15.10.2012

Silent Spring - Die wahre Geschichte

Von Pierre Desrochers

Zum 50. Jahrestag seines Erscheinens wird deutlich, wie sehr der Erfolg von Rachel Carsons reichlich unoriginellem und pseudowissenschaftlichem Buch auf dessen Appell an anti-moderne Vorurteile beruht. Pierre Desrochers über Mythen und Fakten rund um „Der stumme Frühling“

Rund um das 50. Erscheinungsjubiläum am 27. September wurde Rachel Carsons Bestseller Silent Spring (dt. Der stumme Frühling) in den internationalen Medien mit Würdigungen geradezu überschüttet. Kritik gab es kaum zu lesen. Viele Kommentatoren setzten die Erscheinung von Silent Spring sogar mit der Geburt der modernen Ökobewegung gleich. Dabei ist es tatsächlich mehr als nur ein wenig rätselhaft, wie Carson zu ihrem ikonenhaften Status als „Heilige Rachel“ und „Nonne der Natur“ kam. Schon vor etlichen Jahren meinte ein Unterstützer von Carson, der US-amerikanische Biologe Roland Clement, dass die Autorin „sowohl zu viel Lob als auch zu viel Tadel“ für ihr Buch geerntet habe, und dass die Vorstellung, „sie sei die Gründerin der Umweltbewegung“, reine Erfindung sei.

US-amerikanische Umweltbewegung der Nachkriegsjahre

Zuerst einmal beruht der ideologische Kern der modernen Umweltbewegung auf Ideen, die schon seit Jahrhunderten, in einigen Fällen seit Jahrtausenden [1] existieren. Auch war Literatur mit Naturbezug und starker Umweltschutzgrundierung bereits im Nachkriegs-Amerika sehr populär. Zu nennen wären hier etwa Bestseller, wie Marjory Stoneman Douglas’ The Everglades: River of Grass (1947) und Aldo Leopolds A Sand County Almanac (1949) oder neo-malthusianische Klassiker, wie William Vogts Road to Survival oder Fairfield Osborns Our Plundered Planet (beide 1948). Zudem wurden viele Organisationen mit dem Ziel des Schutzes der Natur vor menschlichen Einflüssen schon lange vor Erscheinen des Buches gegründet – vom Sierra Club (1892) und der National Auburn Society (1905) bis zur Conservation Foundation (1947, später durch den World Wildlife Fund übernommen) und die Nature Conservancy (1951). Nicht zuletzt waren auch Carsons Behauptungen über das beispiellos zerstörerische Potential synthetischer Pestizide auf das Gleichgewicht der Natur oder hinsichtlich der Auslösung von Krebs-Epidemien Anfang der 1960er Jahre nicht mehr besonders originell. Bereits lange vor Silent Spring wurden von zahlreichen Schriftstellern, Aktivisten, Bürokraten und Politikern ganz ähnliche Ängste über die tödliche Wirkung älterer, „natürlicher“ Pestizide („natürlich“ im Sinne von Verbindungen auf Arsen-, Kupfer- und Bleibasis) geschürt und öffentlich thematisiert.

Das wohl erfolgreichste Buch aus diesem Genre in der Prä-Silent Spring-Zeit war Arthur Kalletts und Frederick J.Schlinks 1933 erschienenes 100.000.000 Meerschweinchen: Gefahren in Nahrung, Medikamenten und Kosmetika (die Zahl im Titel bezog sich auf die Größe der US-Bevölkerung zum Zeitpunkt der Veröffentlichung). Die Kernthese des Buches lautete, dass die „Nahrungs- und Pharmaindustrie systematisch [die amerikanische Öffentlichkeit] mit Unwahrheiten über die Reinheit, Verträglichkeit und Sicherheit ihrer Produkte bombardieren, während sie durch Experimente [an den amerikanischen Konsumenten] mit Giften, Reizstoffen, schädlichen chemischen Konservierungsstoffen und gefährlichen Medikamenten Profit machen“. Kallets und Schlinks Buch war so erfolgreich, dass es in nur vier Jahren nach Erstveröffentlichung auf 32 Auflagen kam und sogar eine eigene literarische Gattung begründete, die in den USA unter dem schwer übersetzbaren Namen „guinea-pig muckraking“ (wohl am ehesten als „Meerschweinchen-Schlammschlachten“ zu übersetzen) bekannt wurde.

