01.09.2005

Srebrenica: Salz auf die Wunden des Krieges

Kommentar von David Chandler

Das Versprechen der internationalen Gemeinschaft, in Bosnien Gerechtigkeit zu üben, hat Hürden für die Versöhnung geschaffen.

Auch zehn Jahre nach der Eroberung von Srebrenica ist von einer Aussöhnung zwischen muslimischen, kroatischen und serbischen Bosniern wenig zu spüren. Das Gedenken an das Massaker, bei dem mehrere tausend Muslime getötet wurden, nachdem der durch die UN geschützte Ort im Juli 1995 an die bosnisch-serbischen Kräfte unter General Ratko Mladic fiel, war nur für die Vertreter des Westens ein „Friedensfest“. Regionale wie internationale NGOs äußerten sich hingegen verbittert und unversöhnlich. Srdjan Dizdarevic, Leiter des Helsinki Human Rights Committee in Bosnien, sagte: „Am zehnten Jahrestag wäre Vergebung für alles völlig unsinnig und inakzeptabel.“[1]


Wer sich mit Kriegsverbrechen befasst, dem werden Vergebung und Versöhnung immer ein Gräuel bleiben. Einige sehen in der Versöhnung eine „Leugnung des Völkermords“ und fragen, wie es ohne Gerechtigkeit für die Opfer jemals Versöhnung geben könne. Viele westliche Journalisten interpretieren die Versuche, Srebrenica zum Anlass gemeinsamer Bemühungen um eine multiethnische Zukunft in der Region zu nehmen, als Reinwaschen einer schmutzigen Wahrheit.[2] Bis heute, so heißt es, gäbe es keine Gerechtigkeit, da der bosnische Serbenführer Radovan Karadzic und sein General Mladic vom Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) in Den Haag immer noch nicht belangt worden seien. Die Angehörigen der Toten von Srebrenica beklagen, viele Verantwortliche würden gar nicht angeklagt, und die Versuche des ICTY, für Gerechtigkeit zu sorgen, würden durch Zeugenabsprachen kompromittiert. Aus Opferperspektive scheint die Umsetzung von Gerechtigkeit so gut wie unerreichbar.


Kriegsverbrechen, insbesondere im Fall eines Bürgerkriegs, lassen sich mit der Rechtsform der Entschädigung nicht angemessen behandeln. Das Recht ist effektiv und legitim, solange ihm ein sozialer und politischer Konsens zugrunde liegt. Gerade dieser existiert jedoch in Bosnien nicht. Der Versuch, das Recht auf die im Bosnienkrieg begangenen Gräueltaten anzuwenden, muss daher zu Frustration, Enttäuschung und Spaltung führen. Am deutlichsten zeigt sich das im Fall von Srebrenica, den das ICTY zum wichtigsten Fall von Völkermord des Bosnienkrieges erklärt hat. Die Angehörigen der Opfer wurden in ihrer Hoffnung auf Anerkennung und Entschädigung bestärkt. Ungeachtet der Zahl internationaler Gedenkfeiern oder der Länge der Haftstrafen für Karadzic, Mladic und andere werden sie jedoch nie Zufriedenheit erlangen können.


Die ansässigen Serben reagierten auf die Gedenkfeiern für Srebrenica mit der Forderung nach Anerkennung ihrer eigenen Leiden. Bei einer eigenen Zeremonie errichteten sie ein sieben Meter hohes Kreuz in einer benachbarten Stadt, zum Gedenken an 49 Serben, die hier bei einem Überfall durch muslimische Armeekräfte getötet wurden.[3] Sie betonten, auch Naser Oric, der bosnisch-muslimische Heerführer in Srebrenica, stehe derzeit in Den Haag wegen Kriegsverbrechen vor Gericht, die er während der Verteidigung der Stadt begangen hat. Generalmajor Lewis MacKenzie, der erste Befehlshaber der UN-Friedenstruppen in Sarajevo, sagt: „Die aktuelle Beweislage deutet darauf hin, dass er für die Ermordung genauso vieler serbischer Zivilisten außerhalb von Srebrenica verantwortlich ist, wie die bosnisch-serbische Armee innerhalb der Stadt bosnische Muslime umgebracht hat.“[4] Eine Belgrader Zeitung veröffentlichte kürzlich in einer 16-seitigen Beilage mit dem Titel „The Book of the Dead“ die Namen von 3287 Serben aus der Region von Srebrenica, die im Bosnienkrieg umkamen. Aus Sicht der Familien der im Konflikt getöteten Serben verdienen es diese Toten nicht weniger, als Opfer anerkannt zu werden.[5]
Im Streit um das Gedenken an Srebrenica ging es weniger um die Leugnung von Kriegsverbrechen als um die Anerkennung persönlichen Leids. Zeuge einer solchen Diskussion wurde ich, als ich unlängst die bosnisch-muslimische Stadt Konjic besuchte, die etwa auf halbem Weg zwischen Sarajevo und Mostar liegt.
Auf einer Konferenz hielt ich einen Vortrag über Demokratie und Menschenrechte, und vor großem Publikum wurde der Dokumentarfilm Slijepa Pravda (Blind Justice) der Regisseure Aldin Arnautovic und Refik Hodzik vorgeführt. Der Film forderte, das ICTY solle Gerechtigkeit üben, und im Interview äußern sich verschiedene Opfer und NGO-Vertreter kritisch über das diesbezügliche Versagen des ICTY. Thema des Films war das etwa sieben Kilometer von Konjic entfernte Internierungslager Celebici, in dem Serben misshandelt wurden, was Anlass eines der ersten Kriegsverbrecherprozesse des ICTY war.
Dem Film Blind Justice wurde ein Film eines lokalen Filmemachers gegenübergestellt. Dieser fünfminütige Kurzfilm zeigte eine Autofahrt durch Konjic am Ende des Krieges im Jahr 1995; gesprochen wurde nicht, es gab nur musikalische Untermalung, als die Verheerung der Stadt (durch serbischen Beschuss) vor Augen geführt wurde. Im Publikum sagten viele Leute aus der Region, der erste Film sei einseitig, weil er sich auf Kosten der Anerkennung ihres eigenen Leidens (dem keine besondere internationale Anerkennung zuteil werde) nur auf das Leid der anderen konzentriere (deren Anliegen in Den Haag als Kriegsverbrechen behandelt werden).
Die internationale Aufmerksamkeit, die den Kriegsverbrechen zuteil wird, hat eine überaus feindselige Stimmung geschaffen, die den Aufrufen zur Versöhnung entgegensteht. Das wurde mir klar, als die Regisseure in ihrer Dokumentation Blind Justice in Prijedor eine politische Vereinigung von Jugendlichen interviewten. Die Jugendlichen mit unterschiedlichem ethnischen Hintergrund, die sich selbst „For Prijedor“ nennen, wollen gemeinsame Interessen an die erste Stelle setzen und eine multiethnische Alternative zu den etablierten politischen Parteien bieten. Die Regisseure fragten die Sprecher von „For Prijedor“ nach ihrer Einstellung zu den Kriegsverbrechen und zur Gerechtigkeit für die Opfer, und sie antworteten, sie hätten bezüglich der Kriegsverbrechen kein Programm – und auf weitere Nachfrage sagten sie, der Krieg sei ihnen egal.
Als ich Refik Hodzic, einen der beiden Regisseure, fragte, warum er gegenüber dem zukunftsorientierten Ansatz der Gruppe so ablehnend sei, sagte er, deren „exotischer Multikulturalismus“ sei unglaubhaft. Er sei für eine Gruppe in Prijedor unweit der Internierungslager Omarska, Keraterm und Trnopolje unverzeihlich und stelle eine Beleidigung der Toten dar.
 

