01.09.2002

Risiko, Wissenschaft und Gesellschaft

Essay von Colin Berry

Die Obsession mit sehr geringen Bedrohungen hat ein Stadium erreicht, in der sie schädlich wird.

Risikovermeidung scheint heute das oberste Gebot bei der Gestaltung unseres Alltagslebens zu sein. Die hierüber geführten Debatten erinnern an jene des Mittelalters, als es darum ging, wie viele Engel auf einer Nadelspitze Platz finden. Ausgangspunkt sind oft von Umweltgruppen lancierte selektive Daten, die alles ausblenden, was gegen ihre Thesen spricht. Auf dieser Grundlage werden dann allerlei Forderungen formuliert, wie dieses und jenes sicherer zu machen sei. Oder es wird (von der anderen Seite) dargelegt, dass die betreffenden Dinge bereits sicher seien.

Es lässt sich jedoch nie beweisen, dass etwas sicher ist. Man kann lediglich nachweisen, dass ein Gegenstand oder eine Aktivität bisher keine schädigende Wirkung erkennen ließ. Deshalb kann man zur Vorsicht mahnen, obwohl es bei der betreffenden Sache bis dahin keinen Hinweis auf eine Gefährdung gab.

Sicherheit ist zudem ein zweischneidiges Schwert. Maßnahmen, die auf der einen Seite für mehr Sicherheit sorgen, führen fast immer zu mehr Unsicherheit auf der anderen. Siddal hat das hervorragend formuliert, als er schrieb: „Sicherheit ist der Grad, in dem vorübergehende Krankheiten oder Verletzungen oder chronische oder bleibende Krankheiten oder Verletzungen für eine Gruppe von Menschen kontrolliert, vermieden oder in ihrer Häufigkeit oder Wahrscheinlichkeit gemindert werden.“ Ein Beispiel sind Airbags, die zweifellos vielen Menschen das Leben gerettet, aber auch andere dasselbe gekostet haben.

Unbeabsichtigte Verletzungen

Die Angst aufgrund der unvermeidbaren Unsicherheit über vermeintliche Folgen bestimmter Ereignisse, Infektionen, Giftstoffe oder Veränderungen in der Umwelt führt zu irrationalen Reaktionen, die selbst neue Probleme hervorrufen.

Wenn wir uns etwa die Daten über Impfungen gegen Kinderkrankheiten anschauen, ist klar, dass diese maßgeblich dazu beigetragen haben, die Kindersterblichkeit zu verringern und so die durchschnittliche Lebenserwartung zu erhöhen. Weniger leicht zu quantifizieren, aber ebenfalls von Bedeutung sind die Effekte hinsichtlich der Sterblichkeit von Erwachsenen.

Ein aktuelles Beispiel ist die Kontroverse um die Mumps-Masern-Röteln-Impung (MMR). Masern sind hochansteckend und treten in Bevölkerungsgruppen mit einer Impfquote unter 75 Prozent als Epidemie auf. In einem von 20 Fällen gehen die Masern mit einer Infektion des Ohres einher, in einem von 25 Fällen mit Lungenentzündung oder Bronchitis (mit manchmal bleibenden Schäden der Lunge), in einem von 200 mit Krämpfen, in einem von 1000 mit Hirnhautentzündung oder Gehirnentzündung, in einem von 2500 bis 4000 Fällen mit dem Tod und in einem von 8000 mit der grausamen subakut sklerosierenden Panencephalitis.

Die schlecht untermauerte Hypothese über einen Zusammenhang zwischen der MMR-Impfung und dem Auftreten von Autismus hat eine Angst hervorgerufen, die für einen Rückgang der Impfungen verantwortlich ist – so dass auch in Großbritannien mit Masernepidemien gerechnet werden muss, nachdem solche bereits in Schweden, den Niederlanden, Irland und Deutschland aufgetreten sind und auch zu Todesfällen geführt haben. Dies ist eine fatale Reaktion auf schlechte wissenschaftliche Daten.

Leider sind solche irrationalen Reaktionen nichts Neues. In den 1970er-Jahren löste die Hypothese, die Impfung gegen Keuchhusten könne zu Hirnhautentzündung führen, einen Rückgang der Impfquote von 79 auf 31 Prozent aus. Die Folge war eine Epidemie mit 28 Todesopfern und viel Leid.

