind als Skandale in die deutsche Justizgeschichte eingegangen: In den Jahren 1991 bis 1997 redeten „Aufdeckerinnen“ Kindern mittels suggestiver Befragung nachweislich Erinnerungen an Missbrauch ein. Es kam zu einer Missbrauchspanik und Massenanschuldigungen. Alle Angeschuldigten wurden – zum Teil wegen erwiesener Unschuld – freigesprochen, und es kam massive Kritik an den Methoden der an der Aufklärung beteiligten feministischen Kinderschutzvereine wie „Wildwasser“ oder „Zartbitter“ auf. So stellte Richter Hans Lorenz im dritten Wormser Prozess fest, „die Kinder konnten sagen, was sie wollten. Alles trug zur Festigung des Verdachts bei, sie seien sexuell missbraucht worden“[13] und die „ideologische oder feministische Voreingenommenheit lasse befürchten, dass es noch ähnliche Verfahren geben werde“.[14]

„Kannibalismus in Deutschland“?

Vor diesem Hintergrund scheint auch die eingangs erwähnte ZDF-Reportage in einem anderem Licht. So kommen Zweifel auf an den Erklärungen, die in „Kannibalismus in Deutschland“ von Fromm für die Ursachen der Missbrauchs- und Foltererinnerungen gegeben werden – vor allem, wenn man sich anschaut, welche Experten darin zu Wort kommen: So wurde die Therapeutin des in der Reportage gezeigten Mädchens, Dagmar Eckers, als anerkannte Expertin interviewt. Sie ist als Ansprechpartnerin der deutschen Arbeitsgruppe Kinder der ISSD aufgeführt und bereits öfters vor die Kamera getreten, um vermeintlich wissenschaftlich fundierte Ansichten zu vertreten – z.B. in einer ähnlichen Reportage des ZDF von Rainer Fromm, die am 25. Juni 2002 ausgestrahlt wurde: Sie ist darin mit einem aufgelösten Kind vor der Kamera zu sehen.[15]
In der Folge traten Renate Rennebach und Solveig Prass an die Öffentlichkeit[16]Rennebach, ehemalige Bundestagsabgeordnete der SPD, rief die Enquetekommission des Bundestages zu Sekten und Psychogruppen ins Leben. Solveig Prass, Geschäftsführerin der sächsischen Eltern- und Betroffeneninitiative (EBI), berichtete gegenüber der Nachrichtenagentur ddp, dass sie derzeit fünf Opfer ritueller Gewalt betreue, die teilweise von Gehirnwäsche und Menschenopfern berichteten.[17]Rennebach und Prass hielten 2002 auf der Veranstaltung „Satanismus und Rechtsextremismus: Brüder in Wort und Tat?“ Vorträge, zusammen mit Ulla Fröhling, Rainer Fromm und Ingolf Christiansen.[18]Hieraus ergibt sich das Bild, dass die Recherchen von Fromm sehr stark auf Informationen dieser Pressure Groups beruhen, wobei er seine Recherchen auffällig oft als „absolut seriös“ bezeichnet. Ebenso auffällig ist aber auch, dass er in seiner Reportage das Syndrom der falschen Erinnerungen mit keinem Wort erwähnte.

Doch auch in Deutschland bildet sich eine Sensibilität für die problematische Erzeugung falscher Erinnerungen und multipler Persönlichkeitsstörungen durch moderne Therapieansätze heraus. In einer Dokumentation der Sendereihe die story in der ARD berichtet der Filmemacher Felix Kuballa von der angeblich multiplen Persönlichkeit Elisabeth Reuter, die neun Jahre lang zu Unrecht glaubte, von ihrem Vater missbraucht worden zu sein, und in der sich 32 Persönlichkeiten herausbildeten. Gegen ihren Therapeuten hat sie mittlerweile Klage eingereicht. Dies dürfte der erste Fall in Deutschland sein, in der sich ein Therapeut wegen der Induktion falscher Erinnerungen vor Gericht verantworten muss. „Es ist ‚die story’ vom Aufstieg und Niedergang des Psychohits der letzten Jahrzehnte“, heißt es in der Vorankündigung des Westdeutschen Rundfunks.[19]
Es bleibt zu hoffen, dass die „Theorie der unterdrückten Erinnerungen“ auch hierzulande schnell wieder verworfen wird – schneller als in den USA, denn schließlich liegen die Beweise bereits auf dem Tisch. Die Leidtragenden solcher pseudowissenschaftlichen Experimente sind die echten Missbrauchsopfer, deren Schilderungen man künftig mit größerer Skepsis begegnen wird, und solche, die sich zu Unrecht einreden lassen, sie seien missbraucht worden. Denn aus so mancher Winterdepression ist durch Therapie eine Missbrauchserinnerung geworden.

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