19.12.2013

Statistik: Malen nach Zahlen

Von Patrick Jütte

Mit Statistiken werden politische Vorhaben oft als zwingend dargestellt. So stehlen sich Politiker aus der Verantwortung, Ihr Handeln zur Debatte zu stellen. Denn Zahlen sagen nicht, was zu tun ist, sondern dienen bestenfalls nur dem politischen Argument, meint Patrik Jütte.

In nicht wenigen politischen Debatten unserer Tage schockiert man sich gerne gegenseitig mit vereinzelten statistischen Befunden, die eigene Forderungen nach staatlicher Gegenregulation als alternativlos, ja bisweilen indiskutabel ausweisen sollen. Zahlen werden zum Teil dahingestellt, als sprächen sie in ihren politischen Konsequenzen für sich selbst. Ein passendes Beispiel hierfür bot der von den Grünen im Bundestagswahlkampf geforderte Veggie-Day. Der Spiegel setzte dem Leser seinerzeit einen Test [1] vor, in dem er Schätzungen dazu anstellen durfte, welche Mengen an Abgasen, Kosten und Tierleben durch einen solchen Tag jährlich eingespart würden: 60.000 oder 10 Millionen Schweine? 792.000 oder 18 Millionen Tonnen Kohlendioxid? [2] Lag man häufig richtig (meistens waren es die höchsten Angaben), dann wurde einem ein kritisches Fleischesserbewusstsein bescheinigt.

Freilich, mit solchen Tests ist man schnell bei der Hand. Aber gerade dadurch tritt eine populäre Tendenz deutlich zutage: Manch ein Statistikfreund erwartet, unwillige Skeptiker allein schon durch seine bedrohlich anmutenden Hochrechnungen erschlagen zu können. Bisweilen werden diese denn auch wie Drohungen verwendet und den Leuten „vorgeworfen“, in der Überzeugung, dass zumindest die fundierten Studien [3] wie Totschlag-Argumente gegen die politischen Ambitionen der Anderen und für die eigenen wirken würden. Gegen bloße Zahlen lässt sich schließlich schlecht Einspruch erheben. Ihrer faktischen Macht vermag sich niemand zu erwehren, ohne sich damit zugleich als Ignorant zu profilieren.

„Bisweilen werden Hochrechnungen wie Drohungen verwendet und den Leuten ‚vorgeworfen‘.“

Auf solch statistische Strategie wird gewiss auch von jenen Politikern gesetzt, deren ausufernde Wohltaten und Kontrollbegehren inzwischen so gut wie jeder konzeptuellen Überzeugungskraft entbehren. So zum Beispiel im jüngsten Aufruhr um ein Tempolimit auf Autobahnen. Der SPD-Parteivorsitzende Sigmar Gabriel war diesbezüglich zu folgendem Befund gelangt: „Alle Unfallstatistiken zeigen, dass damit die Zahl der schweren Unfälle und der Todesfälle sinkt.“ [4] Seine Forderung sah er mit diesem Hinweis als ausreichend begründet an. Womöglich weil er davon ausging, dass es sich beim Tempolimit weniger um eine politische Frage handle, für die sich Pro und Contra finden ließen, als vielmehr eine wissenschaftliche Ableitung, die er uns nur auszurechnen brauchte.

Dass aber selbst die Reduktion von Unfällen kein unbedingter Imperativ ist, fällt dabei unter den Tisch. So vernünftig es bleibt, das Leben als höchstes Maß anzulegen, es ist doch nicht das einzige. Wer zwischen statistischem und individuellem Leben zu unterscheiden weiß, der weiß auch, dass die bedingungslose Bewahrung des Letzteren in einer konkreten Unfallsituation keineswegs ausschließt, über die Verhältnismäßigkeit von solchen Eingriffen verhandeln zu können, durch die statistische Risiken verringert werden sollen. [5] Kurz gefragt: Wie viel Freiheit ist uns das letzte Quantum Sicherheit noch wert? Um diese Frage sinnvoll beantworten zu können, müssen zunächst einmal die Werte und Interessen der Kontrahenten offen gelegt werden. Wer diese hinter angeblich unumstößlicher „Evidenz“ verschwinden lässt und dadurch Selbstverständlichkeit suggeriert verhindert einen angemessenen politischen Klärungsprozess. Das Bedürfnis nach höheren Geschwindigkeiten als 130 km/h wie auch das nach einem Fleischangebot in Kantinen können gar nicht erst ins Gewicht fallen, solange sie als belanglose Nebensächlichkeiten erscheinen und abgetan werden.