Es gibt tatsächlich – wenn auch selten – Probleme mit Impfungen. Das Verschwinden der Kinderlähmung in Europa war ein unschätzbarer Segen für uns alle. Die Gefahren der Verwendung von Lebendimpfstoffen zeigten sich jedoch kürzlich bei einem Ausbruch von Kinderlähmung infolge von Schluckimpfungen in der Dominikanischen Republik. Ein Lebendimpfstoff kann sich so verändern, dass er bei bestimmten Menschen zur Erkrankung führt. Dennoch zeigt eine Kosten-Nutzen-Abschätzung klar, dass die Impfung der richtige Weg ist, da eine solche Komplikation nur bei einem von 2 Millionen Geimpften auftritt. Dieses Beispiel zeigt, dass es keine Maßnahme gibt, die unter allen Umständen allen nutzt und niemandem schadet. Ein anderes Beispiel ist die gegenwärtige Debatte um die Sicherheit von Hochgeschwindigkeitszügen in Großbritannien. Wenn die hohen Geschwindigkeiten verboten würden, führte dies zu einer Zunahme des Autoverkehrs und damit wahrscheinlich zu einem absoluten Anstieg tödlicher Unfälle.

Missachteter Nutzen

Die Geringschätzung von Nutzen ist ein Teil der Irrationalität. Hierbei spielen verschiedene Aspekte eine Rolle. Zum Teil sind sie leicht nachvollziehbar – so wird die Gefahr, dass ein Kind an Masern stirbt, als so gering erachtet, dass sie von Impfgegnern vernachlässigt wird. Zum Teil aber sind die Zusammenhänge etwas komplizierter, wenn es nämlich nicht um den individuellen Nutzen, sondern um den Nutzen für die Gesellschaft geht, der uns zwar bewusst ist, uns aber nicht unmittelbar berührt, wie etwa die durch eine effizientere Landwirtschaft verbesserte Ernährungssituation, die wiederum die allgemeine Gesundheit positiv beeinflusst. Dabei kommt es zu Effekten, die einem nicht ohne weiteres bewusst werden: So ist aufgrund der zunehmenden Körpergröße von Frauen die Geburt von Kindern einfacher und sicherer geworden. Solche Effekte summieren sich und lassen sich dann in beeindruckenden Zahlen ausdrücken, wie z.B., dass die Lebenserwartung in den letzten hundert Jahren drastisch angestiegen ist: Männer werden heute durchschnittlich 75,1 statt nur 44,1 Jahre alt, Frauen 80 statt 47,6. Die Wertschätzung der Fortschritte, die dies ermöglicht haben, ist dennoch sehr begrenzt.

Natürlich gibt es auch hier wieder Schattenseiten. Wenn Nahrung im Überfluss vorhanden ist, kann es leicht zu Übergewichtigkeit kommen, was wiederum mit einer Zunahme bei Krebserkrankungen in Zusammenhang gebracht wird.

Vergänglicher Nutzen

Es ist normal und in Ordnung, alle Vorzüge des heutigen Lebens als gegeben zu nehmen. Es muss jedoch bedacht werden, dass diese Errungenschaften wieder verschwinden werden, wenn wir auf die Techniken verzichten, die sie ermöglicht haben. Die Nahrungsmittelversorgung ist keinesfalls ohne weiteres gesichert. Es kommt immer wieder zu schweren Ernteeinbrüchen, etwa wenn Schädlingsbefall nicht wirksam kontrolliert wird. Deshalb ist die Vorstellung, man könne durch biologischen Landbau unter Verzicht auf Pflanzenschutzmittel unter dem Strich einen Nutzen für die Menschen erzielen, nicht tragfähig. Abgesehen von den dokumentierten Gefahren, die für die Landwirte durch den (bei Verzicht auf Chemie) erhöhten Maschineneinsatz verbunden sind, gibt es auch für die Verbraucher eine Reihe von Problemen hinsichtlich der Qualität und Versorgungssicherheit. Für den Landwirt entsteht die Problematik, dass er sich auf bestimmte Getreidesorten spezialisieren muss, was zu einer erhöhten Anfälligkeit für Epidemien oder wetterbedingten Ernteverlusten führt.

Es ist normal und in Ordnung, alle Vorzüge des heutigen Lebens als gegeben zu nehmen. Jedoch verschwinden diese Errungenschaften wieder, wenn wir auf die Techniken verzichten, die sie ermöglicht haben.

Irrationale Überzeugungen

Uns werden immer wieder Patentlösungen angeboten. Richtige Ernährung und gezielte körperliche Ertüchtigung verhelfen uns scheinbar zu ewigem Leben. Solche Glaubenssätze vermitteln den Eindruck, alles werde gut, wenn man nur bestimmte Dinge tue oder esse.

