01.11.2001
Sieben Millionen US-Dollar Einsparung pro überlebendem Säugling
Analyse von Hans-Joachim Maes
Konfusion, Manipulation und Scharlatanerie kennzeichnen die öffentlichen Debatten über den Plötzlichen Kindstod. Für manche ist die Angstmache ein profitables Geschäft.
„An einem Sonntag im September starb unser Kind. Das vertraute Glucksen aus dem Kinderbettchen war verstummt. Plötzlich und völlig unvorbereitet mussten wir uns mit dem größten Verlust unseres erst so kurzen Familienlebens auseinandersetzen. Wir sind unendlich traurig.“
So beginnt der Text „Lautlos und unbemerkt: Das Risiko des plötzlichen Säuglingstodes“, erschienen im Pressedienst „blauer dunst“ des Deutschen Krebsforschungs-Zentrums (DKFZ). Weiter heißt es: „Dieses Zitat ist erfunden und doch wahr.“ Beschrieben wird, dass Eltern, „die ihr Kind durch den plötzlichen Säuglingstod verloren haben, ... lange [brauchen], um den Schmerz zu überwinden und neuen Mut zu schöpfen“.
Eine richtige Beobachtung. Es gibt herzzerreißende Beispiele ohnmächtiger Trauerarbeit. Mit der Formulierung „erfunden und doch wahr“ berührt des DKFZ – sicher ungewollt – einen anderen neuralgischen Punkt: den Missbrauch, der mit dem Plötzlichen Kindstod getrieben wird. Manches wird erfunden, aufgeblasen, falsch dargestellt; vieles, was als „wahr“ gilt, hält näherer Überprüfung nicht stand.
Die Konfusion beginnt schon bei der Definition. Der Plötzliche Kindstod wird in den USA als „Sudden Infant Death Syndrome“ (SIDS) bezeichnet; hierzulande hat sich SID eingebürgert, ein Begriff, der, wie das DKFZ feststellt, „vereinfacht“ ist. Immerhin wird er auch von der Deutschen Akademie für Kinderheilkunde und Jugendmedizin sowie anderen seriösen Institutionen benutzt.
Rauchen und Passivrauchen spielen als Ursache des Plötzlichen Kindstodes eine verschwindend geringe Rolle.
Das Fehlen eines Bestandteils des Begriffs ist kein banaler terminologischer Verlust, sondern ein Gewinn für jene, die den Plötzlichen Kindstod für andere Zwecke ausschlachten. Aus einem komplizierten multifaktoriellen Geschehen – eben dem Syndrom – wird eine eindimensionale Kausalität. Fix sind solche Helden dabei, dieses und jenes als „die“ Ursache des schrecklichen Phänomens auszumachen. Das Spektrum reicht von der nicht oder nicht lange genug stillenden Rabenmutti bis zu perfiden Marketing-Maßnahmen von Pharmaunternehmen, deren gebetsmühlenartig wiederholte Warnungen vor „Passivrauchen“ letztlich nur dazu dienen sollen, die Notwendigkeit des Kaufs von Nikotinersatzpräparaten zu suggerieren. Wer das nicht tue, so die Botschaft, habe ein so und so viel höheres Risiko, das „vertraute Glucksen aus dem Kinderbettchen“ nie wieder zu hören. Angsterzeugung als Marketinginstrument.
Vergleicht man die veröffentlichte Meinung mit den tatsächlichen Gegebenheiten, so wird man schnell feststellen, dass das hierzulande oft genannte Rauchen/Passivrauchen als Ursache des SID eine verschwindend geringe Rolle spielt. Von 5132 international bekannten Studien zum SIDS haben nur wenige Rauchen/Passivrauchen thematisiert (97/17 der Studien). Die wenigen sind in der Regel fragwürdig, aus vielen Gründen: So stellt eine epidemiologische Studie einen „fast sicheren kausalen“ Zusammenhang zwischen Passivrauchen und SIDS fest, basierend auf einem Mischmasch von Daten aus 32 Studien, herausgefiltert aus 692 Artikeln. Akzeptabel ist in dieser Studie letztlich nur die Warnung vor elterlichem Rauchen. Dass dies nicht der Gesundheit des Säuglings förderlich ist, wird niemand ernsthaft bestreiten. Aber eine Kausalität zu SIDS zu behaupten, wäre Scharlatanerie.
