01.05.2004

Sicher ist sicher?

Analyse von Kai Rogusch

Kai Rogusch beleuchtet die Diskussion über Gewaltkriminalität und Sicherheitsverwahrung.

Aktuelle politische Diskussionen und Medienberichterstattungen zur Entwicklung der Gewaltkriminalität legen beharrlich den Schluss nahe, dass sich in den letzten Jahren die Anzahl schlimmer Gewalttaten in Deutschland erhöht habe. Die polizeiliche Kriminalstatistik dokumentiert jedoch einen anderen Trend: Die schwere Gewaltkriminalität ist nicht gestiegen, sondern sie schwankt in einigen Bereichen auf niedrigem Niveau und ist hinsichtlich sexueller Gewaltdelikte sogar eher zurückgegangen. So hat beispielsweise die Zahl der an Kindern und Erwachsenen begangenen Sexualmorde in Deutschland in den letzten 30 Jahren abgenommen: Im Jahre 1971 wurden noch 77 solcher Taten verzeichnet, 1991 waren es 44 und im Jahr 2000 noch 27. Bestätigt wurde diese Entwicklung vom Direktor der Kriminologischen Zentralstelle e.V. in Wiesbaden, Prof. Dr. Rudolf Egg (vgl. Sicherheit und Kriminalität, 1/2003).

„Die objektive Kriminalitätslage steht im direkten Gegensatz zum allgemeinen Empfinden von Politikern und Bürgern.“

Die objektive Kriminalitätslage steht also offenbar im direkten Gegensatz zum allgemeinen Empfinden von Politikern und Bürgern. Diese Kluft spiegelt sich auch in der Medienberichterstattung. So ist nach Angaben von Werner Rüther die Zahl der Veröffentlichungen zu Sexualmorden zwischen 1971 und 1996 um das Zehnfache angestiegen, während die Zahl der Sexualmorde im gleichen Zeitraum auf ein Drittel zurückging (vgl. Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform, Nr.81, Heft 4/1998). Durch den aktuellen Dutroux-Prozess in Belgien ist die Sorge um zunehmende Gewaltkriminalität erneut gewachsen. Dabei hat gerade in den Jahren der intensiven Berichterstattung über den Fall des belgischen Kinderschänders die Zahl der an Kindern und Erwachsenen verübten Sexualmorde weiter abgenommen – von 34 im Jahre 1996 auf 20 im Jahre 1998.

Dennoch erscheint das Thema so präsent und bedrohlich wie nie zuvor. Das liegt nicht zuletzt an Politikern, die immer wieder Gesetzesverschärfungen zur Bekämpfung der „hoch gefährlichen Gewaltkriminalität“ fordern. So erklärte bereits im Sommer 1997 der damalige niedersächsische Ministerpräsident Gerhard Schröder, Sexualstraftäter seien wegzuschließen, „und zwar für immer“. Durch die Angst vor dem Terrorismus hat die Diskussion über Gewaltkriminalität neu an Fahrt gewonnen.

Die „hoch gefährliche“ Gewaltkriminalität ist glücklicherweise eine Randerscheinung in der Gesellschaft. Dennoch drehen sich politische Diskussionen vermehrt um die statistischen Ausnahmefälle. Abgesehen von den unnötigen Ängsten, die dadurch in der Bevölkerung geschürt werden, geraten auch diejenigen strafrechtlichen Rechtsinstitute ins politische Blickfeld, die für solche Ausnahmefälle geschaffen worden sind. Einer dieser „Fremdkörper“ in unserem Strafrechtssystem ist die Sicherungsverwahrung. Sie findet bei Straftätern Anwendung, die sich mit ihren gravierenden Gewalttaten gegen Leib und Leben als besonders „gefährlich“ für ihre Mitbürger erwiesen haben. Unter ihnen sind viele Wiederholungstäter. Diese so genannten „Hangtäter“ bleiben nach Verbüßen ihrer regulären Strafhaft weiterhin in Gewahrsam, wenn ihnen ein psychiatrisches Gutachten eine weitere schwere Straftat vorhersagt, falls man sie „laufen lassen“ würde. Derzeit befinden sich in Deutschland etwa 300 Personen in einer solchen Sicherungsverwahrung.

