01.03.2006

Pseudorecht auf den Tod

Analyse von Kai Rogusch

Kai Rogusch über die inhumane Beschäftigung mit Euthanasie und Sterbehilfe.

Der Hamburger Justizsenator Roger Kusch hat die „Sterbehilfe“ Anfang dieses Jahres zu einem bedeutenden bundespolitischen Thema gemacht. Der CDU-Politiker rief wiederholt zu einer gesetzlichen Legalisierung der aktiven Sterbehilfe unheilbar kranker und schwer leidender Patienten auf. Er argumentierte, in einer freiheitlichen Gesellschaft vertrüge sich das „Recht auf Leben“ nicht mit einer unter Umständen qualvollen und entwürdigenden „Pflicht zum Leben“.
Kuschs Äußerungen riefen massive Gegenreaktionen hervor, weil das Thema Sterbehilfe eine soziale Übereinkunft angreift: Das „Selbstmordtabu“ in unserer Gesellschaft untersagt die moralische und rechtliche Legitimierung des Selbstmordwillens. Dies bekam kürzlich auch die schweizerische Sterbehilfeorganisation Dignitas zu spüren, die unter Ausnutzung der eidgenössischen Rechtslage auch deutschen Bürgern geschäftsmäßig das „Ticket in den Tod“ vermitteln möchte. Als Dignitas in Niedersachsen einen Ableger etablierte, provozierte sie eine Verbotsdebatte bezüglich der „Geschäftemacherei mit dem Tod“.
Trotz dieser Gegenstimmen ist zu konstatieren, dass die Rechtsentwicklung mittlerweile so weit fortgeschritten ist, dass Menschen ein „Recht auf Selbstmord“ zugestanden wird, wodurch logischerweise auch nicht mehr die unbedingte Pflicht besteht, einen Lebensmüden nach seinem Selbstmordversuch zu retten. Das war nicht immer so. Zunächst ging die deutsche Rechtsprechung einhellig von einer möglichst weit reichenden Verhinderungs- und Rettungspflicht aus, weil sie den Willen des Lebensmüden für rechtlich bedeutungslos hielt. Doch bereits seit Ende der 50er-Jahre rückte die Rechtsprechung von dieser Linie teilweise ab. Mehr und mehr machte sie die Pflicht der Abwendung eines Selbstmordes von der so genannten Eigenverantwortlichkeit des Selbstmordentschlusses abhängig. Inzwischen ist die internationale Rechtsentwicklung auf der Ebene der Staaten des Europarates so weit gediehen, dass sie dem Einzelnen ein Verfügungsrecht „auch über seinen Tod“ gewährt.
 

„Die moralische Aufwertung von Freitod und Euthanasie ist das Gegenteil von zivilisatorischem Fortschritt.“



Selbstmord als Moralinstanz
Der Befürwortung der Sterbehilfe liegt in den meisten Fällen der Gedanke zugrunde, dass die Verwirklichung einer „freiverantwortlichen“ Selbstmordabsicht – einer „Freitodabsicht“ – eine durch das Recht gebilligte „Option“ zur freien Entfaltung der Persönlichkeit sei. Doch Freiheit wofür? Das Positive am Selbstmord- und Euthanasietabu ist und bleibt (neben historischen Gründen, auf die hier nicht eingegangen werden soll), dass es die Wichtigkeit des Lebens und Wirkens jedes einzelnen Individuums im konkreten Hier und Jetzt betont. Dahinter stecken keine altbackenen Traditionen, wie uns heute glaubhaft gemacht werden soll, sondern eine grundlegende und über Jahrhunderte gewachsene lebensbejahende und humanistische Übereinkunft der Gesellschaft, die das aktive menschliche Subjekt als ihren Former und Transformator zum Maßstab moralischer und ethischer Wertfindungen nimmt. Der Selbstmordgedanke oder Euthanasiewunsch von Lebensmüden sollte deshalb auch in Zukunft keine künstliche moralische Legitimation erhalten. Dieser Trend steht mit dem aufgeklärten zivilisatorischen Subjektbegriff in direktem Widerspruch.
Umso befremdlicher für eine lebensbejahende Gemeinschaft erscheint es, dass seit einigen Monaten Selbstmordkandidaten vermehrt in die Schweiz reisen, um sich dort von Dignitas-Mitarbeitern einen „Todescocktail“ mixen zu lassen – zum Teil in Begleitung von Verwandten, Bekannten oder gar Journalisten, um diesem allerletzten Lebensakt eine besondere ethische und öffentlich zur Schau gestellte Wertigkeit beizumessen. Aus Sicht der Lebensmüden mag ein solcher Wunsch nachvollziehbar sein, und zweifelsohne sind es ausnahmslos bedauerliche Umstände wie organische oder psychische Krankheiten, die ein vorzeitiges Lebensende herbeisehnen lassen. Doch mit solcherlei Problemfällen, die einzelne Individuen betreffen, hat die Gesellschaft seit jeher möglichst fürsorglich und pietätvoll umzugehen. Und Menschen, die keinen Ausweg aus ihrer persönlichen Krise sehen, haben seit jeher als letzte Option den Freitod wählen können.
Ganz anderes Terrain wird jedoch beschritten, wenn die Forderung erhoben wird, Selbstmord und Euthanasie als dem Lebenswunsch gesetzlich ebenbürtige demokratische Wahloption zu deklarieren. Individuen und Organisationen, die das als emanzipatorischen Schritt bezeichnen, ist deutlich zu widersprechen. Die moralische Aufwertung von Freitod und Euthanasie ist das Gegenteil von zivilisatorischem Fortschritt. Dahinter steckt eine – wenn auch überwiegend unbewusste – Dolchstoßabsicht gegen den aufgeklärten und universalistischen Subjektbegriff, der auf das Leben fokussiert.
Genauso wenig, wie wir aus universalistischem Respekt vor individuellem Leben Mord, Totschlag oder die Todesstrafe als Sühne oder Strafe akzeptieren, und genauso wenig, wie wir den religiös verklärten Aufruf zu Selbstmordattentaten moralisch hinzunehmen bereit sind, sollten wir dazu übergehen, Selbstmord und Euthanasie in unserer Gesellschaft ethisch und rechtlich zu „enttabuisieren“.


