01.01.2006

Reform ohne Herz und Verstand

Essay von Alexander Ewald

Alexander Ewald fordert die Abschaffung des gesetzlichen Renteneintrittsalters und die Abkehr von der Vorstellung, unsere Gesellschaft sei „überaltert“.

In den Koalitionsverhandlungen haben die Regierungsparteien festgelegt, das Renteneintrittsalter von 2010 bis 2030 schrittweise von 65 auf 67 Jahre heraufzusetzen. Vor dem Hintergrund der steigenden Lebenserwartung erscheint dieser Schritt logisch, denn die Lebenserwartung von 65-Jährigen wird innerhalb dieses Zeitraumes um mehr als zwei Jahre steigen. Da wir länger gesund und munter bleiben, könnten wir – in den Augen der Reformer – auch ohne unzumutbare Belastung entsprechend länger arbeiten. Besonders attraktiv war diese Entscheidung auch, weil sie verspricht, die Ausgaben der Rentenversicherung zu vermindern und dabei gleichzeitig die Einnahmen zu erhöhen – ein toller Trick.

Die unmittelbaren Auswirkungen für die Betroffenen liegen bei der Heraufsetzung des Renteneintrittsalters dennoch recht klar auf der Hand. Wie bisher werden diejenigen, die vorzeitig in Rente gehen, mit einem empfindlichen Rentenabschlag zu rechnen haben. Dieser wird ab 2030 nach dem dann gesetzlichen Renteneintrittsalter von 67 Jahren berechnet. Ausnahmen sollen nur für Rentner gelten, die mehr als 45 Jahre lang Rentenbeiträge eingezahlt haben.
In der Koalitionsvereinbarung wurde weiterhin festgehalten, dass die Entwicklung des Arbeitsmarktes bei dieser Entscheidung berücksichtigt werden soll. Offenbar soll versucht werden, einen Verdrängungswettbewerb auf dem Arbeitsmarkt zu vermeiden. Ältere Arbeitnehmer sollen eine realistische Chance auf einen Arbeitsplatz haben. Leider entspricht die ökonomische Realität nicht diesem Anspruch.

„Das Kardinalproblem der Rente bleibt ungenannt: Es fehlen schlichtweg die Jobs, um ältere Arbeitnehmer besser zu beschäftigen.“

In Deutschland sind nur etwa 40 Prozent aller Personen im Alter zwischen 55 und 65 Jahren überhaupt erwerbstätig.1 Der Hintergrund für diese Misere sind sicherlich nicht fehlende Willensbekundungen aus der Politik oder das Desinteresse an älteren Arbeitnehmern in den Unternehmen. Deutschlands Misere bei der Erwerbslosigkeit älterer Menschen spiegelt sich in der hohen allgemeinen Zahl der Erwerbslosen. Auch Maßnahmen zur Steigerung der Erwerbsfähigkeit älterer Menschen werden an diesem Problem nichts Grundlegendes ändern. Diese Maßnahmen dienen, wenn überhaupt, eher der gesellschaftlichen Gewissensberuhigung. Schlimmer noch: Sie bewirken die Stigmatisierung älterer Menschen, da sie implizieren, dass die Älteren tatsächlich der gesellschaftlichen Hilfe bedürfen, um am Erwerbsleben teilnehmen zu können. Das Kardinalproblem aber bleibt ungenannt: Es fehlen schlichtweg die Jobs, um ältere Arbeitnehmer besser zu beschäftigen. Zudem ist festzuhalten, dass die heutige Praxis dem Ziel nach mehr Beschäftigung für ältere Menschen diametral entgegenläuft. Durch die Alimentierung von Vorruhestandsregelungen werden ältere Arbeitnehmer regelrecht aus dem Beruf herausgedrängt. Mit dem unterschwelligen Ziel, die Jungendarbeitslosigkeit zu bekämpfen, wird im Ergebnis die Stigmatisierung älterer Arbeitnehmer begünstigt. Unabhängig von individueller Fitness und Leistungsfähigkeit wird ihnen unterstellt, nicht mehr die Leistung abliefern zu können wie ihre jüngeren Kollegen. Um Reklame für Ältere zu machen, wird daher gerne auf die größere Erfahrung der Älteren verwiesen, die damit ihre vermeintlichen Leistungsdefizite wettmachen könnten.

