01.10.2013

Selbstbestimmung für Arabien

Essay von Karl Sharro

Westliche Einmischung ist maßgeblich für das Scheitern des arabischen Frühlings verantwortlich. Die Menschen hatte keine Chance, sich selbst zu befreien.

Während ich diese Zeilen verfasse, wird von der ägyptischen Polizei und der Armee ein blutiges Massaker begangen, bei dem Versuch, zwei Lager der Muslimbrüder zu räumen. Sie protestieren gegen den Militärputsch, der am 3. Juli zur Entmachtung des Präsidenten Mohammed Mursi führte. Inmitten der Gewalt, die bereits Hunderte von Menschenleben gefordert hat, haben die Behörden wieder den gefürchteten Notstand ausgerufen. Das weckt Erinnerungen an die jahrzehntelange Diktatur in Ägypten, die durch die Absetzung Husni Mubaraks am 11. Februar 2011 beendet worden war. Die Kombination aus der gewaltsamen Repression und dem wieder verhängten Notstand hat die kurzlebige Demokratie Ägyptens faktisch beendet, zumindest vorerst.

Dabei schien noch zu Beginn der arabischen Aufstände im Jahr 2011 alles ganz anders zu kommen, als eine Welle des Optimismus und des Widerstandes ein Land nach dem anderen erfasste, was Millionen arabischer Bürger noch auf ein Ende der autoritären Herrschaft in der Region und auf ein neues Kapitel von Demokratie und Freiheit hoffen ließ. Während Syrien immer tiefer im Morast eines konfessionellen Bürgerkriegs versinkt, dessen Ende nicht in Sicht ist, erlebt Tunesien derzeit eine politische Krise, die den im Land bestehenden post-revolutionären Konsens zerstörte, der noch auf die Anfänge des „Arabischen Frühlings“ zurückging. Wo man auch hinschaut, es besteht wenig Anlass zur Hoffnung.

Der Aufstand in Bahrain ist durch eine direkte Intervention der saudischen Truppen und mit stillschweigender Unterstützung der westlichen Regierungen gewaltsam niedergeschlagen worden. Jemens Präsident trat nach Verhandlungen zurück, die von regionalen und internationalen Mächten arrangiert worden waren, nur um dann seinen Vertreter nachrücken zu lassen, womit ein echter Wandel im Jemen ausgeschlossen ist. Libyen schließlich hat es erst mit Hilfe einer westlichen Militärintervention geschafft, seinen Führer Muammar al-Gaddafi zu stürzen, nur um daraufhin der Gnade der bewaffneten Milizen ausgeliefert zu sein, die sich wenig um die schwache Autorität der gewählten Regierung und Politiker scheren.

Warum die Aufstände gescheitert sind

Was ist hier falsch gelaufen? War das Scheitern der arabischen Aufstände unausweichlich? Oder ist es zu früh für eine solche Einschätzung, wie manche Kommentatoren behaupten? Ich werde im Folgenden dafür argumentieren, dass die arabischen Aufstände eine echte Chance auf Veränderung waren. Die Bedingungen für eine echte revolutionäre Umgestaltung waren gut, die Zeit war reif für die Beseitigung der verkommenen alten Ordnung und für hoffnungsvolle Schritte in Richtung Demokratie und Freiheit. Dass dieses Versprechen niemals eingelöst wurde, lag vor allem am Versagen der politischen Führung und mangelnder Organisation. Weder die politischen Eliten, noch die neu entstandenen Kräfte vermochten es, die revolutionäre Welle unter ihre Kontrolle zu bringen, ihr eine Bedeutung zu geben und sie durch den Wandel zu führen.

Es sind viele Gründe für dieses Scheitern genannt worden. Die langen Jahrzehnte der Unterdrückung, die die Fähigkeit zur politischen Organisation erodiert haben, die kleinlichen Streitereien zwischen den Fraktionen, die ideologischen Differenzen und, insbesondere in Syrien, die konfessionellen und ethnischen „Bruchlinien“, die die Ausbildung einer vereinten Opposition gegen das bestehende Regime verhindert haben – all das sind Erklärungen des Geschehens. Aber diese Gründe bleiben unvollständig. Über den praktischen Rahmen einer handlungsfähigen Opposition hinaus fehlte es auch an einer Vorstellung von Souveränität und vom Sinn und Zweck des eigenen Handelns sowie dem Glauben an Selbstbestimmung und an die eigene Verantwortung dafür, die Führung des politischen Übergangs zu übernehmen.

