01.07.2004

Ratten und Mäuse vor Gericht

Essay von Heinz Brandstetter

Tierschutz sollte im Labor und nicht im Gerichtssaal praktiziert werden.

Der Tierschutz hat in unserer Gesellschaft seit langem einen hohen Stellenwert. Seit zwei Jahren ist er sogar im Grundgesetz verankert. Das deutsche Tierschutzgesetz ist weltweit eines der strengsten seiner Art. Es regelt gemeinsam mit weiteren Verordnungen die tiergerechte Tierhaltung und den schonenden Umgang mit Tieren. Deren Nutzung in der Forschung (etwa 0,5 bis 1 Prozent der insgesamt vom Menschen genutzten Tiere) unterliegt durch spezielle Anzeige- und Genehmigungsverfahren und der anschließenden Überwachung durch die Veterinärbehörden einer besonders strengen Kontrolle. Trotz dieser sehr umfassenden und weitgehenden Reglementierung der Tiernutzung in der Forschung gibt es immer wieder Forderungen nach noch mehr bürokratischen Regelungen.
Im März 2004 wurde von Schleswig-Holstein ein Gesetzesantrag auf Einführung des Verbandsklagerechts für Tierschutzverbände in den Bundesrat eingebracht. Ein solches Verbandsklagerecht würde es Tierschutzorganisationen erlauben, als „Vertreter“ von Versuchstieren gegen behördliche Genehmigungen von Tierversuchen zu klagen. Dies wäre eine Ausnahme im deutschen Verwaltungsprozessrecht, das grundsätzlich auf dem Standpunkt steht, dass nur in ihren Rechten möglicherweise Verletzte klagen können. Eine solche Ausnahme könnte man machen, wenn es gute Gründe dafür gäbe. Diese fehlen jedoch. Die Forderung nach einem Verbandsklagerecht zielt nicht auf eine bessere Einhaltung der Tierschutzbestimmungen, sondern auf eine Behinderung der Forschung, insbesondere in der Medizin. Zu befürchten wäre eine Prozessflut, die die Planung und Durchführung von für uns alle wichtigen tierexperimentellen Studien enorm erschweren und teilweise verhindern würde. Dabei ist keineswegs damit zu rechnen, dass die Gerichte Genehmigungen von Tierversuchen widerrufen würden. Nicht die Urteile, sondern die mit langwierigen Gerichtsverfahren verbundenen Zeitverluste wären dann das Problem.

Verzicht auf Tierversuche ist illusorisch

Ziel medizinischer Forschung ist es, bei Mensch (und Tier) Leiden zu verringern und Leben zu verlängern. Hierbei ist in bestimmten Fällen eine gewisse Belastung der Tiere nicht auszuschließen und muss in Kauf genommen werden. Unabhängige, mit Wissenschaftlern und Tierschützern besetzte Beratungskommissionen (§ 15 TierSchG) prüfen vor Erteilung einer Genehmigung sorgfältig die gegebenenfalls zu erwartende Belastung der Tiere vor dem Hintergrund des Nutzens für Mensch oder Tier. Wir verfügen über wachsende Möglichkeiten, das Belastungsmaß der Tiere zu verringern. Unnötige Experimente werden grundsätzlich nicht genehmigt. Generell geht es bei den Auseinandersetzungen um den Tierschutz in der Forschung um vier Fragenkomplexe:
1. Sind Tierversuche für eine gute Patientenversorgung (auch die künftige), einen zeitgemäßen Umwelt- und Verbraucherschutz sowie für die Grundlagenforschung erforderlich?
2. Für welche Zwecke dürfen Tierversuche durchgeführt werden?
3. Unter welchen Bedingungen dürfen sie durchgeführt werden?
4. Wie kann ein größtmöglicher Schutz der in Versuchen eingesetzten Tiere erreicht werden?

„Ein vollständiger Verzicht auf Tiermodelle ist methodisch nicht möglich, weil Zellkulturen nur begrenzte oder keine Aussagen über den Gesamtorganismus erlauben.“