Auch die Festlegung eines einheitlichen Renteneintrittsalters für alle Menschen widerspricht einer vernünftigen Einbindung älter Menschen in das Erwerbsleben. Sie berücksichtigt weder die Leistungsfähigkeit noch das mögliche Interesse Älterer, einer beruflichen Tätigkeit auch in fortgeschrittenem Alter nachgehen zu wollen. Es ist bedauerlich, dass die angestrebte Heraufsetzung des Renteneintrittsalters nicht zu einer gesellschaftlichen Debatte über diese wichtige Frage geführt hat. Immerhin gab es einige weitsichtige Kommentare in diese Richtung. So forderte der stellvertretende CDU-Vorsitzende Jürgen Rüttgers, das gesetzliche Rentenalter ganz abzuschaffen, denn diese Regelung sei „Entmündigung per Gesetz und Geburtstag“. Rüttgers setzt auf freiwillige Vereinbarungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Alt werden sei „nicht automatisch mit Krankheit oder Unfähigkeit verbunden“, betonte er. Eine Reform, die ihren Namen verdient hätte, wäre sicherlich nicht ohne die Auflösung der starren Altersgrenzen ausgekommen. Den individuellen Bedürfnissen und Wünschen der Älteren könnte dadurch Rechnung getragen werden, und die gesetzliche Diskriminierung von Älteren als arbeitsunfähiger Teil der Gesellschaft würde abgeschafft. Demografische Keule Die nun anstehende Rentenreform mit dem Verweis auf demografische Veränderungen zu begründen, ist kein Novum. Bereits seit Beginn der 90er-Jahre gilt der demografische Wandel als Grund für die vollzogenen Reformen der gesetzlichen Rentenversicherung.
Das betonte auch die von der letzten Bundesregierung gebildete Kommission für die Nachhaltigkeit in der Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme (Rürup-Kommission). Ihre Vorschläge bildeten die Blaupause für die jetzt beschlossene Heraufsetzung des Renteneintrittsalters. Im Abschlussbericht der Rürup-Kommission wird dargelegt, dass „die sich ändernden sozioökonomischen Rahmenbedingungen, d.h. insbesondere die zunehmende Alterung der Gesellschaft … zu Funktionsverlusten der gesetzlichen Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung führen“ werden. 2

„Warum konnte Deutschland in den letzten hundert Jahren mit der demografischen Alterung ohne Problem zurechtkommen und jetzt nicht mehr?“

Die im Bericht und anderswo benutzten Zahlen, Daten und Fakten scheinen zunächst für die verbreitete Auffassung zu sprechen, dass der demografische Wandel tatsächlich die Ursache für die Probleme in den sozialen Sicherungssystemen ist. Die Lebenserwartung steigt, wenn auch nur recht langsam. Zudem – das ist für die Alterung der Gesellschaft entscheidend – ist die Geburtenrate niedrig, was dazu führt, dass die jüngeren Generationen (und damit auch die Erwerbstätigen) zahlenmäßig schwächer vertreten sind als die älteren Generationen (die potenziellen Rentner). Die Gesellschaft altert sozusagen „von unten“.