Das sind nicht bloß Plattitüden. Die völlige Missachtung der Souveränität von Ländern wie Syrien und Jemen durch externe Mächte hat eine entscheidende Rolle bei der Entgleisung der Aufstände gespielt. Das spiegelte sich in der Haltung der politischen Eliten wider, die sich meist selbst auf den Status bloßer Zuschauer reduziert haben, unwillig und unfähig, die Kontrolle über die Aufstände zu übernehmen und ihrer Machtübernahme eine politische Dynamik zu verleihen. Der krasseste Ausdruck dieses falschen Schwerpunkts und ein trauriger Anblick war das Betteln syrischer Oppositionsführer um eine Intervention des Westens und der Golfstaaten, anstatt alle Anstrengungen auf die politische Organisation vor Ort zu konzentrieren.

Die Entpolitisierung der Aufstände zeigte sich klar in der humanitären Sprache, derer sich sowohl die Akteure der ausländischen Mächte als auch diejenigen der inländischen Opposition befleißigten. In Syrien, Libyen und Bahrain äußerte sich diese falsche Konzentration auf einen Eingriff von außen in Slogans wie „die Welt muss etwas unternehmen“, „euer Schweigen ist unser Tod“ oder auch „nie wieder“. Hier zeigt sich auch ein falscher Begriff von Verantwortung, demzufolge ausländische Beobachter als gleichermaßen schuldig hingestellt werden wie das Regime, das die Aufstände niederschlägt.

Diese eher laxe Definition von Schuld stand im äußersten Widerspruch zu der Tatsache, dass die Demonstranten vor Ort dazu bereit waren, auf der Straße ihre Gesundheit und sogar ihr Leben zu riskieren. Aber die Aktivisten und aufstrebenden Anführer hatten bereits die Logik und den Diskurs des Interventionismus verinnerlicht und irrtümlich auf sie vertraut. Das zeugt gleichfalls von der Unfähigkeit, sich eine Sprache zu schaffen, mit der die Aufstände diskutiert werden können, ohne in die Bilder und Ausdrucksweisen ganz anderer Kontexte zurückzufallen, wie etwa denjenigen Bosniens oder des Holocausts. Als ob der Verlauf der Aufstände erst in die universelle Sprache von Opferrollen und gemeinsamen „humanitären“ Erzählungen übersetzt werden müsste, um ihm eine Bedeutung zu geben.

Der ausschlaggebende Wendepunkt war die Entscheidung des Westens, in Libyen zu intervenieren. Sie gab den Menschen in Syrien die vorübergehende Hoffnung, dass eine Intervention dann auch und gerade in ihrem Land unausweichlich sei. Die Tatsache, dass der Westen die Niederschlagung der Aufstände in Bahrain unterstützt hat, während er in Libyen intervenierte, wurde beim Wiedererwachen des humanitären Interventionismus weitgehend ignoriert. Die zynische und opportunistische Art der Intervention in Libyen blieb in der Folge unbeachtet, denn die Experten feierten lieber die neue Bereitschaft des Westens zu humanitären Interventionen.

Die westliche Intervention in Libyen wurde durch übertriebene Behauptungen bezüglich der Opferzahlen und der Fähigkeit Gaddafis gerechtfertigt, Gegner zu liquidieren und die Aufstände zu unterdrücken. Noch wichtiger aber ist die Botschaft, dass Menschen nicht darauf hoffen dürfen, sie könnten sich ohne fremde Hilfe von einem repressiven Regime befreien. Hier zeigt sich der Verfall unserer Vorstellung von Selbstbestimmung, die noch vor wenigen Jahrzehnten weltweit die Kämpfe für nationale Unabhängigkeit motiviert hatte.

Die Intervention musste zwei Katastrophen nach sich ziehen, von denen man sich lange nicht erholen wird. Zum einen ermöglichte sie einer noch nicht voll entwickelten politischen Opposition den militärischen Sieg, die ihre Ziele für die Zeit nach Gaddafi, für die sie kämpft, noch gar nicht bestimmen konnte. Und zweitens hat sie zur Entstehung schwer bewaffneter Milizen beigetragen, die in Libyen mittlerweile bedeutende lokale Mächte sind und weitgehend außerhalb politischer Kontrolle operieren. Beide Ergebnisse tragen zu der überwiegend ignorierten Dauerkrise in Libyen bei. Eine schwache und unwirksame Regierung sieht sich von bewaffneten Milizen bedroht und ist nicht in der Lage, das Land voranzubringen.