Kontrolle ist besser – als was überhaupt?

Dass uns in einigen Fällen selbstverständlich erscheint, was aus statistischen Befunden zu folgen hat, ist Ausdruck eines Mangels an Alternativkonzepten zur zeitgenössischen Deutungsvorlage. Der Wert der Freiheit fällt zunehmend dem Siegeszug der Sicherheit in allen möglichen Lebensbereichen zum Opfer, seien es Beruf, Gesundheit, Ernährung oder Umwelt. Wo auch immer wir die quantitativen Risiken und Ungleichgewichte aufzudecken meinen, der erste Impuls scheint immer derselbe zu sein: Erst einmal unter Kontrolle stellen und einschränken, gerne auch provisorisch! Die qualitative Frage „Wie wollen wir leben?“, die womöglich auf innovative Abwege führen könnte, wird derweil kaum noch vermittelt und löst sich in der technokratischen Antwort auf: „So solltet und werdet ihr leben!“

Was darin zu kurz kommt, sind unsere Gestaltungsfreiräume, sowohl auf individueller als auch auf gesellschaftlicher Ebene. Auf erstere wirkt sich zunehmend der Glaube aus, man sei als Teil der Bevölkerung ihrer statistischen Wirklichkeit ausgeliefert. Als vermöge niemand mehr, seinen Lebensweg nach Maßgabe eigener Interessen selbst zu bestimmen und zu entwickeln. Solches Denken fördert Unverantwortlichkeit, indem es die Bürger zu Opfern großer Zahlen stilisiert, um anschließend ein staatliches Schutzprimat einfordern zu können.

Beispielsweise fragt man sich, was karriereorientierte Frauen davon halten sollen, dass so gut wie alle Parteien ihnen angesichts statistischer Ungleichverteilungen ihre Chancenlosigkeit attestieren. Politiker erhalten dadurch die Gelegenheit, sich als hilfsbereite Überväter aufzuspielen und die Unterdrückten hochzuquotieren. Dass derweil nicht jede ungleiche Verteilung immer auch einen ungerechten und zu beseitigenden gesellschaftlichen Missstand kennzeichnet, das geht zum Beispiel (und ironischerweise) aus einem Papier des Bundestages zum staatlich geförderten Equal Pay Day hervor. Darin erfährt man, dass Frauen durchschnittlich 22 Prozent weniger als Männer verdienen. [6] Erstaunlicherweise liefert die Analyse zugleich auch nachvollziehbare Gründe dafür: geschlechtsspezifische Berufe, längere, durch Kinder bedingte Erwerbspausen sowie oft einfach ein geringerer Aufstiegswille. Diese anonymen Faktoren mögen alle ihre durchschnittliche Wirkung haben, sie sind darum doch keine Umstände, die nicht auch weitestgehend in der Hand jeder einzelnen Frau selbst lägen. Wie deren jeweilige Lebensgestaltungen letztlich ausfallen, ist nicht Sache des Staates, sondern der eigenen Entscheidungen und persönlichen Zufriedenheit.

„Auf gesellschaftlicher Ebene wirken Konzeptlosigkeit und wissenschaftsgläubige Risikoscheu zusammen für den Stillstand.“

Auf gesellschaftlicher Ebene nun wirken Konzeptlosigkeit und wissenschaftsgläubige Risikoscheu zusammen für den Stillstand. Die Menschen lassen sich von zunehmend reibungslosen und in ihren Idealen abgetretenen Parteien nur noch wenig mobilisieren, das wichtigste Ziel zur nächsten Wahl ist daher vor allem, Aufregung zu vermeiden. [7] An Innovationen fallen uns nicht zunächst die mit ihnen verbundenen Möglichkeiten ins Auge, sondern vor allem die Gefahren, deren bloße Möglichkeit bereits ausreicht, um vorgreifende Verbote einzuführen.

