01.09.2003

Reformdebatte (Teil I)

Analyse von Sabine Reul

Lange war vom Reformstau die Rede, jetzt stehen wir vor der Reformlawine. Mit der Agenda 2010 will die Bundesregierung gleich reihenweise Reformprojekte umsetzen. Daher erleben wir – auf jeden Fall rhetorisch – eine Art Götterdämmerung des Wohlfahrtsstaats. Doch viel ist davon leider nicht zu erwarten.

Die Ansprüche der Regierung an ihr Reformpaket sind nicht eben bescheiden. So erklärte die Bundestagsfraktion der SPD anlässlich seiner Vorlage: „Die Agenda 2010 gibt notwendige Antworten auf die radikal veränderten Herausforderungen der Gegenwart. Es geht dabei um grundsätzliche Weichenstellungen und weitreichende Umstrukturierungen in den Bereichen Konjunktur und Haushalt, Arbeit und Wirtschaft sowie soziale Sicherung. Es geht um die Erneuerung unserer Wirtschaft, unserer Gesellschaft, ohne dass soziale Gerechtigkeit preisgegeben wird.“[1] Diesen hohen Erwartungen genügen die vorgelegten Reformvorschläge nicht ganz, denn die Agenda 2010 enthält weder neue Ansätze zur Überwindung der anhaltenden Wirtschaftsschwäche noch Antworten auf die extrem hohe Arbeitslosigkeit – also auf den Problemkomplex, der die eigentliche Ursache der allseits beklagten Engpässe der staatlichen Haushalte und Sozialkassen ist.

In Wirklichkeit beschränkt sich das Reformprojekt auf die Umschichtung knapp werdender Finanzmittel zwischen verschiedenen Töpfen, wobei unter dem Strich wohl starke Einsparungen bei der Arbeitslosenversicherung zugunsten einer Aufstockung der desolaten kommunalen Haushalte herauskommen dürften.
Dementsprechend kleinteilig und unpolitisch verläuft die ganze Reformdebatte. Kaum ist ein Vorschlag in Umlauf, gibt es schon neue Hiobsbotschaften und Gegenkonzepte.
Mühsam hatten beispielsweise Gesundheitsministerin Ulla Schmidt und der Sozialexperte der CSU, Horst Seehofer, Ende Juli ihren Kompromiss zur Gesundheitsreform ausgehandelt, da meldeten die Krankenkassen schon wieder Beitragserhöhungen an. Mit der „Bürgerversicherung“ kam sogar kurzzeitig ein neues Reformkonzept ins Gespräch. Statt engagierter Kontroversen über große soziale Visionen erleben wir kleinliche Verteilungs- und Profilierungskämpfe.
Der Eindruck ist schwer von der Hand zu weisen, dass es in Wirklichkeit weniger um grundsätzliche Weichenstellungen als um kurzfristige Maßnahmen gegen die durch die anhaltende Konjunkturschwäche verschärfte Lage der öffentlichen Haushalte und gesetzlichen Kassen geht. Und ob Gerechtigkeit eine maßgebliche Größe ist, wenn über das Absenken der Bezüge und scharfe Sanktionen ausgerechnet den Arbeitslosen, die ohnehin die Hauptlast wirtschaftlicher Fehlentwicklungen tragen, nun auch die Hauptlast der Reform aufgebürdet wird, ist ebenfalls die Frage. Eher drängt sich der Verdacht auf, dass Härte in diesem Bereich eine Entschlossenheit markieren soll, die sich in den anderen Reformfeldern nicht recht umsetzen lässt.
All das weist auf inhärente Schwierigkeiten der Reformagenda hin, die in der überwiegend technisch geführten Mediendebatte, die sich an den Einzelheiten der Reformvorhaben entzündet, unausgesprochen bleiben. Sie liegen im Wesentlichen im aktuellen sozialen Umfeld der Reformen und in ihren inhaltlichen Prämissen.
Anders als manche Kritiker der Agenda 2010 fürchten, gibt es heute wenig Anzeichen für eine offensiv marktorientierte Reformpolitik – was soziale Härten allerdings nicht ausschließt. Seit Amtsantritt der ersten rot-grünen Regierung vor fünf Jahren sind das Vertrauen in die Selbstheilungskräfte des Markts und das seinerzeit durchaus verbreitete Wohlwollen für marktorientierte Reformen auf allen Ebenen der Gesellschaft stark rückläufig. Der Börsencrash und die anhaltend unsicheren Wirtschaftsaussichten haben die Begeisterung der Bürger für den Sprung in die eigenständige Altersvorsorge enorm gedämpft. Die Erfahrung, dass eine gute Ausbildung und gehobene Position selbst in den modernen Dienstleistungsbranchen keine Garantie gegen Arbeitslosigkeit bieten, hat die Skepsis gegenüber den freien Kräften des Markts ebenfalls auf breiter Front anwachsen lassen. Und selbst in den Führungsetagen der Banken und Unternehmen ist der Wunsch nach weniger Staat und mehr Markt heute nicht gerade vorherrschend. Banken und Versicherungen rufen nach staatlicher Unterstützung für die Bildung von Auffanggesellschaften für notleidende Institute und Engagements. Die Arbeitgeber in der Metallindustrie zeigten sich über die Führungskrise der IG-Metall nicht erfreut, wie man erwartet hätte, sondern bestürzt. Offenbar fühlt man sich hier in der viel gescholtenen Sozialpartnerschaft mit der Gewerkschaft wohler als bislang gedacht. Und auch den Sprung in die Selbständigkeit wagt man heute vorzugsweise als „Ich-AG“ mit entsprechender Unterweisung und Anschubfinanzierung durch die Bundesanstalt für Arbeit.
Kein Wunder also, dass die CSU hartnäckig an der Eigenheimzulage, die Handwerksbetriebe an der verkrusteten Handwerksordnung und die Bundesregierung am überwiegenden Teil der staatlichen Wirtschaftssubventionen festhalten möchten. Die soziale Wirklichkeit sieht anders aus, als die gelegentlich schablonenhafte Debatte über die Reformpolitik vermuten lässt. Von einem grundsätzlichen Interessensgegensatz, wie er noch in die 90er-Jahre hinein zwischen sozialstaatsskeptischem Bürger- und Unternehmertum auf der einen und sozialstaatshöriger Arbeiterschaft auf der anderen Seite sichtbar war, lässt sich kaum noch sprechen. Prägend wirkt stattdessen eine alle Schichten übergreifende Unsicherheit, die den Wunsch nach staatlicher Regulation und Stütze auf breiter Front wachsen lässt.

