01.05.2005

Skandalöse Politik

Kommentar von James Heartfield

Politische Skandale haben seit den 90er-Jahren die Stellung der gewählten Volksvertreter gegenüber demokratisch nicht legitimierten Institutionen geschwächt. James Heartfield über moderne Saubermänner und wie sie den demokratischen Prozess untergraben.

Gesucht wird ein Mann mit weißer Weste, der bei der Parlamentswahl im Mai gegen Premierminister Tony Blair antritt. Der Aufruf kam von einer der führenden linksorientierten Zeitungen Großbritanniens, dem Guardian, in Anspielung auf den Journalisten Martin Bell, der als politischer Saubermann 2001 gegen den konservativen Unterhausabgeordneten Neil Hamilton antrat, der damals der Bestechung beschuldigt worden war. Heute weiß man: Bells unabhängige Kandidatur war eine Erfindung des PR-Managers der Labour Party, Alistair Campbell. Doch seinerzeit wurde sie als Protest gegen die politische Klasse gefeiert. Auch dieses Jahr hoffte die von Blair enttäuschte britische Linke offenbar wieder, mit Korruptionsvorwürfen gegen die amtierende Regierung punkten zu können.
Das gilt unter etwas anderen Vorzeichen auch für die deutsche CDU: sie hofft, die Visa-Affäre und der Ansehensverlust der Grünen werde ihr bei den bevorstehenden Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen Gewinne bescheren. Seit Monaten wird Deutschland mit Vorgängen im deutschen Außenministerium traktiert, die mindestens drei Jahre zurückliegen und mit der anstehenden Wahlentscheidung inhaltlich rein gar nichts zu tun haben. Aber scheinbar trauen Politiker ihren eigenen inhaltlichen Standpunkten weniger Mobilisierungskraft zu als dem unwürdigen Spiel mit dem verbreiteten Misstrauen gegenüber „denen da oben“.


Mitte der 90er-Jahre häuften sich in der ganzen westlichen Welt politische Skandalberichte über Bestechung, Machtmissbrauch und sexuelles Fehlverhalten führender Politiker. Am bedeutendsten war der „Tangentopoli“-Skandal in Italien. Hier ermittelten die Untersuchungsrichter gegen die Führer der wichtigsten politischen Parteien, Giulio Andreotti von den Christdemokraten (DC) und Bettino Craxi von den Sozialisten (PSI). Höhepunkt des Skandals war die Amtsenthebung der Regierung durch die Mailänder Untersuchungsrichter, die seither der politischen Klasse des Landes immer wieder gerichtlich auf den Zahn fühlen. Doch auch andere Regierungen wurden durch Skandale erschüttert, angefangen bei der von Premier Deheane in Belgien, wo am 20. Oktober 1996 in Brüssel 250.000 Demonstranten führende Politiker der Mittäterschaft bei Kindesmissbrauch beschuldigten, bis hin zur Verwicklung der Clinton-Regierung in die „Whitewater“-Untersuchung unter Kenneth Starr, in deren Gefolge die Affäre des Präsidenten mit Monica Lewinsky aufgedeckt wurde.
Die Vorwürfe gegen den konservativen britischen Abgeordneten Jonathan Aitken und den Italiener Bettino Craxi erwiesen sich letztlich als gerechtfertigt. Andere, wie die Bestechlichkeitsvorwürfe gegen Neil Hamilton, werden bis heute zurückgewiesen. Und rückblickend sind manche, wie das Sexleben von Präsident Clinton, lange nicht so bedeutend wie damals dargestellt. Andere entpuppten sich als gänzlich falsch: So kämpfte Ministerpräsident Giulio Andreotti jahrelang gegen den Vorwurf der Bestechlichkeit und sogar des Mordes. Über seine Freisprüche in den Jahren 2003 und 2004 wurde kaum noch berichtet. Bis heute erscheint er als Sinnbild der Verkommenheit italienischer Politiker.
Wie die Schlammschlacht über die vermeintlich unsachgemäße Erteilung von Visa in deutschen Botschaften zeigt, hält der Trend zur Skandalisierung an. Die Neigung, Korruption zu vermuten, hat jedoch weniger mit der Berechtigung der jeweiligen Vorwürfe zu tun als mit den allgemeinen Rahmenbedingungen, in denen diese Vorwürfe entstehen. Nicht das Verhalten von Individuen, sondern der Zusammenbruch der politischen Legitimität der regierenden Eliten führte in den 90er-Jahren zur Explosion der Korruptionsvorwürfe.
In den frühen 90er-Jahren war laut Eurobarometer die Mehrheit der europäischen Bürger mit dem Funktionieren der Demokratie in ihrem Land unzufrieden. Dieses kumulierte Ergebnis für Europa war ein überraschender Effekt des Sieges über die Linke in der vorausgegangenen Dekade. Seit den 70er-Jahren befanden sich die Eliten in einem zähen Kampf gegen militante Gewerkschaften und die Linke, die damals noch eine aktive Basis im Kern der industriellen Arbeiterschaft besaß. Doch letztlich wurde die erfolgreiche Abwehr der Linken durch den Zusammenbruch der Sowjetunion gekrönt und führte zu einer ausgeprägten Desorientierung radikaler Kräfte.
Doch das Establishment kam kaum dazu, diesen Sieg zu feiern, sondern verlor ebenfalls seine politische Kohärenz. Der Konflikt zwischen Links und Rechts war, rückblickend betrachtet, eine Institution, die die Bürger vergleichsweise stark in den politischen Prozess integrierte. Nun, ohne Bedrohung von Links, wandten sich die Mittelschichten von den rechten sowie die Arbeiterschaft von den linken Parteien ab. Neue Parteien wie die Grünen oder Jean Marie le Pens Front National sammelten die Stimmen der Unzufriedenen.
Korruptionsvorwürfe und Skandale erlangten in dieser Situation eine immer größere Bedeutung. Natürlich haben Politiker ihre Macht schon immer zum eigenen Vorteil genutzt. Doch solche Vergehen wurden selten aufgedeckt, solange die Stammesloyalitäten der Parteien intakt waren. Verflechtungen zwischen Wirtschaft und Politik werden zum Beispiel weitaus strenger beurteilt, seit die Bindung zwischen Parteien und ihrer einstigen sozialen Basis erodiert ist.
Als die Häufigkeit der Skandale eine kritische Masse erreichte, versuchten verschiedene politische Akteure, diese Stimmung für sich selbst zu nutzen. Die Labour Party wurde zu New Labour, entledigte sich ihrer Assoziation mit den als bürokratisch und korrupt geltenden Gewerkschaften und präsentierte sich als reinigende Kraft in Westminster. Korruptionsvorwürfe gegen die Tories dienten dabei als ideologisch neutralisierte Version des vormaligen Sozialismus der Labour Party, der privaten Gewinn verunglimpfte, von früheren Forderungen nach Verstaatlichung aber schon lange Abstand genommen hatte.
 