Nehmen wir zum Beispiel Soja: In der Zeitung steht immer wieder zu lesen, dass die enthaltenen Östrogene sich positiv auf die Gesundheit auswirken. In vielen Artikeln liest man die unsinnige Behauptung, japanische Frauen würden keine Hitzewallungen bekommen. Die feste Überzeugung, dass Soja gesund sei, führt zur Missachtung gegenteiliger Erkenntnisse. Setchell et al. zum Beispiel haben festgestellt, dass bei männlichen Kindern, die Kindernahrung auf Sojabasis erhalten, der Östrogenspiegel den Wert, der bei Erwachsenen zu hormonellen Wirkungen führt, um das Sechs- bis Elffache überschreitet. Berechnungen zeigen, dass so in frühem Alter das 13.000- bis 22.000-fache der normalen Plasma-Estradiol-Konzentration erreicht werden kann.

Aus Ergebnissen, die es rechtfertigen, bestimmten Patienten eine bestimmte Ernährung zu empfehlen, kann nicht abgeleitet werden, dass diese Ernährung für alle Menschen die richtige ist.

Zudem führt das in Soja enthaltene Phytoöstrogen Genistin zu strukturellen chromosomalen Änderungen in menschlichen Lymphozyten. Eine epidemiologische Studie von North et al. hat gezeigt, dass bei männlichen Kindern von Frauen, die in der Schwangerschaft Sojaproteine essen, verstärkt Penisfehlbildungen (Hypospadie) auftreten.

Im Grunde haben wir also alle Ingredienzien für eine Gesundheitspanik (hormonelle Effekte, die normalerweise von der Presse als krebserregend bewertet werden, und Daten, die auf Verursachung von Missbildungen beim Menschen hinweisen). Dennoch gilt Soja nach wie vor als besonders gesund. Doch ob es das wirklich ist, ist alles andere als gewiss. Die bedenkenlose Empfehlung von Sojapräparaten ist daher gefährlich.

Das Gleiche erleben wir bei den Antioxidantien, die ständig zur Gesundheitsförderung empfohlen werden, obwohl nicht bekannt ist, ob die Reagenzglaseffekte, bei denen sich ein Zellschutz zeigt, einfach auf die Ernährung übertragen werden können. Studien haben bisher nichts Überzeugendes geliefert. Die Vitamin-E-Gabe bei 7000 männlichen und 2500 weiblichen Probanden mit hohem Herzinfarktrisiko zeigte keinen Effekt. Bei manchen Studien ließen sich sogar negative Auswirkungen nachweisen.

Das grundsätzliche Problem ist, dass man aus Ergebnissen, die es rechtfertigen, bestimmten Patienten eine bestimmte Ernährung zu empfehlen, nicht ableiten kann, dass diese Ernährung für alle Menschen die richtige ist.

Zwei Dinge sind zu beachten: Erstens sind die negativen Ereignisse, die wir vermeiden wollen, oft nicht quantifizierbare Bedrohungen, also „Beeinflussungen, die unter bestimmten Bedingungen gesundheitsschädigend sein können”. Meist geht es dabei um chronische Erkrankungen, deren direkte Verursachung noch kaum verstanden ist (etwa Arthritis), oder solche, deren Verursachung gut erforscht ist, bei denen aber die schädigenden Einflüsse nur sehr vage definiert sind (Beispiel Darmkrebs). Oft wird nach Zusammenhängen zwischen Ernährung und Erkrankung gesucht. Wenn aber, wie beim Darmkrebs, die Krankheit selten ist, verwundert es nicht, dass etwa die Aufforderung an die allgemeine Bevölkerung, viele Ballaststoffe zu essen, keinen Effekt zeigt.

Zu den „besonderen Bedingungen”, unter denen es zu einer Erkrankung kommt, zählen die genetische Veranlagung und bestimmte Einflüsse – etwa eine ungewöhnliche Umwelt oder Ernährungsweise.

Zweitens ist das Risiko – wenn es korrekt definiert wird als die Wahrscheinlichkeit, dass eine bestimmte Gesundheitsbeeinträchtigung in einer bestimmten Zeitspanne oder infolge einer außergewöhnlichen Belastung auftritt – für seltene Krankheiten sehr schwer zu messen. Die übliche Methode, die Rate der dokumentierten Fälle nach einer Intervention zu zählen, ist daher selten erfolgreich.

Dieses allgemeine Problem wird noch dadurch verschärft, dass Daten oft durch Vorurteile ersetzt werden – ein Vorgehen, für das der Name „Vorsorgeprinzip” erfunden wurde.