Die Intervention entzog dem libyschen Volk die Möglichkeit, seinem Kampf eine Bedeutung zu verleihen und sich selbst politisch zu organisieren und damit den Weg für einen Übergang zur Demokratie in der Zeit nach Gaddafi zu ebnen. Stattdessen wurden dem libyschen Volk ein leerer Sieg und ein unkontrollierbarer Staat geschenkt, der inzwischen vom Radar westlicher Medien und Politiker verschwunden ist. In Ausnahmesituationen lebt das Interesse des Westens wieder auf, wie nach dem Angriff auf das US-Konsulat in Bengasi am 11. September 2012. Aber das führte kaum zu Spekulationen über eine Verbindung zwischen der Intervention und Libyens aktueller Sicherheitslage und seiner politischen Landschaft.

Die Unfähigkeit zur Sinnstiftung

Der humanitäre Interventionismus hat jedoch kaum Geduld für solche Überlegungen. Er zieht es vor, in Extremen zu denken. Es hieß damals: entweder die Intervention oder eine völlige Vernichtung der libyschen Opposition. Das ist eine völlig ungenaue und ahistorische Perspektive. Man fragt sich, welche Entwicklung die langen und blutigen Kämpfe der Vietnamesen oder Algerier gegen die gewaltigen imperialen Mächte genommen hätten, wenn diese Logik damals schon vorgeherrscht hätte. Die Logik des Interventionismus ist oberflächlich und interessengeleitet; sie portraitiert die Menschen als unserer Hilfe bedürftige Opfer und nicht als zu autonomen Kämpfen fähige politische Akteure, die bereit sind, sich für ihre Ziele zu opfern.

Das eigentliche Problem bei den arabischen Aufständen bestand nun darin, dass auch die Oppositionsführer und Aktivisten sich die Logik des Interventionismus zu Eigen machten. Sie betrachteten ihre Kämpfe als fragile Bemühungen, die einer externen Intervention bedürfen, um erfolgreich zu sein. Hatten die Medien bisher die Funktion übernommen, Konflikte durch Ablenkung der öffentlichen Meinung herunterzuspielen – man erinnere sich an den Vietnamkrieg –, so hat sich der Schwerpunkt inzwischen zugunsten einer weit zentraleren Rolle verschoben. Syrische Aktivisten haben beispielsweise viel Energie investiert, um über Twitter-Kampagnen die Menschen im Westen, insbesondere Prominente, für Syrien zu interessieren und zur Unterstützung des Aufstands zu bewegen.

Aber was kann die Unterstützung eines ausländischen Beobachters für die Aufstände letzten Endes bedeuten? Was sollte einen zu der Erwartung veranlassen, dass ein französischer Bürger oder ein amerikanischer Promi die politischen Komplexitäten Syriens durchschaut und darüber etwas Maßgebendes zu sagen hat? Politische Kämpfe erlangen ihre Bedeutung durch Kontext und Erfahrung; ihr Kampf ist nicht der um die Anerkennung als ein Opfer. Tatsächlich hatten diese Kampagnen einzig und allein den Zweck, die westliche Intervention zu begünstigen.

Leider kontrastierten diese fehlgeleiteten Anstrengungen zugleich mit der Unfähigkeit, mit den sich bisher heraushaltenden Syrern in Kommunikation zu treten und so den Rückhalt des Aufstands im Volk auszuweiten. Wie zu erwarten war, nutzte das syrische Regime die konfessionellen und ethnischen Spaltungen des Landes erfolgreich aus, um seine Machtposition zu erhalten. Da die Opposition es nicht schaffte, sich ein programmatisches Selbstverständnis zu geben – das die Syrer gegen das Baath-Regime hätte mobilisieren können, so dass sie den Versuchen zur Ausnutzung ihrer Differenzen etwas entgegenzusetzen hätten –, trägt sie die Hauptschuld daran, dass der Aufstand in einen Bürgerkrieg ausgeartet ist.