Üblicherweise gründet ein Freiheitsentzug in Form der Strafhaft auf einem Gerichtsurteil, nachdem die Schuld des Inhaftierten an einer Straftat zweifelsfrei erwiesen wurde. Die „Andersartigkeit“ der Sicherungsverwahrung in unserem Strafrechtssystem besteht darin, dass sie auf einer als „wahrscheinlich“ erachteten schweren Straftat in der Zukunft basiert. Zudem stellt die Verhängung der Sicherungsverwahrung eine Abkehr vom strafrechtlichen Schuldprinzip dar, nach dem Bürger für ihre in freier Entscheidung begangenen Taten als zurechnungsfähige Individuen im Rahmen eines öffentlichen Strafprozesses zur Rechenschaft gezogen werden. Denn den in Sicherungsverwahrung Inhaftierten wird eine schwere Gewalttat vorausgesagt – ihnen wird eine Art Berechenbarkeit oder „Hang“ unterstellt. Nach dieser der Sicherungsverwahrung zugrunde liegenden Vorstellung gelten Sicherungsverwahrte als labile Personen, die im Falle ihrer Freilassung nicht dem gesellschaftlichen und beruflichen Alltag gewachsen sind. Stellt man zum Beispiel die gegenwärtige miserable Arbeitsmarktsituation und das sehr negative gesellschaftliche Klima gegenüber Sexualstraftätern in Rechnung, so kann man zweifelsohne leicht zum Schluss kommen, dass bei solchen Täterprofilen eine Integration in Wirtschaft und Gesellschaft erschwert, wenn nicht gar ausgeschlossen ist. Früher oder später würden sie nicht anders können, als wieder loszuschlagen, lautet die verbreitete Meinung. Die dem Strafrecht zugrunde liegende Idee des „freien Bürgers“ sei für diese Personen daher nicht anwendbar, weshalb sie in Form der Sicherungsverwahrung in einen anderen Rechtszustand transferiert werden sollen.

Sicherungsverwahrten wird sozusagen der Bürgerstatus aberkannt. Sie gehören zu einer gesellschaftlichen „Risikogruppe“, der man grundlegende straf- und verfassungsrechtliche Freiheitsgarantien wie etwa die Unschuldsvermutung, das Bestimmtheitsgebot oder das Verbot der Doppelbestrafung zumindest teilweise vorenthält. In ihrem Fall reicht für die weitere Inhaftierung eine potenzielle Gefährlichkeit aus. Kürzlich hat das Bundesverfassungsgericht die Aufhebung der Zehn-Jahres-Grenze für die Sicherungsverwahrung gebilligt. Das hat zur Folge, dass der Inhaftierte nach Ablauf von zehn Jahren Sicherungsverwahrung nur noch dann freigelassen werden kann, wenn zweifelsfrei feststeht, dass keine Gefahren infolge eines Hangs zu erheblichen Straftaten mehr von ihm ausgehen.

„Kritiker der Sicherungsverwahrung entgegnen, dass zum einen die Frage ungeklärt sei, wie sich ein „Hang“ zu schweren Straftaten feststellen lasse.“

Angesichts dieser Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts haben einige liberale Strafrechtler ihr Unbehagen geäußert. Den Befürwortern der Sicherungsverwahrung ist die Abkehr von „papiernen“ Prinzipien des Rechtsstaats durchaus bewusst. Sie argumentieren aber, die in Sicherungsverwahrung genommenen Schwerstkriminellen seien im Rahmen üblicher rechtsstaatlicher Normen nicht zu fassen. Sie seien vielmehr als eine ausnahmsweise Erscheinungsform der Kriminalität nur mit Mitteln des Ausnahmestaats zu bändigen. Die Sicherungsverwahrung sei dafür als letzte Notmaßnahme auch in einem Rechtsstaat legitim, denn wer sich zum wiederholten Male mit seinem hochkriminellen Verhalten aus der Rechtsgemeinschaft stelle, müsse vernünftigerweise damit rechnen, „anders“ behandelt zu werden als gewöhnliche Kriminelle. Oft wird auch darauf verwiesen, dass die Haftbedingungen für Sicherungsverwahrte gemäß höchstrichterlichen Erfordernissen erheblich humaner als beim üblichen Strafvollzug sind.