„Kampagnen gegen Korruption sind grundsätzlich undemokratisch.“



In Italien machte sich die Linke, deren Versuche, durch Koalitionen an die Macht zu gelangen, erfolglos blieben, die Kampagne „Saubere Hände“ (Mani Pulite) zu eigen. In den 70er-Jahren war die Macht der Richter vor allem für den Angriff gegen die außerparlamentarische Linke gestärkt worden. In den 90er-Jahren nahmen Richter wie Antonio di Pietro dann aber Ermittlungen gegen Vertreter des politischen Establishments auf. Richter Pietro Calogero hatte zuvor einen Präzedenzfall geschaffen, da er inhaltliche Parallelen zwischen dem Denken des Intellektuellen Antonio Negri mit dem Handeln der Roten Brigaden als Indiz für gemeinsame Verstrickung in Gewalt gewertet hatte. Nach demselben Muster wurde nun Andreotti des Mordes an Mino Pecorelli schuldig gesprochen, obwohl „das Gericht betonte, es gebe keinen Beweis, dass Andreotti direkt den Auftrag gegeben habe, Pecorelli umzubringen“ (Guardian, 15.2.03). Andreotti wurde im letzten Jahr endgültig freigesprochen. „Was die Richter in den späten 70er-Jahren mit der extremen Linken anstellten, wiederholten sie zehn Jahre später gegenüber den Sozialisten und den Anhängern von Berlusconi“, schrieb Antonio Negri (Negri on Negri, 2004, S.17).


Kampagnen gegen Korruption nutzen die Rhetorik der Demokratie, sind aber grundsätzlich undemokratisch. Man versucht, politische Veränderungen durch Manöver in Hinterzimmern zu bewirken, statt die Wähler mit politischen Argumenten anzusprechen. Das Motiv der Akteure in den meisten großen Korruptionsskandalen war in der Tat, Wählerentscheidungen zu umgehen. Das galt für linke Journalisten, die Korruptionsvorwürfe gegen die Konservativen lancierten, genauso wie für verbitterte Republikaner, die sofort nach der Wahl von Bill Clinton die Kampagne zu dessen Amtsenthebung in Gang setzten. Bei dieser Art von „Politik“ enttarnen fleißige Reporter oder Richter durch Entdeckung versteckter Dokumente, Hotelrechnungen oder Dossiers korrupte Politiker. Das ist für ideenarme Politiker einfacher, als Wähler mit politischen Argumenten zu überzeugen.
 