Dies gilt insbesondere für alle, die solches nach dem 5. Februar 2001 verbreiten. An diesem Tag wurde die heile Welt der unheiligen SID-Trittbrettfahrer gewaltig durcheinandergebracht:
Die US-amerikanische Akademie für Kinderheilkunde (kurz: AAP) veröffentlichte revidierte Richtlinien für die Untersuchung von SIDS-Fällen. Anlass war die wachsende Besorgnis, dass ungeklärte Todesfälle tatsächlich Morde gewesen seien. Schon 1997 hatte eine britische Forschergruppe herausgefunden, dass eine alarmierend hohe Zahl von Eltern versucht hätte, ihre Babys zu ersticken. Ebenfalls 1997 war das Buch The Death of Innocents erschienen, das die Geschichte einer Frau aus New York erzählt, die ihre fünf vermeintlich an SIDS gestorbenen Kinder umgebracht hatte; 1999 hatte eine Frau aus Philadelphia sich für schuldig erklärt, ihre acht Kinder ermordet zu haben, die zuvor alle als SIDS-Tote diagnostiziert worden waren.
Die AAP hatte 1994 empfohlen, Säuglinge auf dem Rücken schlafen zu lassen, und die Zahl der Todesfälle ging drastisch zurück. Dies ist übrigens überall dort zu beobachten gewesen, wo ähnliche Empfehlungen gegeben worden waren, auch hierzulande. Mit dem Rückgang, so stellte AAP fest, sei aber wahrscheinlich ein Anstieg der Todesfälle durch Kindesmissbrauch oder Kindesmord verbunden gewesen; 1 bis 5 Prozent aller Fälle könnten solche Ursache haben.
Die Feststellung der Ursache eines Plötzlichen Kindtodes ist ungemein schwierig. Es muss unterschieden werden zwischen beispielsweise unfreiwilliger, unglücklicher oder eben bewusster Verlegung der Atemwege. Vorgesehen hat die AAP u.a. folgende Maßnahmen:
- schnellstmögliche Untersuchung des Hergangsortes, einschließlich sorgfältiger Befragung der Mitglieder des Haushaltes durch fachkundige Personen, möglichst auch durch einen Kinderarzt,
- Untersuchung des toten Kindes durch einen auf Kindesmisshandlung spezialisierten Arzt eines Krankenhauses mit Notfallabteilung,
- medizinische Untersuchung innerhalb von 24 Stunden nach dem Tod einschließlich Röntgenuntersuchung des ganzen Körpers, toxikologischer Untersuchungen und solcher des Stoffwechsels,
- Sammlung und Auswertung aller Daten zur Anamnese, auch durch Befragung der damit befasst gewesenen Personen.
Empfohlen wird die Bildung lokaler „Infant Death Investigation Teams“, die ihre Erkenntnisse dem Gerichtsmediziner vor dessen abschließender Untersuchung vorlegen sollten.
Solches ist, so die AAP, unbedingt notwendig, um die Erforschung von SIDS nicht zu verzögern. Falls man, so wird argumentiert, auf toxikologische Untersuchungen verzichte, würden die Fälle von beabsichtigter oder zufälliger Vergiftung nicht erkannt. So sei eine „weit verbreitete und potenziell tödliche“ Kokain-Exposition Ursache für den Tod von 40 Prozent (17 von 43) Säuglingen im Alter bis zu zwei Tagen gewesen. Die Autopsie hätte diese Ursache nicht offenbart; daher die Empfehlung, toxikologische Tests durchzuführen. Das Wissen um die letalen Dosen von Kokain „und vieler anderer Drogen“ auf Säuglinge sei noch nicht ausreichend.