Holm and Harris haben das Vorsorgeprinzip folgendermaßen definiert: „Wenn eine Aktivität zu schweren oder unwiderruflichen Beeinträchtigungen der menschlichen Gesundheit oder der Umwelt führt, dann sollen Vorsorgemaßnahmen getroffen werden, die die Möglichkeit einer Gefährdung ausschließen, auch wenn der Kausalzusammenhang zwischen Aktivität und Beeinträchtigung nicht bewiesen oder schwach oder das tatsächliche Auftreten der Beeinträchtigung sehr unwahrscheinlich ist.” 

Dieses Prinzip sollte bei der Interpretation von Daten für die ganze Bevölkerung nie Anwendung finden. Es ist das genaue Gegenteil von wissenschaftlichem Vorgehen, da die Gewichtung unterschiedlicher Forschungsergebnisse willkürlich verändert wird. Wer entscheidet, dass bestimmte Ergebnisse wichtiger sind als andere, behauptet letztlich nur, dass er weiß, was gut ist.

Was sollen wir tun?

Unser Ziel muss Sorgfalt und Vorsicht sein. Aber eine Garantie, dass niemand je von irgendetwas Schaden nehmen wird, kann es nicht geben. Für eine realistische Gefahrenbeurteilung werden unsere zunehmenden Erkenntnisse über unser Erbgut immer wichtiger. Die Anfälligkeit verschiedener Bevölkerungsgruppen für bestimmte Gefahren ist unterschiedlich.

Im östlichen Mittelmeerraum ist zum Beispiel der Glucose-6-Phosphat-Dehydrogenasemangel verbreitet. Wer davon betroffen ist, erkrankt an einer hämolytischen Anämie, wenn er bestimmte Medikamente einnimmt. Das ist kein Grund, diese Medikamente (Sulphonamide) zu verbieten. Es ist ein Grund, bei ihrer Anwendung vorsichtig vorzugehen.

Auch im Bereich der sehr verbreiteten Kreislauferkrankungen ist die individuelle Variabilität im Hinblick auf die Anfälligkeit sehr hoch. Ebrahim and Smith haben die Effekte verschiedener Maßnahmen zur Verringerung des Risikos für Herz-Gefäß-Erkrankungen, der allgemeinen Sterblichkeit und der Sterblichkeit aufgrund von Herzversagen bei erkrankten Personen untersucht.14 Sie haben eine Metaanalyse durchgeführt, bei der sie kontrollierte Studien auswerteten, in denen Patienten das Rauchen aufgaben, Sport trieben, sich Diäten unterzogen, ihr Gewicht reduzierten und Blutdruck und Cholesterin senkende Medikamente einnahmen. Der gesamte Datenbestand umfasste dabei 900.000 Mann-Jahre. Die zusammengefassten Effekte waren im Hinblick auf die Sterblichkeit nicht signifikant. Daraus lässt sich folgern, dass Maßnahmen zur gesundheitlichen Aufklärung der Bevölkerung von sehr begrenztem Nutzen sind. Wir müssen uns in der Krankheitsvorsorge stärker auf klar definierte Risikogruppen konzentrieren.

Veränderungen in der Gesellschaft

Persönliche Einstellungen in Sachen Gesundheit variieren und zeigen einen wichtigen Trend. Barsky and Borus haben festgestellt, dass die Somatisation (das Berichten von körperlichen Leiden, für die sich keine Krankheitsursache finden lässt) in den entwickelten Gesellschaften stark zugenommen hat. Die Toleranz gegenüber leichten Symptomen und harmlosen Beschwerden ist gesunken; Ärzte werden bei immer geringeren Anlässen aufgesucht. Aus diesen und weiteren Gründen ist es angebracht, das Konzept des „akzeptablen Risikos“, das etwa für Schadstoffbelastungen am Arbeitsplatz sinnvoll ist, für solche nicht quantifizierbaren Bedrohungen nicht anzuwenden.

Wir müssen Toleranz gegenüber individuellem Schaden entwickeln, wenn wir nicht durch übereifrige Kampagnen zum Schutz Einzelner der Allgemeinheit Schaden zufügen wollen.

Schlussfolgerungen

Nie hat ein Kind wegen des Pflanzenschutzmittels Alar oder der Radioaktivität in der Umgebung der Wiederaufbereitungsanlage in Sellafield Krebs bekommen, doch diese Behauptung wird ständig wiederholt. Wir beobachten eine unkritische Akzeptanz von Überzeugungen, die letztlich Glaubensbekenntnissen gleichkommen. Diese Bekenntnisse werden durch wissenschaftliche Untersuchungsergebnisse nicht tangiert, und auch neue und bessere Studien bewirken keine Meinungsänderung.