„Das geschwundene Vertrauen in den Markt gibt der SPD als traditioneller Partei des Sozialstaats neuen Auftrieb, da selbst ihre parteipolitischen Gegner mit einer Befreiung aus dem Korsett staatlicher Regulierung keine großen Erwartungen mehr verbinden.“

Dadurch hat sich die ganze politische Konstellation in der Reformdebatte verschoben. Dass in den letzten Monaten gelegentlich von einer „Re-Sozialdemokratisierung“ der SPD die Rede war, erweist sich in dieser Hinsicht als treffender Hinweis. Allerdings nicht in dem Sinne, dass nun plötzlich ein klassischer Sozialdemokratismus wieder aufleben würde. Das geschwundene Vertrauen in den Markt gibt der SPD als traditioneller Partei des Sozialstaats bloß neuen Auftrieb, da selbst ihre parteipolitischen Gegner mit einer Befreiung aus dem Korsett staatlicher Regulierung keine großen Erwartungen mehr verbinden.
Dabei wäre ein Aufbrechen der Elemente des Sozialstaats, die eher die Versorgungsmentalität relativ gut situierter Schichten bedienen, statt wirkliche Benachteiligung zu lindern, als Teil einer breiter angelegten Politik der Aktivierung der Gesellschaft durchaus nicht unvernünftig. Doch selbst solche minimal innovativen Überlegungen werden in der Reformdebatte kaum zur Sprache gebracht. Insgesamt entsteht der Eindruck, dass die Agenda 2010 eher darauf angelegt ist, die diversen Untergliederungen des Staats gegen die fiskalischen Folgen anhaltender Wirtschaftsschwäche abzuschotten, als irgendwelche beflügelnden Impulse auf festgefahrene soziale und mentale Strukturen auszuüben.
Das wäre als solches ja alles nicht weiter schlimm. Niemand würde der Regierung einen grundsätzlichen Vorwurf daraus machen wollen, dass ihre Vorschläge derzeit hinter den Möglichkeiten zurückbleiben, die theoretisch als Reformansätze denkbar wären. Das hieße wohl, von Regierungen einfach zu viel zu erwarten. Schließlich sind auch sie darauf angewiesen, dass ihnen gelegentlich vernünftige Gegenvorschläge vorgelegt werden, die ihr eigenes blockiertes Denken überwinden helfen.
Doch gibt es ein weiteres Moment in der Gleichung. Und das ist das Bestreben der rot-grünen Koalition, ihre eher begrenzte Reformpolitik mit ausschweifenden sozialtheoretischen Thesen zu untermauern, die den Diskurs über alternative Handlungsoptionen unterbinden.

