21.05.2015

Sozialstaat: Hamsterrad ohne Perspektive

Essay von Kai Rogusch

Die Jubelmeldungen über deutsches „Jobwunder“ und „boomende“ Wirtschaft verschweigen, dass sich unsere Entwicklungsdynamik seit Jahrzehnten abschwächt. Der „aktivierende“ Sozialstaat, kritisiert Kai Rogusch, drängt die Menschen in ein absurdes Räderwerk

Zurzeit wird überall verkündet, wie gut es uns hier in Deutschland geht. Politik und Medien werden nicht müde, die deutsche Wirtschaft als ökonomisches Kraftzentrum des Kontinents darzustellen. Als Wachstumslokomotive ziehe Deutschland das kriselnde Europa aus dem Sumpf, so der Tenor. Um sich von der Absurdität der Behauptung, Deutschlands Wirtschaft „boome“, zu überzeugen, sei zunächst ein Blick auf Abbildung 1 empfohlen. Konfrontiert mit dem zarten Hinweis, dass sich Deutschlands Wachstumsdynamik in Wirklichkeit seit Jahrzehnten kontinuierlich abschwächt und sogar im EU-Vergleich hinkt, kaprizieren sich viele Beobachter auf die Antwort, dass dies bei hochentwickelten Volkswirtschaften wie der unsrigen nun mal unvermeidlich sei. Deutschlands Wirtschaft habe einen Grad an Saturiertheit erreicht, der von nun an ein entspannteres Einpendeln auf einen immer gemächlicheren Wachstumspfad einleite.



Abbildung 1: Auszug aus der neuesten Statistik zur Produktion im Produzierenden Gewerbe (Industrie und Bau) von der Deutschen Bundesbank. (Quelle: Flassbeck Economics)


Die fetten Wirtschaftswunderjahre seien nun mal unwiederbringlich Geschichte, heißt es. In den Aufbaujahren der Nachkriegsbundesrepublik – von 1952 bis zum Jahr 1961 – wuchs die Wirtschaft noch durchschnittlich um stolze 7,8 Prozent. In den folgenden Jahrzehnten schwächte sich die Wachstumsdynamik hingegen immer weiter ab. Von 1972 bis 1981 sank die Rate auf 2,6 Prozent und von 2002 bis 2011 gar auf 1,1 Prozent. Anstatt diese Entwicklung als problematisch zu erachten, wird sie von einer wachsenden Zahl von Beobachtern als „natürlich“ gefeiert. Unsere Volkswirtschaft sei reif geworden, weshalb von nun an Aspekte der Lebensqualität oder des Glücks anstelle abstrakter Kennziffern wie dem Bruttoinlandsprodukt in den Mittelpunkt rücken sollten.

„Stagnation gilt uns heute als ‚dynamisch‘“

So einleuchtend solche wachstumsskeptischen Argumente heute für viele Menschen erscheinen mögen, so erschreckend wirken sie, wenn man ein wenig darüber reflektiert, was sie eigentlich bedeuten. Fast könnte man meinen, unser politisches Führungspersonal und ein Großteil der Medien glaubten, dass wir im heutigen Deutschland so etwas wie den Zenit der Menschheitsentwicklung erreicht hätten. Wenn selbst bescheidene Wachstumsraten von zwischen ein und zwei Prozent heute zu einem „kräftigen Aufschwung“ umgedeutet werden, bedeutet das, dass wir uns mittlerweile an Maßeinheiten messen, die analog zu Einsteins Relativitätstheorie immer weiter zu schrumpfen scheinen: Dann nämlich erscheinen uns volkswirtschaftliche Sachverhalte, die aus Sicht tatsächlich noch boomender Weltregionen als „Stagnation“ gekennzeichnet werden, als „dynamisch“ und rasant, obwohl es nur im Schneckentempo vorangeht.

Hinter dieser verzerrten Realitätswahrnehmung steckt eine grundlegende Neujustierung unseres Denkens: Die Gesellschaft hat sich von der Zukunft abgewandt. Die Idee, dass Entwicklung per se etwas Positives ist, befindet sich auf dem Rückzug. Damit einher geht auch ein neues Verständnis dessen, was Arbeit bedeutet.

Noch bis in die 1970er-Jahre hinein begriff sich selbst der einfachste Arbeiter vor dem Hintergrund, dass es eine nennenswerte Wirtschaftsdynamik gab, als Anpacker, der zum gesellschaftlichen Fortkommen beitrug – und über kontinuierliche Lohnerhöhungen an den Segnungen des Produktivitätsfortschrittes teilhaben konnte. Im steigenden Konsum breiterer Bevölkerungsschichten drückte sich auch eine Erwartungshaltung gegenüber künftigen Wohlstandszuwächsen aus, die zu weiterer Kreativität und fortlaufenden Anstrengungen zur Steigerung des Wirtschaftswachstums animierte.