Debatte um DDT-Einführung

Vor diesem Hintergrund ist es auch nicht weiter überraschend, dass die Einführung des Pestizids DDT in den 1940er Jahren mit ähnlich sensationsheischenden Behauptungen einherging. In einem im Frühjahr 1945 erschienen Beitrag für die damals sehr populäre Saturday Evening Post beobachtete ein US-General namens James Stevens Simmons, dass sich lauffeuerartig immer märchenhaftere Geschichten über die angebliche Destruktivität von DDT ausbreiten würden – angefangen vom herbeiphantasierten Tod einer Population blauer Schmetterlinge in Panama bis zur unglaublichen Behauptung, dass DDT „sowohl für die Tier- als auch für die Pflanzenwelt die völlige Vernichtung bringen könne.“ [2] Dabei verschloss auch Simmons seine Augen nicht vor möglichen Problemen. Er war sich bewusst, dass „so ein wirkungsvolles Insektizid ein zweischneidiges Schwert sein kann, und dass seine unbedachte Verwendung zur Vernichtung bestimmter, für Landwirtschaft und Gartenbau nützlicher Insekten führen [könne]. Auch kann es möglicherweise das wichtige Gleichgewicht der Tier- und Pflanzenwelt stören und damit diverse fundamentale biologische Zyklen durcheinanderzubringen“. Er wies seine Leser aber auch darauf hin, dass diesbezüglich erhebliche Forschungsanstrengungen eingeleitet worden seien.

In den folgenden Jahren erschienen in der Presse auch einige ausgewogene Artikel über die Vorteile und problematischen Aspekte des DDT-Einsatzes. Wie der anonyme Autor eines Beitrags im Time Magazine seine Leser im Jahr 1949 erinnerte, „mahnten die US-Army und der Public Health Service, das Wunder-Insektizid vorsichtig einzusetzen, als DDT im Jahr 1945 erstmals der Öffentlichkeit vorgestellt wurde. Niemand wusste viel über die Spätfolgen von DDT für den Menschen oder das Gleichgewicht der Natur.“ Außerdem „trat niemand vor, um zu leugnen, dass der sorglose Einsatz von DDT gefährlich sein könnte.“ Interessanterweise bezogen sich fast ein Viertel der 228 Artikel über DDT, die zwischen 1944 und 1961 in der New York Times veröffentlicht wurden, „weitgehend oder gänzlich auf die potenziellen Risiken, die mit der Nutzung des Pestizids verbunden waren“.

Tatsächlich hatten viele an ein Laienpublikum adressierte Artikel einen geradezu apokalyptischen Duktus. Ein Vordenker des radikalen Flügels der amerikanischen Ökobewegung, Murray Bookchin, behauptete 1952 in einem Essay über Probleme der Chemie in Nahrungsmitteln, dass DDT neuesten wissenschaftlichen Untersuchungen zufolge höchstwahrscheinlich Ursache für eine „Epidemie nervöser und physischer Störungen“ sei. Der rücksichtslose Einsatz von Chemie in Nahrungsmitteln habe inzwischen zu einem bedrohlichen Ausmaße von Vergiftungen innerhalb der amerikanischen Bevölkerung geführt, wobei „manche Fälle akuter toxischer Effekte bereits das Ausmaß einer nationalen Katastrophe erreicht haben.“ [3]

Interessanterweise veröffentlichte der gleiche Bookchin nur wenige Monate vor dem Erscheinen von Silent Spring eine Klageschrift über die stetig zunehmende Abhängigkeit moderner Gesellschaften von synthetischen Produkten und modernen monokulturellen Agrarerzeugnissen. Nun sei ein Punkt erreicht, „an dem die natürlichen Ressourcen des Lebens rapide zurück[gingen]“. Der moderne Mensch habe „das Werk der organischen Evolution beendet, eine komplexe Umwelt durch eine einfachere ersetzt“ und „die biotische Pyramide auseinandergenommen, die das menschliche Leben seit Jahrtausenden unterstützt hat.“