„Der Korruption wird heute so viel Aufmerksamkeit zuteil, da sich die Politik von Inhalten verabschiedet hat.“



Die Grenzen dieser Politik wurden 1994 in Italien offenbar, als zum Entsetzen der Linken nach dem Scheitern der Koalition von Sozialisten und Christdemokraten ausgerechnet die rechtspopulistische Forza Italia des Medienmoguls Silvio Berlusconi den Sieg davontrug. In Deutschland hingegen gelang es SPD und Grünen, die CDU und ihren vormaligen Bundeskanzler Helmut Kohl mit Vorwürfen zu deren angeblichen Schwarzgeldern nachhaltig zu diskreditieren und so ihr eigenes noch ungefestigtes Koalitionsbündnis zu stabilisieren.
Mit der Einführung formeller Regelungen und Verhaltensnormen gegen Korruption und Amtsmissbrauch entstanden daraufhin Institutionen, die Macht über die gewählten Repräsentanten ausüben, selbst aber keiner demokratischen Rechenschaftspflicht unterliegen. In Großbritannien berief Lord Nolan einen Parliamentary Commissioner for Public Standards, der nun die Abgeordneten im Unterhaus überwacht. Schon im Zuge der Watergate-Ermittlungen gegen Richard Nixon war in den USA das Amt des Special Prosecutor eingerichtet worden, das Ken Starr in der Clinton-Affäre für bis dato unvorstellbare Schnüffelei im Privatleben des Präsidenten nutzte. In Italien sicherten sich die Richter immer mehr Macht, verhafteten Leute, um erzwungene Geständnisse zu erwirken, und nutzen Kronzeugen, um Klagen gegen Politiker vorzubereiten. Als ihnen der Wahlausgang 1994 nicht gefiel, starteten sie prompt eine neue Ermittlungsrunde gegen den Sieger Silvio Berlusconi. Die Mitglieder des Unterhauses, der Präsident und der Medienmogul haben selbstverständlich Fehler und Schwächen. Doch durch die neuen Institutionen wird der politische Prozess demokratisch nicht zurechenbaren Institutionen unterworfen, die sich auch über die demokratischen Entscheidungen der Wählerschaft hinwegsetzen können.


Wer sich erinnert, wie unsicher die politischen Führungen noch in den 90er-Jahren waren, wird sich fragen, wie sie sich überhaupt ins neue Jahrtausend retten konnten. Doch durch die Verfolgung kompromittierter Politiker und die Bildung neuer Institutionen konnten sie offenbar einen Teil ihrer Legitimität zurückgewinnen. Jedenfalls war nach 1997 die Zufriedenheit der Bevölkerung mit den demokratischen Institutionen deutlich größer als vor Beginn der Skandalwelle.
Die nationalen Regierungen erlangten allmählich wieder Autorität. In Großbritannien wandten sich die Abgeordneten des Unterhauses gegen Parliamentary Standards Commissioner Elizabeth Filkin, als deren erkennbar überflüssige, aber rufschädigende Ermittlungen gegen führende Politiker kein Fehlverhalten nachweisen konnten. In Italien erschütterte Premierminister Silvio Berlusconi seine liberalen und linken Kritiker mit einer Gegenoffensive gegen die Richter. Er wurde daraufhin 2001 im Amt bestätigt, während Richter Antonio di Pietro, der inzwischen in die Politik gegangen war, nur 3,9 Prozent der Stimmen erhielt. Im gleichen Jahr trat auch Martin Bell erneut zur Wahl an, wurde aber geschlagen.
Dennoch ist die Entfremdung zwischen Politikern und Bevölkerung, die dem Prozess der Skandalisierung der Politik zugrunde liegt, ungebrochen. Daher sind Korruptionsvorwürfe weiterhin zentraler Bestandteil des politischen Alltags. Durch die Bildung entsprechender Kontrollorgane wurde der Ablauf solcher Skandale inzwischen weitgehend institutionalisiert – ihr undemokratischer Einfluss aber damit sogar auf eine höhere Stufe gehoben.

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