„Die Gesellschaft hat sich von der Zukunft abgewandt“

Es war dieser Zusammenhang, der für viele den Begriff „Fortschritt“ greifbar werden ließ. Menschen verstanden sich selbst als Teilnehmer einer geschichtlichen Entwicklung, die nach vorne wies und zogen daraus nicht zuletzt auch persönliche Zufriedenheit. Von solch einer zukunftsorientierten Auffassung von Lebensqualität sind wir heute weit entfernt. Die Lebenswirklichkeit vieler Bürger unseres Landes verheißt vor allem routinemäßige Perspektivlosigkeit. Das zeigt sich nicht nur an der verhaltenen Reallohnentwicklung der letzten 20 Jahre, die anzeigt, dass der normale Arbeitnehmer nicht besser dasteht als Mitte der 1990er-Jahre. Auch ein kritischer Blick auf die angeblichen Erfolge auf dem deutschen Arbeitsmarkt fördert zutage, dass wir es mit einem grundlegenderen Problem zu tun haben.

Denn anders als das Gerede von der angeblichen „Vollbeschäftigung“ am Arbeitsmarkt vorgibt, müssen nach Herausrechnung beschönigender Effekte der Arbeitslosenstatistik immer noch (bei selbst wohlwollender Betrachtung) etwa vier Millionen Menschen als arbeitslos oder zumindest unterbeschäftigt gelten. Und auch der stolze Hinweis, dass wir heute eine Rekordzahl an Beschäftigten vorweisen können, relativiert sich angesichts des Trends zu einem immer geringer werdenden Arbeitsvolumen nicht nur pro Beschäftigtem, sondern aller Beschäftigten zusammen. [1]

Vor dem Hintergrund, dass sich ein schwindendes Arbeitsvolumen auf immer mehr Köpfe verteilt, wandelt sich der Charakter der gewerblichen Arbeit. „Arbeit“ bedeutet heute, wo wir das Wirtschaftswachstum und die Fortschrittsidee als überholt erachten, für viele Menschen nur noch das Eingespanntsein in ein absurdes Räderwerk ohne Anfang und Ende. Eine Reportage des Investigativjournalisten Günter Wallraff im Fernsehsender RTL wirft ein bizarr anmutendes Schlaglicht auf diese Diagnose. Sie zeigt, wie Arbeitslose von der Arbeitsagentur als Lamaführer eingespannt werden, um irgendwie über den langen Tag zu kommen (und aus der Arbeitslosenstatistik zu verschwinden). [2]

„Der Sozialstaat bezieht immer mehr Menschen in einen zunehmend unproduktiveren Wirtschaftsprozess ein“

In solche selbstzweckhaften „Maßnahmen” werden heute immer mehr Bürger „eingegliedert“. Dies ist die gerne verschwiegene Kehrseite des angeblichen „Jobwunders“. Es zeigen sich vielmehr die Konturen eines gewandelten und in seiner Bedeutung auch gestärkten Sozialstaates. Ihm geht es nun darum, so viele Menschen wie möglich auf Teufel komm raus in „Arbeit“ zu bringen – so sinnentleert diese auch erscheinen mag. So trugen die unter dem Motto „Fördern und Fordern“ eingeleiteten Hartz-Reformen im letzten Jahrzehnt zum Wachstum von sozialstaatlichen Mischgewerben bei, in denen Arbeitslose in den Arbeitsmarkt einbezogen werden sollen.

Weil immer mehr Menschen in den Arbeitsmarkt gedrängt werden, gewinnt dieser „aktivierende“ Sozialstaat tendenziell an Bedeutung. Denn immer mehr Menschen werden zu Beitragszahlern. Eine weitere Folge dieser Entwicklung liegt darin, dass Pflege- und Betreuungstätigkeiten, die früher noch privat erledigt wurden, heute zunehmend kommerzialisiert werden – und somit auch verschult und akademisiert. Die Politik zum Ausbau von Krippenplätzen schafft wiederum neue Arbeitsplätze in einer wachsenden Sozialindustrie. Sie gibt den Bürgern zugleich zu verstehen, dass nur die Teilnahme am ökonomisch vergüteten und in das Sozialsystem integrierten Erwerbsleben – so gering dies auch entlohnt sein mag – gesellschaftlich akzeptabel sei.

So bezieht der Sozialstaat immer mehr Menschen in einen zunehmend unproduktiveren Wirtschaftsprozess ein, in den überdies auch noch immer weniger investiert wird. [3] Es scheint fast so, als ginge es heutiger Sozialpolitik vor dem Hintergrund der chronischen Wachstumsschwäche nur noch darum, jeden Arbeitsfähigen irgendwie ins Hamsterrad der Erwerbstätigkeit einzuspannen – selbst dann, wenn weder eine individuelle oder gesellschaftliche Perspektive zum Besseren erkennbar ist. Wir sollten darüber debattieren, wie wir diese perspektivlose Maschinerie im Namen einer besseren Zukunft wieder auf ein vernünftiges und menschenverträgliches Maß reduzieren können.

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