Interessant bei diesen Entwicklungen ist vor allem, dass die Alterung der Gesellschaft kein Phänomen der 90er-Jahre ist. Dies wäre in Anbetracht der öffentlichen Wahrnehmung zu vermuten. Deutschlands demografischer Alterungsprozess hat aber bereits im vorletzten Jahrhundert begonnen. In den Industriestaaten hat sich das Bevölkerungswachstum permanent verlangsamt – nichts anderes ist die demografische Alterung der Gesellschaft – und hat inzwischen offenbar einen sensiblen Punkt überschritten. Die deutsche Bevölkerung wächst nicht mehr, sie schrumpft.
Warum aber konnte Deutschland in den letzten hundert Jahren mit der demografischen Alterung ohne Problem zurechtkommen und jetzt nicht mehr? An einer „grassierenden Armut“ der deutschen Gesellschaft kann es – trotz des weit verbreiteten Jammerns – vermutlich nicht liegen.
Aufschluss bietet die Betrachtung des Verhältnisses zwischen den verschiedenen Altersgruppen. Es ist sinnvoll, nicht nur das gebetsmühlenartig vorgehaltene Verhältnis von über 65-Jährigen zu potenziell Erwerbstätigen (im Alter zwischen 15 und 64 Jahren) zu betrachten. Die gegenwärtige Rentendiskussion hat sich bedauerlicherweise auf die Betrachtung dieses zahlenmäßigen Verhältnisses zwischen Älteren und Erwerbspersonen verkürzt. Dies ist in Anbetracht der Struktur des Rentenversicherungssystems zwar verständlich, führt aber in eine Sackgasse. Hilfreich ist es, die unter 15-Jährigen ebenfalls zu berücksichtigen. Werden die ganz Jungen und Alten gemeinsam den Erwerbstätigen gegenübergestellt, so signalisiert diese Zahlenreihe, dass das bisher ungünstigste Verhältnis zwischen Erwerbspersonen und Abhängigen in Deutschland in den 70er-Jahren erreicht wurde. Damit ist also ein vorläufiger Höhepunkt bei der finanziellen Belastung der Erwerbspersonen erreicht worden. Seitdem ist dieses ungünstige Zahlenverhältnis gesunken und steigt erst bis zum Jahr 2030 auf das Niveau der 70er-Jahre. Der Unterschied zu heute ist lediglich, dass innerhalb der Gruppe der Abhängigen eine zahlenmäßige Verschiebung eingetreten ist. Damals war der Anteil der unter 15-Jährigen deutlich höher als der Anteil der Alten. Daraus lässt sich ablesen, dass die gesellschaftlichen Aufwendungen für die abhängigen Personen nur verlagert wurden. Der finanzielle gesellschaftliche Beitrag, der für die Ernährung und Erziehung der Jugend heute nicht mehr im gleichen Maße wie in den 70er- Jahren erforderlich ist, könnte zur Versorgung der Älteren eingesetzt werden. Dies wäre möglich, ohne dass eine qualitativ höhere gesellschaftliche Belastung entstünde als vor 30 Jahren.

Am beschriebenen Zusammenhang wird deutlich, dass die deutsche Gesellschaft bereits in den 70er-Jahren über die Ressourcen verfügte, um eine hohe Quote der abhängigen Personen gut zu versorgen. Eine Diskussion über die Finanzierung der Sozialversicherungssysteme gab es damals in der uns heute bekannten Form nicht. Eine gewisse Umverteilung der gesellschaftlichen Ressourcen würde aus dieser Sicht die gesamte Problematik deutlich relativieren. Andererseits ist zu vermerken, dass die deutsche Gesellschaft über ungeheure Ressourcen verfügt, um zusätzliche Mittel für die Versorgung Älterer bereitzustellen. Derzeit fließen weniger als fünf Prozent der öffentlichen Ausgaben in die Rentenkassen. Würde beispielsweise der Anteil verdoppelt, stiegen die Mittel der Rentenversicherung von 231 auf 275 Mrd. Euro. Werden solche Überlegungen jedoch nicht einbezogen, so verhindert die „demografische Keule“ jede echte Reformperspektive.

Ein weiterer Unterschied zu den 60er- und 70er-Jahren und heute sei ebenfalls erwähnt. Damals herrschte im Vergleich zu heutigen Maßstäben Vollbeschäftigung. Die Rentenbeiträge sprudelten, und die Renten stiegen. Der eigentliche Schlüssel zur Lösung des Rentenproblems liegt hier.

Solange aber die gesellschaftliche Alterung für das eigentliche Problem der Alterssicherung gehalten wird, bleibt im Sinne der „Nachhaltigkeit“ einer Lösung nichts anderes übrig, als die Abwärtsspirale vorläufig weiterzudrehen. Die durchaus berechtigten Ängste vieler Menschen, dass die Altersversorgung zukünftig deutlich schlechter ausfallen werde als bei der gegenwärtigen Rentnergeneration, ist daher mehr als berechtigt. Unnötig wären diese Ängste jedoch, wenn wir endlich anfingen, uns von der Vorstellung zu lösen, dass die demografischen Veränderungen die Ursachen des Rentenproblems darstellen, und stattdessen Reformen mit Herz und Verstand angingen.

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