Die Frage nach der grundsätzlichen Notwendigkeit wird von Politik, Wirtschaft, Forschung und auch von großen Teilen der Gesellschaft eindeutig mit „ja“ beantwortet. Die großen Tierschutzverbände fordern jedoch eine generelle Abschaffung. Die Europäische Koalition zur Beendigung von Tierversuchen, zu der auch der Deutsche Tierschutzbund, die Dachorganisation der 722 deutschen Tierschutzvereine, gehört, beansprucht nach eigener Aussage „sämtliche nicht-gewalttätige Mittel, um ein totales Verbot von Tierversuchen durchzusetzen“. Zu diesen Mitteln wird zweifellos auch das Verbandsklagerecht gezählt. Die Konsequenz eines solchen Totalverbots wäre entweder der Verzicht auf medizinischen Fortschritt oder der Ersatz von Tier- durch Menschenversuche. Wir brauchen uns nur vorstellen, diese alte Forderung wäre irgendwann erfüllt worden, um uns auszumalen, was passieren würde, wenn man ihr heute – über die Hintertür des Verbandsklagerechts – zumindest teilweise nachkommen würde. Im Jahr 1875 sagte Sir George Duckett von der Gesellschaft zur Abschaffung der Vivisektion: „Die medizinische Wissenschaft hat ihren höchsten Stand erreicht und es gibt nichts mehr dazuzulernen. Nichts kann durch Tierversuche erreicht bzw. dazu gewonnen werden“. Ein Stop tierexperimenteller Forschung damals hätte zur Folge gehabt, dass heute weder Menschen noch Haus- oder Nutztiere beispielsweise gegen Tollwut geimpft werden könnten, dass Diphtherie und Kinderlähmung grassierten, Organtransplantation und Antibiotika nicht verfügbar wären usw.
Auch heute dürfte es kaum Menschen geben, die nicht auf weitere Fortschritte in der Medizin hofften, denn rund zwei Drittel aller bestehenden Krankheiten wie Arthrose und Arteriosklerose, Aids und Alzheimer, Krebs und Kolitis, schwere chronische Schmerzen und vieles andere mehr können noch nicht befriedigend behandelt oder geheilt werden. Ein Verzicht auf tierexperimentelle Forschung ist heute genauso illusorisch wie 1875.
Rund ein Drittel aller Versuchstiere werden für Tests eingesetzt, die gesetzlich vorgeschrieben sind. Es ist nicht erkennbar, dass dieses regulatorische Erfordernis nach Tierversuchen in absehbarer Zeit zurückgeht; es ist eher zu erwarten, dass im Rahmen des an Bedeutung nach wie vor zunehmenden Umwelt- und Verbraucherschutzes erheblich mehr Tests durchgeführt werden müssen. Zwar hat die Entwicklung von Alternativmethoden zu einer Reduzierung von Tierversuchen geführt, doch bestehen auch hier klare Grenzen. Tierversuche sind ein wichtiges Element innerhalb der Methodenhierarchie der biomedizinischen Forschung. Ein vollständiger Verzicht auf Tiermodelle ist methodisch nicht möglich, weil Zellkulturen und isolierte perfundierte Organsysteme nur begrenzte oder keine Aussagen über den Gesamtorganismus erlauben.

„Würden Tierversuche abgeschafft, käme es ganz zwangsläufig zum Einsatz noch nicht ausreichend erforschter und geprüfter Substanzen am Menschen und damit de facto zu Menschenversuchen.“

Neben den regulatorischen und methodischen Erfordernissen von Tierversuchen ist für die humanmedizinische Forschung letztlich jedoch die ethische Notwendigkeit das entscheidende Argument für die Nutzung von Tieren in der Forschung. Ein Verzicht auf Tierversuche würde eine unverantwortliche Verlangsamung des medizinischen Fortschritts bedeuten und damit die Heilungschancen kranker Menschen und deren Überlebenszeit deutlich verringern. Dies käme einer unterlassenen Hilfeleistung für Kranke und Schwache in unserer Gesellschaft gleich. Würden Tierversuche abgeschafft, käme es ganz zwangsläufig zum Einsatz noch nicht ausreichend erforschter und geprüfter Substanzen am Menschen und damit de facto zu Menschenversuchen. Dies würde gegen die ethischen Grundsätze der Deklaration des Weltärztekongresses von Helsinki und Tokio verstoßen, die festschreibt, dass vor einer klinischen Prüfung von Medizinprodukten am Menschen alle Vorsichtsmaßnahmen zum Schutze der Gesundheit und der Sicherheit des Patienten zu treffen sind. Dazu gehören auch Tierversuche.
Die Fragenkomplexe zum Zweck von Tierversuchen und zu den Bedingungen, unter denen sie durchgeführt werden dürfen, sind durch das Tierschutzgesetz detailliert geregelt. Eine Vielzahl der Paragraphen im Tierschutzgesetz befasst sich ausschließlich oder überwiegend mit dem Einsatz von Tieren in Forschung und Lehre. Dabei kann festgestellt werden, dass der Tierschutz in Deutschland im europäischen und internationalen Vergleich einen sehr hohen Stellenwert hat. Die genehmigenden Behörden führen nicht nur eine rein formale Plausibilitätskontrolle, sondern eine vollständige inhaltliche Überprüfung der Tierversuchsanträge durch. Hierzu gehört auch die sorgfältige Interessenabwägung zwischen der zu erwartenden Belastung des Tieres und dem zu erwartenden Erkenntnisgewinn bzw. Nutzen für Mensch, Tier und Umwelt. Jeder Tierversuch muss beantragt werden. Im Antrag muss begründet sein, welche wissenschaftliche Relevanz der Versuch hat, warum wie viele Tiere einbezogen werden müssen und warum die jeweilige Tierart gewählt wurde. Der Antrag wird zunächst dem Tierschutzbeauftragten vorgelegt und anschließend in die beratende Kommission (s.o.) gegeben, auf deren Stellungnahme hin dann die Genehmigungsbehörde entscheidet.