Während des Aufstands übergingen die globalen und regionalen Mächte rücksichtslos die Souveränität Syriens und mischten sich beharrlich in den Konflikt mit ein. Aber das moralische Getue der Westmächte, angeführt von den USA, konnte nicht verschleiern, dass es an einem klaren, mit dem strategischen Interesse in Syrien verbundenen Sinn fehlte, an dem sich die westliche Politik hätte ausrichten können. Auch zweieinhalb Jahre nach Beginn des Konflikts bleibt der Westen zu entscheidenden Handlungen in Syrien völlig unfähig. Befürworter einer Intervention deuten das als Feigheit, aber tatsächlich zeigt sich hier das von der US-Regierung und ihren Verbündeten selbst geschaffene Paradox: Sie wollen die humanitären Retter in von ihnen kaum kontrollierbaren Situationen spielen, für die sie sich kein wünschenswertes Ergebnis vorstellen können.

Und doch, anstatt sich rauszuhalten, so dass die Syrer die Situation selbst lösen können, unterstützen die USA und ihre Verbündeten weiterhin verschiedene Oppositionsgruppen. Sie haben den syrischen „Rebellen“ auch weiterhin „nicht-tödliche“ Unterstützung zukommen lassen. Und ihren Verbündeten Katar, Saudi-Arabien und der Türkei erlaubten sie, diese mit Waffen zu beliefern. Diese Einmischung zog weitere Akteure mit in den syrischen Konflikt hinein. Der Iran und die libanesische Hisbollah-Partei weiteten ihre Unterstützung des syrischen Regimes aus, denn sie hatten erkannt, dass dieses durch eine pro-westliche Regierung ersetzt werden sollte. Auch Russland hat seine Unterstützung Assads aufrechterhalten.

Die Eskalation des Krieges in Syrien war eine direkte Folge aus den anhaltenden und doch zwecklosen Einmischungen des Westens. Es liegt auf der Hand, dass diese das Ergebnis der humanitären Variante des interventionistischen Denkens sind, das sich von seinen traditionell imperialistischen Vorgängern gerade durch das Fehlen von eindeutig nachvollziehbaren, ergebnisorientierten Strategien unterscheidet. Der Westen muss sich vorwerfen lassen, einer kurzsichtigen pseudomoralischen Politik gefolgt zu sein der es sowohl am Verständnis der Komplexität der Situationen als auch an einer Perspektive auf die eigenen längerfristigen Interessen mangelt.

Der Aufstieg des Islamismus

Die syrischen Aufstände sind in zweierlei Hinsicht gescheitert: Einerseits hat die politische Opposition darin versagt, sich effektiv zu organisieren und durch die Formulierung einer klarer politischen Agenda eine breite Unterstützerbasis auszubauen. Andererseits hat die Opposition die bewaffneten Rebelleneinheiten nicht unter ihre Kontrolle gebracht, um eine zentralisierte Militärführung zu etablieren, die die Operationen und Ziele hätte koordinieren können. So konnten die verschiedensten islamistischen Elemente diese Schwäche für sich nutzen und das Vakuum ausfüllen, das die Opposition in ihrer militärischen und politischen Selbstorganisation hinterlassen hatte. So gelang es ihnen, ihre Kontrolle über die „befreiten“ Gebiete auszuweiten.

Die Islamisten, die auch mehrere Dschihad-Gruppen unter sich versammeln, von denen wiederum einige offen mit al-Qaida verbunden sind, hatten aus zwei Gründen dort Erfolg, wo die „externe Opposition“ gescheitert ist. Erstens arbeiteten sie direkt vor Ort und in direktem Kontakt mit den Menschen, statt die Ereignisse aus den gemütlichen Städten des Westens und der Golfstaaten dirigieren zu wollen. Und zweitens hatten sie im Gegensatz zur Opposition ein eindeutiges politisches Selbstverständnis, waren angetrieben von einer islamistischen Agenda. Beide Umstände trugen dazu bei, dass sie erfolgreich Anhänger rekrutieren und ihren Einfluss ausweiten konnten, zusätzlich unterstützt durch die Waffenlieferungen der Golfstaaten.

Seltsamerweise versuchen die Interventionisten selbst den Aufstieg der Islamisten so zu hinzudrehen, dass er als Folge einer nicht rechtzeitig erfolgten Intervention des Westens erscheint. In seiner krassesten Form zeigt sich das in der Behauptung, die Islamisten hätten die Situation überhaupt erst ausnutzen und in Syrien Bedeutung erlangen können, weil der Westen zurückhaltend dabei war, Assad durch eine militärische Intervention loszuwerden. Die Logik des Interventionismus ist in unseren Tagen im politischen Diskurs derart fest verwurzelt, dass sie viele Leute für die tatsächlichen Ursachen und Wirkungen und für das Verständnis der politischen Entwicklungen blind macht.