Kritiker der Sicherungsverwahrung entgegnen, dass zum einen die Frage ungeklärt sei, wie sich ein „Hang“ zu schweren Straftaten feststellen lasse. Erschwerend trete die sich abzeichnende bundeseinheitliche Gesetzeslage hinzu, welche die Ablehnung psychiatrischer Behandlungsangebote während der Haftzeit als einen Beweis für die anhaltende „Gefährlichkeit“ eines Häftlings festlegt. So bahne sich ein „totalisierender Zugriff“ auf die gesamte Person des Insassen an, befürchten die Gegner der Novelle. Dem Insassen würde der letzte Rest an Autonomie genommen. Da sich die Dauer der Sicherungsverwahrung zudem bis ans Lebensende erstrecken kann, verwehre man dem Häftling jegliche Zukunftsperspektive. Resozialisierungsbemühungen würden mit Blick auf die unbestimmte Haftdauer viel häufiger abgebrochen. Obendrein verstärke die fortlaufende Politisierung der Sicherungsverwahrung die schon vorhandenen gesellschaftlichen Vorurteile gegenüber Gewalttätern, die ihre Strafe verbüßt haben.

Entsprechend der kontroversen Diskussion und dem Vorpreschen einiger Politiker bei dieser Thematik ist derzeit ungewiss, ob die Sicherungsverwahrung in Zukunft für bestimmte Ausnahmefälle ein Fremdkörper im Strafrechtssystem bleiben wird. Jüngste Gesetzesinitiativen und anhaltende Diskussionen über die angebliche „Notwendigkeit“ weiterer Verschärfungen des Strafrechts lassen vermuten, dass in den nächsten Jahren die Zahl der in Sicherheitsverwahrung befindlichen Insassen steigen wird. Darauf deutet auch hin, dass das Bundesverfassungsgericht kürzlich in einer Kompetenzentscheidung die Regelung der nachträglichen Verhängung der Sicherungsverwahrung zu einer Sache des Bundesgesetzgebers erklärt hat. So können künftig Gewalttäter in Sicherungsverwahrung genommen werden, obwohl dies im ursprünglichen Strafurteil nicht vorbehalten war.

Die rot-grüne Regierungskoalition habe im Jahre 2002 mit ihrer Weigerung, für solche Fälle ein Bundesgesetz zu schaffen, lediglich „Koalitionswohl vor Bürgerwohl“ gestellt, monieren die Unionsparteien. Als Reaktion hätten unionsgeführte Bundesländer „aus Notwehr“ weitergehende Regelungen herbeigeführt, um die anstehende Freilassung „tickender Zeitbomben“ zu unterbinden.

„Eine politische und mediale Öffentlichkeit, die „Sicherheit“ und „Ausnahmezustand“ ständig zum Ausgangspunkt von unüberlegtem Aktionismus macht, führt unsere freiheitliche Gesellschaftsordnung in eine gefährliche Sackgasse und vergiftet das gesellschaftliche Klima.“

Nicht nur die anhaltend aufgeregte Berichterstattung vieler Medien über schwere Ausnahmetaten wirkt überzogen, wenn man sich die eher beruhigenden Entwicklungen der Gewaltkriminalität vergegenwärtigt. Auch die fortwährende Politisierung der Sicherungsverwahrung verspricht wenig Gutes: Sie bedeutet die fortwährende Erhebung des Ausnahmezustands zu einem öffentlichen Gemeinplatz. In der aktuellen Kultur der Angst beziehen sich Politik, Medien und Öffentlichkeit offenbar mit Vorliebe auf den „hoch gefährlichen Gewohnheitsverbrecher“ als Personifizierung angeblich überall lauernder Gefahren. In einem solchen Klima werden dann mit fortwährendem Bezug auf Sicherheitsrisiken aller Art angebliche „Notwendigkeiten“ und Handlungserfordernisse begründet.

Dass hierdurch rechtsstaatliche Prinzipien immer mehr aus dem Blickfeld geraten, offenbart der genauere Blick auf die Fallstricke der Sicherungsverwahrung. Auch auf dem Feld der Terroristenbekämpfung werden in Diskussionen über die künftige Sicherheitsarchitektur der Bundesrepublik Deutschland traditionelle rechtsstaatliche Grundsätze in Frage gestellt, ohne dies zumindest bewusst zu reflektieren. Dies betrifft insbesondere die Vorschläge der Unionsparteien zur Aufhebung der Trennung von innerer und äußerer Sicherheit sowie zum Einsatz der Bundeswehr im Inneren.

Zwar ist gegenüber Terroristen wie auch anderen Gewalttätern eine angemessene Härte bei der Strafverfolgung notwendig und begrüßenswert. Doch ist schon heute abzusehen, dass eine politische und mediale Öffentlichkeit, die „Sicherheit“ und „Ausnahmezustand“ ständig zum Ausgangspunkt von unüberlegtem Aktionismus macht, unsere freiheitliche Gesellschaftsordnung in eine gefährliche Sackgasse führt und das gesellschaftliche Klima weiter vergiftet.

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