Apparatemedizin als Schreckbild
Aus rechtsphilosophischer Sicht liegt dem Selbstmordtabu und Euthanasieverbot die Übereinkunft zugrunde, dass demokratische Rechte in einem modernen Gemeinwesen nur innerhalb des wirklichen sozialen Lebens Sinn machen. Es geht um die Ausweitung von Freiräumen mündiger Bürger und die Möglichkeit zur Erreichung individueller und gesellschaftlicher Ziele. Ein mögliches „Leben nach dem Tod“ spielte hierbei keine Rolle, sondern ist Gegenstand von Glaubensfragen. Das „Recht auf den Tod“ ist dagegen ein Recht auf Nichts, es ist ein Pseudorecht.
Dennoch geht die Sterbehilfeorganisation Deutsche Gesellschaft für Humanes Sterben (DGHS) von einem „Verfügungsrecht des Einzelnen auch über seinen Tod“ aus. Die Organisation bringt damit eine zerstörerische Neuinterpretation demokratischer Rechtsnormen zum Ausdruck. Ihr Blick ist vor allem auf sterbenskranke Patienten in Kliniken gerichtet. Angesichts der Fortschritte einer angeblich ausufernden Apparatemedizin, die Menschen immer länger künstlich am Leben erhalte, wird gefordert, diesem Trend gesetzlichen Einhalt zu gebieten, um die Würde der Patienten besser schützen zu können.
Ohne Frage ist es wichtig, schwer kranken Patienten ein würdevolles Dasein und ein ebensolches Lebensende zu ermöglichen. Nicht zu bestreiten ist zudem, dass dies nicht immer gelingt. Doch den Diskussionen hierüber mangelt es oft an Ausgewogenheit, und es werden Schreckensbilder gezeichnet, die mit der Wirklichkeit in Klinken nicht in Einklang zu bringen sind. Mit dem Hinweis auf die immer komplexere Apparatemedizin werden Ressentiments und Verunsicherung gestärkt, was die für den respektvollen Umgang unerlässlichen Vertrauensverhältnisse zwischen Patienten, Angehörigen und Ärzten unterläuft.
Weit verbreitet ist bereits (vor allem unter Nichtbetroffenen) die Vorstellung, dass es auf Intensivstationen nicht mehr vornehmlich um das Wohl der Kranken, sondern um die Aufrechterhaltung unmenschlicher Zustände geht, an denen sich Ärzte und Firmen der Pharma- wie Medizintechnikbranche eine goldene Nase verdienen, indem sie dem Tod geweihte Patienten künstlich am Leben erhalten. Der lebensfeindliche Charakter der Diskussionen um das vermeintlich ehrenvolle „Recht auf den Tod“ kommt in dieser Misstrauensvermutung deutlich zum Ausdruck. In der Intensivmedizin gibt es häufig schwierige Entscheidungen, die Ärzte im Einvernehmen mit Patienten oder Angehörigen zu treffen haben. Es gibt aber keinen empirischen Grund anzunehmen, dass hier neuerdings Kommerz- oder andere Interessenlagen den Ausschlag geben. Mediziner und Klinikpersonal sind heute angesichts der Verunsicherung, die sich auch im medizinischen Bereich breit macht, vielmehr stärker denn je darum bemüht, Entscheidungen mit den Betroffenen abzuwägen und sie mit Sachverstand zu begründen. Die moderne Medizin und Apparatetechnik steht der Findung vernünftiger und würdevoller Entscheidungen nicht im Wege. Im Gegenteil: Immer bessere Diagnoseverfahren leisten einen wichtigen Beitrag in der Abwägung der Lebenschancen schwer und unheilbar Kranker.
 