Wie gefährlich etwas tatsächlich ist, entscheidet nicht darüber, wie gefährlich es allgemein wahrgenommen wird. Atomkraft und Giftgas gelten als große Gefahren. Sonnenbaden und Fahrrad fahren rangieren dagegen weit unten auf der Bedrohungsskala, obwohl den meisten Leuten die langfristigen Gefahren des ersten und die mit zweitem verbundenen Verletzungen wohl bekannt sind. Allgemein werden Risiken dann akzeptiert, wenn an einen Nutzen geglaubt wird – etwa bei Heilkräutern–, obwohl deren Gefahren klar nachgewiesen wurden.

Wie soll man damit umgehen, dass Gesundheitspaniken, wenn sie erst einmal losgetreten wurden, sich lange halten und Schaden anrichten? Eine Möglichkeit besteht darin, sich in der Gesellschaft auf einen bestimmten Umgang mit der konkreten Sache zu einigen, wie wir das zum Beispiel bei der Polio-Impfung getan haben.

Die Alternative wäre ein im wissenschaftlichen Sinne rationales Vorgehen. Dabei müsste es Menschen ermöglicht werden, eine wissenschaftliche Abwägung von Gefahren nachzuvollziehen und die Qualität wissenschaftlicher Aussagen zu beurteilen. Dies ist gewiss ein hilfreicher Ansatz, wenn es zum Beispiel um bestimmte Behandlungsformen für Krankheiten geht, deren Erfolg klar messbar ist. Ein solcher wissenschaftlich begründeter Ansatz muss auch Grundlage für die Regulierung von Xenobiotika (Medikamente, Pestizide und Industriechemikalien) sein.

Es hat sich jedoch gezeigt, dass der Ansatz nicht funktioniert, wenn erst einmal eine Bedrohung durch eine Lobbygruppe ausgewählt und Kampagnen gestartet worden sind. Dann machen sich die Medien nicht die Mühe, wissenschaftliche Beurteilungen verständlich aufzubereiten, sondern präferieren eine unkomplizierte Story. Alle Ergebnisse, die gegen die vermeintliche Gefahr sprechen, werden schlicht ignoriert.

Eine weitere Schwierigkeit besteht darin, dass wir in einer liberalen Gesellschaft jedem das Recht zusprechen, ungesund oder gefährlich zu leben. Doch muss diese Freizügigkeit dort ihre Grenzen haben, wo andere gefährdet werden. Deshalb sollten wir vielleicht die Rückkehr der Masern und Röteln nicht hinnehmen, sondern eine Position einnehmen, die in einigen Staaten der USA bereits praktiziert wird, wo nur Kinder eingeschult werden, die geimpft sind. Entsprechende Vorschriften haben wir ja bereits für Medizinstudenten, für die eine Hepatitis-B-Impfung vorgeschrieben ist.

Oft werden Daten durch Vorurteile ersetzt – ein Vorgehen, für das der Name „Vorsorgeprinzip” erfunden wurde.

Wir haben in der öffentlichen Diskussion zur Zeit eine seltsame Gemengelage: Neben der wachsenden öffentlichen Zurschaustellung von Vor- und Fürsorglichkeit findet sich auch eine Begeisterung für die Einschränkung individueller Freiheiten, etwa indem Vorschriften für die richtige Ernährung gemacht werden. Diese sind wissenschaftlich oft nicht haltbar und verwechseln oft eine empfundene Bedrohung mit einem tatsächlichen Risiko.

Dieser Drang, Gutes zu tun, ist verbunden mit der festen Überzeugung, dass einfach nichts mit einer Gefahr verbunden sein darf. Ich denke, wir müssen eine kollektive Toleranz gegenüber individuellem Schaden entwickeln, wenn wir nicht durch übereifrige Kampagnen zum Schutz Einzelner der Allgemeinheit Schaden zufügen wollen. Zu unseren Aufgaben zählt es, das Denken der Meinungsbilder zu beeinflussen, und wenn wir es ernst meinen, müssen wir daher zwei (unbequeme) Dinge tun:

Zum einen müssen wir bereit sein, wenn möglich schnell und in einem nicht-wissenschaftlichen Umfeld auf Gesundheitspaniken zu antworten. Und zum anderen müssen einige darauf verzichten, Angst zu erzeugen, um ihre Chance zu erhöhen, an neue Forschungsgelder zu kommen.

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