„Die fortgesetzte westliche Aufmerksamkeit für den Krieg stärkt tragischerweise die reaktionärsten und rückwärts gewandtesten Kräfte in Bosnien.“



Der Ruf nach Gerechtigkeit verlangt, dass die internationale Gemeinschaft ihr Versprechen einhält, die Opfer zu entschädigen und die Kriegsverbrecher zu bestrafen. Aber die vom ICTY verhängten Urteile sind natürlich selektiv, und es ist klar, dass das rechtliche Vorgehen nicht jede Kriegshandlung erfassen und nicht jedes Opfer anerkennen kann. Die Ansprüche von Kriegsopfern auf Anerkennung lassen sich prinzipiell nicht befriedigen. Sind die jüdischen Opfer des Dritten Reichs damit zufrieden, dass Gerechtigkeit geübt wurde? Oder die Angehörigen der Gewaltopfer in Nordirland? Die Versöhnung nach einem Krieg hat kaum etwas mit rechtlichen Urteilen zu tun, sondern vielmehr mit dem praktischen Bemühen, mit dem Leben wieder zurande zu kommen und in der Gegenwart gemeinsame Interessen zu entwickeln. Die englisch-deutschen Beziehungen hätten sich aller Wahrscheinlichkeit nach kaum so weit zum Positiven entwickelt, wenn jeder Luftangriff des Zweiten Weltkriegs rechtlich hätte abgeurteilt werden müssen, bevor an Versöhnung zu denken gewesen wäre.
Aufgrund der internationalen Einstufung bestimmter Fälle des Bosnienkrieges als Kriegsverbrechen gibt es auch zehn Jahre nach Kriegsende kaum Chancen auf Versöhnung. Bosnien ist stark abhängig von internationaler Regulierung und Unterstützung und wird von einem externen Beamten geführt, der die Macht hat, Gesetze zu erlassen und gewählte Politiker zu entlassen. Die Verlängerung der externen Regulierung über die im Dayton-Vertrag vorgesehene einjährige Übergangsphase hinaus wurde im Wesentlichen durch die internationale Beachtung, die den Verfehlungen aller Seiten zuteil wird, und den Wunsch nach von außen geübter Gerechtigkeit legitimiert.
Ohne Zusicherung der Gerechtigkeit von außen stünden die Bosnier unter erheblich größerem Druck, hier und jetzt zum Tagesgeschäft überzugehen und gemeinsame Interessen zu entwickeln. Diejenigen, die für Entschädigung vergangenen Missbrauchs gestritten haben, wären mit dem offeneren Widerspruch derer konfrontiert, die ein Interesse an der Überwindung der Vergangenheit haben, um sich dem gemeinsamen Überleben zuzuwenden.
So hat die fortgesetzte westliche Aufmerksamkeit für den Krieg tragischerweise die reaktionärsten und rückwärts gewandtesten Kräfte in Bosnien gestärkt. Es überrascht nicht, dass die am sozialen Leben Bosniens am wenigsten beteiligten Leute am lautesten über den Krieg reden, seien es Emigranten oder die, die kaum von lokalen Verbindungen abhängen, weil sie für international finanzierte NGOs arbeiten. Diese Gruppen konnten die politische Agenda diktieren und die Versöhnungspolitik torpedieren. Ihr soziales Gewicht wurde künstlich verstärkt, da die Politik des kleinen Staates durch die internationale Gemeinschaft dominiert wird. Ohne die politische, soziale und wirtschaftliche Abhängigkeit von externen Akteuren, die durch die Opferrolle Bosniens legitimiert werden, wäre der Krieg aller Wahrscheinlichkeit nach längst nicht mehr ein so zentrales Thema.

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