Das Phänomen Plötzlicher Kindstod ist nicht die Ursache eines Todes, sondern die Bezeichnung für ein bislang nur unvollständig verstandenes Ereignis.
Wenige Wochen nach der Publikation der Richtlinien schlugen die SIDS-Nutzer zurück, ganz im Sinne (wohl auch: im Auftrag) der bereits beschriebenen Nutznießer. Die in den USA sehr einflussreiche Robert Wood Johnson Foundation publizierte die frohe Botschaft: „Beratung bei Rauchentwöhnung ist kosteneffektiv bei der Vermeidung von Plötzlichem Kindstod“. Exakt 108 Todesfälle könnten vermieden werden, würden die schwangeren Mütter über die Gefahren des Rauchens aufgeklärt. Für jede Million Dollar, ausgegeben zur Unterrichtung schwangerer Frauen, würden „fünf Kinder“ vor dem Plötzlichen Kindstod errettet. Von den 3000 Todesfällen in den USA gingen 700 auf das Konto rauchender Mütter; alle diese seien vermeidbar. Weiter errechnete der Autor der Studie, Harold Pollack von der School of Public Health der Universität von Michigan, dass jeder nicht auftretende SIDS-Fall 210.500 US-Dollar oder entsprechend einem anerkannten Messinstrument für die „Kosten-Effektivität einer Gesundheitsmaßnahme“ sogar „mehr als 7 Millionen Dollar pro gerettetem Leben“ einspare.
Am 23. April wurde auf einer Tagung der „Centers for Disease Control and Prevention“ in Atlanta erneut Wunderliches berichtet: 55 Prozent von 117 Todesfällen in Louisiana in den Jahren 1997/98 hätten verhindert werden können, wären die Säuglinge gestillt worden. 27 Prozent seien Opfer des Passivrauchs geworden; im übrigen sei die Schlafposition mit Plötzlichem Kindstod – jedenfalls in Louisiana – nur „nicht signifikant“ verbunden.
Solche nicht selten sensationserheischend den Medien vorgeworfene und von diesen dankbar aufgegriffenen „Studien“ gefährden erreichte Standards. Tödliche Unfälle von Kleinkindern können mit einfachen Maßnahmen zumindest reduziert werden. Die Ursachen von SIDS sind ungeachtet der intensiven Forschung unklar. Die Frage, warum es in den USA zwischen ethnischen Gruppen erhebliche Unterschiede bezüglich der SIDS-Fälle gibt (doppelt bis dreimal soviel bei Amerikanern afrikanischer Herkunft und Indianern wie bei Weißen), ist weitere solide Forschung wert.
In den USA wird die Diagnose Plötzlicher Kindstod gestellt, wenn alle anderen Ursachen nicht zutreffen. SIDS steht für „vollständig unerklärbar“. Erst, wenn viele mögliche Todesursachen – beispielhaft nachlesbar in den AAP-Empfehlungen – ausgeschlossen werden, ist die Feststellung „attributable to SIDS“ gerechtfertigt.
In Deutschland sehen das manche ganz anders. Hier wird das schreckliche Phänomen inflationär eingesetzt, um diese oder jene Interessen zu fördern. Dass der Plötzliche Kindstod die häufigste Todesursache im ersten Lebensjahr sei, wird dramatisierend beschrieben und ist Inhalt mancher sozialkitschiger Medienprodukte.
Schon hier zeigt sich ein nur schwer anzugehender Denkfehler: Das Phänomen Plötzlicher Kindstod ist nicht die Ursache eines Todes, sondern die Bezeichnung für ein bislang nur unvollständig verstandenes Ereignis. Zur „häufigsten Todesursache“ wird – im „vereinfachten“ Deutsch – SID ganz einfach deswegen, weil andere Todesursachen der betroffenen Population nicht zur Verfügung stehen. Säuglinge trinken keinen Alkohol, nehmen keine Drogen, fahren nicht Auto, begehen keinen Selbstmord, können an gewissen Krankheiten, die alters- und verhaltensbedingt sind, im ersten Lebensjahr noch nicht sterben.