Silent Spring: Panik statt Fakten

Selbst wenn man die Standards populärwissenschaftlicher Literatur anlegt, muss man Silent Spring als altmodisch daherkommende technophobe Sensationsmacherei in literarisch anspruchsvollem Gewand bezeichnen. Obwohl Carson ein „Problem mit Insekten“ eingestand und ein vollständiges Verbot von synthetischen Pestiziden ablehnte, sprachen die Implikationen ihres Buchtitels und ihrer „Fabel für morgen“ eine andere Sprache. Sie argumentierte, dass synthetische Insektizide aufgrund der Tatsache, dass sie „von Menschenhand gemacht“ seien, sich „deutlich von simpleren Insektiziden der Vorkriegszeit unterscheiden, [die] aus natürlich vorkommenden Mineralen und Pflanzenprodukten gewonnen wurden“, und dass sie wegen ihres „enormen biologischen Potentials erhebliche Kraft [hätten], den Körper nicht nur zu vergiften, sondern in seine vitalsten Funktionen einzugreifen und sie in unheilvoller und oft tödlicher Weise zu verändern.“ Unglücklicherweise unternahm Carson dabei nur wenige bis gar keine Anstrengungen, ihre spektakulären Behauptungen einigermaßen ausgewogen darzustellen und ignorierte zudem wichtige anderslautende Fakten. Es gibt fünf problematische Aspekte, auf die der Leser des 21. Jahrhunderts hingewiesen werden muß:

  1. Carson verteufelte den Einsatz von DDT und anderer synthetischer Pestizide in der Landwirtschaft, ignorierte dabei jedoch deren Rolle bei der Rettung von Millionen von Menschen, die weltweit an Malaria, Typhus, Ruhr und anderen Krankheiten starben. Es ist zutreffend, dass zum Zeitpunkt der Veröffentlichung von Silent Spring einige Insekten bereits eine Resistenz gegen DDT entwickelt hatten, allerdings blendeten Carson und spätere Umweltschützer systematisch klare Beweise dafür aus, dass DDT als einziges der künstlich hergestellten Insektizide ebenfalls eine stark insektenabwehrende Wirkung hat, die etwa Moskitos nachts von Häusern fernhält, wenn deren Bewohner schliefen. Diese Abwehrwirkung von DDT wurde schon 1943 wiederholt in Feld- und Laborversuchen entdeckt und quantifiziert. Dabei ging sie offenbar nie mit irgendeiner Form von Resistenz bei Insekten einher. Doch diese Ergebnisse wurden von Umweltschützern systematisch ignoriert.
  2. Im Großen und Ganzen waren die amerikanischen Vogelpopulationen zum Zeitpunkt der Publikation von Silent Spring im Wachsen begriffen – also weit entfernt von der darin behaupteten Schwelle zum Zusammenbruch. Eine Kernthese des Buches – und die Inspiration für den Titel – war, dass DDT eine desaströse Auswirkung auf Vögel habe. Obwohl Carson aktives Mitglied der bedeutenden US-amerikanischen wissenschaftlichen Fachgesellschaft für den Vogelschutz, der National Audubon Society, war und es somit eigentlich hätte besser wissen müssen, ignorierte sie die jährliche Vogelzählung dieser Organisation (die eine Zeit lang von ihrem Arbeitgeber, dem U.S. Fish and Wildlife Service, mit herausgegeben wurde), obwohl diese zu dieser Zeit die verlässlichste Quelle für Informationen über die Vogelwelt war. Stattdessen verließ sie sich auf Anekdoten über den angeblichen Zusammenbruch der Vogelpopulationen. Tatsächlich hätte ein Wissenschaftsjournalist ohne Scheuklappen mit gutem Recht auch behaupten können, dass der Einsatz von DDT für viele Vögel sogar eher Vorteile bringt. Der Einsatz von DDT könnte sie vor einer Reihe von Krankheiten schützen (Vogelmalaria, Newcastle-Krankheit, Enzephalitis, Rickettsienpocken und Bronchitis) und eine wichtige Rolle bei der Eindämmung der zahlreich in Vogelnahrung vorhandenen Karzinogene (wie den Aflatoxinen) spielen. Außerdem halfen DDT und die ganze Bandbreite der übrigen synthetischen Insektizide der damaligen Zeit nicht nur Menschen, sondern auch Vögeln mehr Getreide und andere Feldfrüchte verfügbar zu machen.
  3. Der Anstieg der Krebsraten zu der Zeit als Carson ihre diesbezüglichen Forschungen anstellte – in Silent Spring übrigens weit übertrieben dargestellt –, war in erster Linie dem Umstand geschuldet, dass wesentlich weniger Menschen an anderen Krankheiten starben. Nachdem auch Faktoren wie das Alter oder Rauchgewohnheiten in die Statistik aufgenommen wurden, war auch kein Anstieg mehr festzustellen. Obwohl zur Zeit der Veröffentlichung ihres Buches bereits große Einigkeit in der Wissenschaft über den Zusammenhang von Tabakgenuss und Lungenkrebs herrschte, ignorierte Carson dies ebenso wie die ebenfalls darauf hindeutenden Daten des öffentlichen Gesundheitswesens.
  4. Carsons Alternativen waren schlimmer als das „Problem“. Große Abschnitte von Carsons „alternativem Weg“ der Schädlingsbekämpfung wurden schon zuvor ausgiebig beschritten und als ungenügend verworfen. Es war sogar so, dass die Unzulänglichkeiten von „biologischen“ und anderen Inseketenbekämpfungsmethoden, etwa hinsichtlich der stets unsicheren Auswirkungen auf Nicht-Ziel-Spezies sowie der Untauglichkeit zur Lösung spezifischer Schädlingsprobleme, die Entwicklung synthetischer Pestizide erst begünstigt hatten. Wie der Autor des vorangegangenen größten Umwelt-Bestsellers aller Zeiten, der Neo-Malthusianist Willaim Vogt, zur Veröffentlichung von Silent Spring bemerkte, könnten die von Rachel Carson vorgeschlagenen Methoden ohne jahre- oder gar jahrzehntelange experimentelle Erprobungen und Nachbesserungen nicht einsatzreif werden“. „Auf alle Fälle“, fügte er hinzu, „würde unsere hochgepriesene landwirtschaftliche Produktion pro Mannstunde ohne chemische Hilfsmittel drastisch fallen, und es ist zweifelhaft, ob wir die Produktion pro Morgen Land auch nur annähernd auf dem heutigen Level halten könnten“. [4]
  5. Carsons Grundhaltung: „man kann nie zu sicher sein“ wurde zum Leitmotiv aller regulatorischen Umweltschutz-Agenden. Ihr Blick auf die Zukunft ebnete dem heute so verbreiteten „Vorsorgeprinzip“ den Weg, das die Anwendung überlegener (oder zumindest weniger schädlicher) Technologien zum Nutzen von Mensch und Umwelt verzögert oder blockiert.