„Die Agenda 2010 unterstellt einen Stillstand, wenn nicht gar einen Rückgang der wirtschaftlichen und technischen Entwicklung.“

Damit sind wir bei den geistigen Prämissen oder der legitimatorischen Untermauerung der Agenda 2010 angelangt. Die Legitimation der Agenda 2010 lässt sich dahingehend zusammenfassen, dass sich die traditionellen Erwartungen an den Sozialstaat erledigt haben – und zwar nicht, weil wir inzwischen bessere Optionen entdeckt hätten, sondern weil uns die objektiven Tendenzen der globalen und insbesondere der demografischen Entwicklung keine andere Chance lassen.
In ihrem Geleitwort zur Agenda 2010 schreibt die Bundestagsfraktion der SPD: „Entweder wir modernisieren, und zwar als Soziale Marktwirtschaft. Oder wir werden modernisiert, und zwar von den ungebremsten Kräften des Marktes, die das Soziale beiseite drängen.“[2] Hier wird ein Zwang unterstellt, mit dem begründet werden soll, dass für die Zukunft kein anderes Konzept zur Verfügung steht als das Zurückfahren unserer Erwartungen – und zwar nicht nur an den Sozialstaat, sondern an die Menschheitsentwicklung überhaupt.
Diese Vision wird im Rahmen der aktuellen Reformdebatte im Wesentlichen an einem Konzept festgemacht: der Alterung der Gesellschaft. Irgendwann in den nächsten 30 bis 50 Jahren, so die inzwischen geläufige Hypothese, brechen aufgrund der Alterung der Gesellschaft nicht nur das Renten-, sondern auch das Gesundheitssystem zusammen. Die einzige Lösung: wir müssen schon heute unsere Ansprüche zurückfahren, um dieser Entwicklung vorzubeugen. Um die Welt für künftige Generationen lebbar zu halten, müssen wir den Gürtel enger schnallen.
Diese Annahme beruft sich auf ein Bündel ungerechtfertigt düsterer Annahmen hinsichtlich der künftigen Möglichkeiten, mit demografischen Prozessen umzugehen, auf die hier nicht im Einzelnen eingegangen werden kann. Sie unterstellt einen Stillstand, wenn nicht gar einen Rückgang der wirtschaftlichen und technischen Entwicklung. Dass der medizinische Fortschritt und der allgemeine Anstieg des Lebensstandards auch künftig die Gesundheit der Bevölkerung weiter so steigern, wie das in den letzten 80 Jahren der Fall war, wird hier selbst als Möglichkeit nicht mehr in Betracht gezogen. Und das gilt auch für die Produktivitätsentwicklung, die nach dem Zweiten Weltkrieg den bislang schärfsten Anstieg der Altersquote problemlos verkraften half.[3]
Diese negative Vision der Zukunft als einer Zeit ohne weitere Kreativität oder Innovation untergräbt natürlich genau jene Impulse, die gefordert sind, um wirkliche Reformen umzusetzen. Kein Mensch wird – materiell oder emotional – viel in eine Gesellschaft investieren, die davon ausgeht, die Lebenschancen seiner Nachfahren seien dadurch vorgegeben, ob Ulla Schmidt die Gesundheitskosten von derzeit 10,7 auf neun oder acht Prozent des Bruttoinlandsprodukt reduziert oder nicht.

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