„Ärzte sind nicht unfehlbar, ihnen jedoch per se und implizit zu unterstellen, der Würde ihrer Patienten nicht genügend Respekt zu zollen, ist hinterhältig.“



Zersetzung informeller Beziehungen
Die philosophischen Konzepte der so genannten Patientenautonomie, die es aus Sicht der Sterbehilfebefürworter zu stärken gilt, blenden nicht nur diese Wirklichkeitsebene aus und kaprizieren sich auf negative Einzelfälle. Sie laufen auch auf eine grundlegende Entwertung des Selbstmordtabus und der Wertschätzung von Leben hinaus. Die umfangreichen gesetzgeberischen Forderungen, die dabei gestellt werden, zeigen überdies deutlich, dass die wohlklingenden Forderungen nach „Patientenautonomie“ und einem „Recht auf den Tod“ in Wirklichkeit auf das glatte Gegenteil hinauslaufen: nämlich auf die entmündigende Regulierung zwischenmenschlicher Beziehungen im Sterbeprozess eines Menschen.
Ein Beispiel hierfür sind die Diskussionen über die immer populärer gewordenen Patientenverfügungen. Nach den Vorstellungen der DGHS sollen sie zukünftig eine gesetzlich angeordnete Bindewirkung – auch unter Strafandrohung – in Bezug auf ärztliche Entscheidungen über den das Leben beendenden Abbruch einer Behandlung todkranker Patienten erhalten. Würdige und vernünftige Entscheidungen im Einvernehmen mit den nächsten Verwandten werden dadurch verunmöglicht.
Die Protagonisten solcher Ideen gehen offenbar von einer juristischen Standardisierbarkeit des Sterbeprozesses aus. Dahinter steht ein irreales Regulierungsstreben, das zwischenmenschliche Abwägungen und Entscheidungen in individuellen Extrem- und Ausnahmesituationen ausschließt. So wundert es nicht, dass der Wunsch der DGHS nach Durchregulierung des Verhältnisses zwischen Patienten und Ärzten auch in die ausdrückliche Forderung der Legalisierung aktiver Sterbehilfe im Strafgesetzbuch mündet.


Umgang mit Extremsituationen
Lösungen für Extremsituationen im Übergang von Leben und Tod gibt es schon heute – nur wurden sie bislang nicht als soziales Steuerungselement betrachtet. Die Gesellschaft verließ sich stattdessen auf funktionierende informelle Beziehungen zwischen Subjekten – Beziehungen, die an der Sterbehilfediskussion nur Schaden nehmen können. So gibt es als gesellschaftlich legitimierte aktive Sterbehilfe den „tödlichen Gnadenstoß“, wenn eine in einem brennenden Unfallauto eingeklemmte Person ohne Aussicht auf eine Lebensrettung erschossen wird, um ihr Leiden zu verkürzen. Zu Notsituationen, in denen über Leben und Tod zu entscheiden ist, kommt es auch in Kliniken fast täglich. Man sollte jedoch bei der gängigen Praxis bleiben, dass auf informeller Ebene begründete Entscheidungen getroffen werden, die ohne Zweifel manchmal schmerzhaft sind und sich später auch als falsch erweisen können. Ärzte sind nicht unfehlbar, ihnen jedoch per se und implizit zu unterstellen, der Würde ihrer Patienten nicht genügend Respekt zu zollen, ist hinterhältig. Derlei Ansichten leisten Sterbehilfeprotagonisten Vorschub, indem sie fordern, auch „Extremfälle“ in den Kliniken gesetzlich eindeutig zu regeln, um „Grauzonen“ auszumerzen.
Die Befürworter einer „ausdrücklichen Legalisierung der Sterbehilfe und der ausdrücklichen gesetzlich angeordneten Bindewirkung der so genannten Patientenverfügung“ zielen darauf ab, ellenlange Normenbestände in das Strafgesetzbuch aufzunehmen. Hier wird versucht, die staatliche Gesetzgebung in Bereiche auszudehnen, wo sie nichts verloren hat. Wenn überhaupt, hat sich die Justiz mit strittigen „Ausnahmefällen“ zu beschäftigen und sie einer differenzierten gerichtlichen, aber nicht parlamentarisch-gesetzlichen Wertung zu unterziehen.

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