Bezeichnenderweise ist dieses Argument sowohl von westlichen Interventionisten als auch von den syrischen Oppositionellen selbst vertreten worden. Erstere wollten damit ihre Auffassung von Interventionen als Standardoption der Außenpolitik rechtfertigen. Und die syrische Opposition wollte so ihre eigenen Fehler rechtfertigen und die Verantwortung für das Scheitern des Aufstands von sich selbst auf den Westen ablenken. Diese alarmierende Konvergenz zeigt, wie perfide die Logik des Interventionismus mittlerweile ist und wie fest sie zudem in der politischen Imagination ist.

Die Unaufrichtigkeit des Interventionismus

Es ist eine grausame Ironie des Schicksals, dass die arabischen Aufstände ausgerechnet in eine Phase weltweiter politischer Desorientierung fielen. Die Konzepte der Autonomie, der politischen Subjektivität und der Selbstbestimmung haben ihren Wert als philosophische Grundlagen politischen Handelns verloren. Seit der Interventionismus im politischen Diskurs Fuß gefasst hat und die realen Menschen zugunsten einer virtuellen „internationalen Gemeinschaft“ marginalisiert worden sind, ist die Souveränität als Ausdruck nationaler Unabhängigkeit anhaltenden Angriffen ausgesetzt.

Souveränität ist aber als Rahmen für politisches Handeln unerlässlich. Die Westmächte repräsentieren mit ihren Behauptungen darüber, „was die Syrer und Libyer wollen“, nicht wirklich den Willen dieser Völker, sondern bieten nur imposante externe Interpretationen darüber an. Solche falschen Abstraktionen können die echte politische Auseinandersetzung der Menschen über die Gestaltung ihres Schicksals und ihrer Gesellschaft nicht ersetzen.

Tragischerweise haben sich nun selbst jene Menschen, die sich gegen ihre autoritären Herrscher wehren, diese degenerierte Einstellung zur Politik angeeignet. Selbst sie erweisen sich als von den Werten der Selbstbestimmung und der Autonomie nicht wirklich überzeugt. Aber ihre Opferbereitschaft und ihre politische Energie sind verschwendet, weil sie die Möglichkeit verpasst haben, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Der Westen hat es in seiner verzweifelten Suche nach moralischer Sinnstiftung durch unberechenbare interventionistische Abenteuer geschafft, sein defizitäres Politik-Konzept in die ganze Welt zu tragen.

Die Heuchelei dieser westlichen Haltung, die mehr von zynischen Kalkulationen getrieben ist als vom prinzipientreuen Glauben an universelle demokratische Werte, trat im Falle Bahrains und zuletzt auch in Ägypten offen zutage. Die USA und die EU haben den Putsch eines Militärregimes gegen einen gewählten Präsidenten faktisch gebilligt, aufgrund seiner vagen Aussagen zur Wiederaufnahme der Demokratisierung und trotz der Massaker an Hunderten von Unterstützern der Muslimbruderschaft durch das Regime.

Der ehemalige britische Premierminister und Erz-Interventionist Tony Blair ging sogar noch einen Schritt weiter. Er unterstützt das Militärregime vollkommen und meint, dass es gar keine andere Wahl hatte, als Mursi zu stürzen. Solche Heucheleien zeigen jedem, dass die westlichen Befürworter des Interventionismus in Wirklichkeit nur wenig Vertrauen in die Demokratie hegen. Das kann niemanden überraschen, denn eigentlich ist der Interventionismus gegenüber den Objekten seines Mitleids voller Geringschätzung. Wo andere über Leben und Tod entscheiden, spielen demokratische Wahlentscheidungen wohl kaum eine Rolle.

Das Wiederaufleben der Doktrin des Interventionismus nach den katastrophalen Interventionen in Afghanistan und Irak zeigt, dass dessen Befürworter nur wenig aus diesen Erfahrungen gelernt haben. Die Interventionen in Libyen und Mali werden uns als Erfolge verkauft, unter weitgehender Ausblendung der wirklichen Konsequenzen. Ohne zu übertreiben, darf behauptet werden, dass ein gesundes Verständnis von Politik und vom Kampf für Demokratie nur zu haben ist, wenn wir den perversen Einfluss des Interventionismus beseitigen. Zugleich müssen die Werte der Selbstbestimmung und -gestaltung wiederbelebt werden. Sie sind die Voraussetzung für die Verwirklichung der Ziele, um deren Willen diese Kämpfe überhaupt stattfinden.

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