Wissenschaftlicher Tierschutz

Selbstverständlich hat auch das Tierschutzgesetz seine Grenzen, da nicht jeder Einzelfall über Vorschriften vorab „festgezurrt“ werden kann. Das ist aber kein Spezifikum des Tierschutzgesetzes, sondern liegt in der Natur der Sache und gilt für alle gesetzlichen Regelungen. Die Forderung nach größtmöglichem Schutz kann deshalb nur mit einem praktischen Tierschutz, der flexibel auf die Situation vor Ort reagiert, beantwortet werden. Basis hierfür ist der wissenschaftliche Tierschutz, der erst die erforderlichen Kenntnisse über das Tier und seine Bedürfnisse schafft. Der Leiter eines tierexperimentellen Forschungsprojekts nutzt das Wissen des ihn beratenden Versuchstierkundlers sowohl hinsichtlich der Verfügbarkeit von Ersatz- und Ergänzungsmethoden als auch in Bezug auf die Wahl des geeigneten Versuchstiers, der Biologie der jeweiligen Tierart, der tierschutz- und artgemäßen Haltung und Versorgung, der optimalen Versuchsplanung, der artspezifischen Schmerzausschaltung und vieles andere mehr. Jeder Forscher hat selbst ein vitales Interesse am Wohlergehen der Versuchstiere. Denn valide (übertragbare) und präzise (reproduzierbare) Ergebnisse aus der tierexperimentellen Forschung können nur mit gesunden Versuchstieren erhalten werden. Um dies zu gewährleisten, müssen die Tiere wesentliche artspezifische Bedürfnisse befriedigen können und in einer entsprechenden Umwelt gehalten werden.

„Tierschutz ist eine Angelegenheit derer, die mit den Tieren arbeiten und umgehen.“

Aus diesem Grund verfolge ich mit großer Skepsis Diskussionen über das Verbandsklagerecht und über neue Haltungsverordnungen. Wenn es um Tierschutz geht, dann sollte auch das Tier im Mittelpunkt stehen. Es ist der falsche Weg, zu glauben, Tierschutz könne allein auf dem Schreibtisch erledigt oder vor Gericht praktiziert werden. Tierschutz ist zuvorderst Angelegenheit derer, die mit den Tieren arbeiten und umgehen. Er ist weiter Angelegenheit der Genehmigungsbehörden und der sie beratenden Ethikkommissionen. Es gibt keinen Grund, anzunehmen, dass Richter besser für die Gewährleistung des Tierschutzes sorgen könnten als Tierärzte und Tierschutzexperten. Ziel der Forderung nach einem Verbandsklagerecht kann daher offenkundig nur sein, ein Blockadeinstrument zu schaffen. Die Tierschutzverbände würden das geplante Gesetz in erster Linie und ganz gezielt zur Verhinderung tierexperimenteller Forschung an den Universitäten, den Großforschungseinrichtungen des Bundes und der Länder sowie in der Industrie einsetzen.
Die Konsequenz wäre eine Verlagerung von Tierversuchen und der damit verbundenen Forschung ins Ausland, ohne dass dies von der Mehrheit der Gesellschaft tatsächlich gewollt ist. Diese Verlagerung hätte aber global betrachtet keinen Einfluss auf die Entwicklung der Tierversuchszahlen und auf die Tierversuche selbst. Es käme lediglich zu einer Verschiebung in Länder, in denen der bürokratische Aufwand geringer ist. Die Tierschutzaktivisten könnten einen Erfolg feiern, die Tiere hätten nichts davon. Ganz im Gegenteil, denn die Regulationen des deutschen Tierschutzgesetzes zählen zu den weltweit strengsten und die deutschen Bedingungen für die Haltung der Versuchstiere im internationalen Vergleich zu den besten. Im Hinblick auf das Argument, Deutschland könne als Vorreiter fungieren und andere Länder würden dem „guten Vorbild“ folgen, ist nur zu hoffen, dass wir eine solche Entwicklung nicht erleben werden. Eine internationale Vorreiterrolle im Tierschutz hat Deutschland in der Tat seit vielen Jahren. Die Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft für andere Länder wird aber nicht dadurch zunehmen, dass man den bürokratischen Aufwand weiter steigert oder gar die Diskussion über die Notwendigkeit einzelner Versuchsvorhaben von den genehmigenden Behörden mit ihren beratenden Kommissionen weg in die Gerichte verlagert. Die beste Vorbildfunktion hat ein „gelebter“ praktischer Tierschutz, der durch Wissen und sachkundigen Umgang mit dem Tier geprägt ist und von geschultem Personal (Tierpfleger, Laboranten, Leiter von Tierhaltungen, Tierschutzbeauftragte) und gut ausgebildeten Forschern getragen wird.

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