Fazit

Carson war alles andere als der Kanarienvogel in der Kohlengrube oder Chemiefabrik, als der sie immer wieder in der Ökobewegung verklärt wird. Sie lieferte in den Worten des Wissenschaftsjournalisten Edwin Diamond einfach nur genau „das ab, was die Öffentlichkeit hören wollte“ – im Wesentlichen: Misstrauen gegenüber verrückten Wissenschaftlern, die Gott spielen und an der Natur herumpfuschen; gegenüber großen Unternehmen, die Profite über Menschen stellen, und gegenüber korrupten Regierungsbütteln, die bedrohliche Sachverhalte herunterspielen. Wie es ein weiterer prominenter Kritiker, William J. Darby, zur Veröffentlichung des Buches ausdrückte, fand Silent Spring seine Leser in erster Linie „unter Biogärtnern, Anti-Fluor-Aktivisten, Anbetern ‚natürlicher Nahrungsmittel‘, Vitalisten und Pseudo-Wissenschaftlern.” [5]

Hätte Rachel Carson ausgewogen argumentiert, statt einseitige und übertriebene Behauptungen über das Fehlverhalten von Unternehmen, die Auslöschung von Leben, Krebsepidemien und Zellmutationen in die Welt zu setzen, wäre ihr Einfluss auf die öffentliche Meinung wohl bei weitem nicht so groß gewesen – und viele Menschen, die in den darauffolgenden Jahren unter den Konsequenzen der irrationaler Politik im Zusammenhang mit Pestiziden zu leiden hatten, wären wahrscheinlich besser dran gewesen.

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