Das zeigte sich etwa an der Diskussion um den transgenen Mais, die eigentlich keine war. Nachdem ihm in wissenschaftlich äußerst mangelhaften Erhebungen [8] potentielle Krebsrisiken nachgesagt worden waren, genügte das zur Unterfütterung deutscher Vorurteile gegen die „Grüne Gentechnik“. Hierzulande isst nämlich nicht nur das Auge mit, sondern auch das statistische Gewissen und das verdirbt manch einem den Geschmack. Der eigentliche Verwendungszweck des Genmais, nämlich Erträge zu steigern und den Einsatz von Herbiziden überflüssig zu machen, durfte in der Folge konsequent vernachlässigt werden – selbst dann noch, als die Fachzeitschrift Food and Chemical Toxicology die besagte Studie wieder zurückgezogen hatte. Denn viele Politiker hatten es sich zu diesem Zeitpunkt bereits in ihrer selbstsicheren Ablehnung gemütlich gemacht.

Die Einschätzung zukunftsweisender Neuerungen allein der Expertise zu überlassen, bedeutet, den Entscheidungsfindungsprozess zu entpolitisieren und ein Stück weit tiefer in die Technokratie zu treiben. Dass aber die fachspezifisch beschränkten Datenlieferanten immer auch die geeignetsten Gestalter sind, ist keinesfalls ausgemacht. Ihre bedrohlichen Szenarien werden jedoch bereitwillig aufgegriffen, von Regierungen, die sich nur noch insofern vorsichtig ans Steuer wagen, als es den Kurs zu halten gilt.

Bilder und Abbilder der Wirklichkeit

Natürlich soll sich hier nicht gegen eine solide Datenbasis und für eine realitätsferne Politik ausgesprochen werden. Seriöse Statistiken können in Diskussionen, die beanspruchen, vernünftig geführt zu werden, nicht einfach ingoriert werden – ihnen muss zumindest eine Art „Vetorecht“ [9] zuerkannt werden. Dieses wurde beispielsweise in der Frage um die Vorratsdatenspeicherung erfolgreich geltend gemacht. [10] Nach dem Gutachten des Max-Planck-Instituts fiel zumindest die Behauptung, man werde mit dieser Maßnahme eine Erhöhung der Aufklärungsquote erreichen, als stichhaltiges Argument weg.

„Seriöse Statistiken können in Diskussionen nicht einfach ingoriert werden – ihnen muss eine Art ‚Vetorecht‘ zuerkannt werden.“

Was man von statistischen Befunden hingegen nicht erwarten kann, ist eine Anleitung zum richtigen Umgang mit ihnen. Dieser ergibt sich erst aus dem Zusammenspiel einer kritischen Haltung – Offenlegung von Erhebungsmethoden, Anerkennung gegenteiliger Studienergebnisse und Vermeidung simplifizierender Wiedergaben – und dem Kontext einer politischen Zielvorstellung. Diese auszuformulieren zählt zu den Aufgaben der Parteien. Ihre Programme dienen als Wegweiser sachlicher Erwägungen und müssen darum klar positioniert und folglich auch kontrastiert sein. Mag man selbst seine Studien auch für quantitative Abbilder der Wirklichkeit nehmen, handlungsrelevant werden sie erst, wenn sie in ein politisches Gesamtkonzept eingebettet werden. Damit kommen wir also zu der einfachen Einsicht, dass Zahlen für sich noch kein politisches Argument ergeben, sondern ihm nur dienen oder aber es schwächen können. Wer das verkennt und meint, die Tatsachen würden für sich sprechen, der degradiert jeden Diskussionsteilnehmer inklusive sich selbst zu Statisten einer selbstläufigen Technokratie.

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