01.03.2009
Wofür brauchen wir Bildung?
Interview mit Philipp Schuller
Welche Rolle sollen Universitäten heute spielen? Geht es um Bildung oder um berufsvorbereitende Ausbildung? Müssen wir angesichts der wachsenden Anforderungen, die die moderne Gesellschaft und der globale Wettbewerb stellen, Kompromisse hinsichtlich des humboldtschen Bildungsideals machen?
Philipp Schuller: Wie Sie mache ich mir Sorgen über eine orientierungslose und zermürbende Bildungsdebatte, doch nicht wegen zu viel, sondern wegen zu wenig Zukunftsrelevanz. Am Ende Ihres Artikels, „Bildung ist mehr als Berufstraining“ (Novo91/92, 11 2007–2 2008), fragen Sie nach dem Sinn und Zweck von Bildung. Wenn die Aufgabe von Bildung die Befähigung zur selbstständigen, erfüllten und anderen Nutzen stiftenden Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ist, dann ist Bildung – als politischer, sozialer Begriff – zunächst einmal gerade das: Berufstraining. Denn zu einer modernen, differenzierten und international arbeitsteiligen Gesellschaft bietet der Beruf den wesentlichen Zugang. Der Tübinger Philosoph Otfried Höffe formuliert das so: „Die für den Menschen unverzichtbare Anerkennung hängt in hohem Maß von der Berufs- und Arbeitswelt ab.“ Höffe sieht in diesem Umstand auch etwas ausgesprochen Demokratisches: „Alle Bürger haben die Chance zu jener Selbstverwirklichung, die große Teile der heutigen Arbeit, insbesondere der Erwerbsarbeit, bieten.“ Vielleicht ist Ihnen dieser Bildungsbegriff zu eng, doch leider kommen unsere Bildungsinstitutionen schon dieser Aufgabe nicht gut genug nach. Nicht, weil sie schlechter geworden wären, sondern weil sie sich nicht mit den stetig steigenden Ansprüchen der Arbeitswelt geändert haben. Wenn in anderen Ländern steigende Bildungsniveaus die wirtschaftliche Dynamik anfeuern, sollten wir Bildung nicht als Schutz- und Rückzugsreservat ausbauen wollen.
Novo: Natürlich verhilft ein gut bezahlter Job zu Selbstverwirklichung. Der Umkehrschluss, dass wir deswegen – und vor allem deswegen – mehr in Bildung investieren sollten, lässt sich hieraus jedoch nicht ableiten. Bildung im Sinne von beruflicher Qualifizierung steht hoch im Kurs, aber wirkliche „Gelehrsamkeit“ erhält in der offiziellen Debatte paradoxerweise kaum noch einen Raum. Anders ausgedrückt: Die Einsicht, dass in der Bildung selber der „Gewinn“ liegt, gilt in unserer vermeintlichen „Bildungsgesellschaft“ als altmodisch oder vernachlässigbar. War es aber nicht gerade diese Einsicht, die unsere Gesellschaft und die wirklich „Großen“ unserer Zeit weitergebracht oder überhaupt erst hervorgebracht hat?
Anton Reiser, der Held des gleichnamigen, 1785 erschienenen Bildungsromans von Karl Philipp Moritz, strebt nach mehr Wissen und Erkenntnis. Auch hier geht es um Selbstverwirklichung: Um die innere Entwicklung eines sich selbst noch unbewussten Jugendlichen zu einer allseits gereiften Persönlichkeit. Natürlich erhofft sich diese Persönlichkeit auch, sich materiell zu verbessern. Aber die Werte, die sich hier widerspiegeln, beziehen sich auf Bildung als reiner Selbstzweck. Sie beruhen auf unvoreingenommener Wissbegierde, ernsthaftem Studium, kritischem Hinterfragen usw. Reiser ist der Held einer Zeit, in der es für ehrgeizige Lehrer und Schüler nicht zur höchsten Priorität gehörte, durch Bildung nationale Wettbewerber zu übertrumpfen. Die angeblich gestiegenen Ansprüche der modernen Arbeitswelt vermögen diesen Selbstwert der Bildung keinesfalls zu schmälern.
Die Zeit, deren Held Anton Reiser ist, zeichnete sich durch eine durchschnittliche Lebenserwartung von unter 40 Jahren, gelegentliche lokale Hungersnöte, miserable hygienische Verhältnisse und schwere körperliche Arbeit für den größten Teil der Bevölkerung aus. Persönliche Freiheiten, wie z.B. Bildung, anzustreben, standen dagegen einer verschwindend kleinen Elite zu. Dass wir heute anders leben und dass dieser materielle Verbesserungsprozess weiter anhält, hat seinen Preis: Jeder Einzelne muss immer anspruchsvollere Beiträge zur Gesellschaft leisten können. Aber schon damals wäre Chaos ausgebrochen, wenn alle sich so verhalten hätten wie Anton Reiser. Eine Gesellschaft hat nur für eine beschränkte Anzahl von Traumtänzern Bedarf. Das ist, glaube ich, der große Pferdefuß an Ihrem Bildungsideal: Es ist zutiefst elitär, undemokratisch und daher politisch irrelevant – was nicht heißt, dass es nicht persönlich relevant sein kann.
Bleiben wir kurz auf der Ebene der persönlichen Motivation: Gibt es zweckfreie Bildung? Reiser hatte ein Ziel, er wollte der Unfreiheit und Enge seines Elternhauses entkommen, er strebte nach Freiheit und Selbsterkenntnis. Wer dasselbe heute will, der sollte sich vor allem Gedanken über sein Berufsleben machen, denn die Bildung hört nicht mit dem Hochschulabschluss auf. Wer aber den Tag in einer langweiligen, schlecht bezahlten Tätigkeit verbringt, der wird sich am Abend auch nicht nach Freiheit und Selbsterkenntnis sehnen, sondern mit einem Bier in der Hand die Glotze anstellen. Denn leider haben die wenigsten die Disziplin von Franz Kafka, der seine Bücher abends nach der Rückkehr aus dem Büro geschrieben hat. Ich möchte aber gerne mit einem möglichen Missverständnis aufräumen: Damit unsere Bildungsinstitutionen mehr Menschen ein erfülltes Erwerbsleben verschaffen, müssen nicht alle Ingenieurwesen studieren und Powerpoint-Präsentationstechniken lernen. Sie müssen vielmehr lernen, Informationen zu rezipieren, zu strukturieren, zu analysieren, zu evaluieren und zu kommunizieren. Das kann man nur in der intensiven, leidenschaftlichen Auseinandersetzung mit einer konkreten Disziplin. Ob es sich dabei um Betriebswirtschaft oder chinesische Literatur handelt, ist weniger wichtig.
Die harten Lebensumstände des 18. Jahrhunderts hatten nichts mit dem aufkommenden Bildungsideal zu tun. Im Gegenteil: Dieses Ideal ist vielmehr Ausdruck einer Gesellschaft, die bestrebt war, die bestehenden Grenzen und Hindernisse ihrer Zeit zu überwinden. Es hat jahrzehntelang größere Teile der Gesellschaft erfasst, als Sie vielleicht glauben. In einem gerade erschienenen Buch über das intellektuelle Leben der englischen Arbeiterklasse zitiert Jonathan Rose den Sohn eines Kuhhirten im frühen 20. Jahrhundert. Dieser beschreibt die Freude des Lesens, das ihm als Kind „den Blick ins Universum aus der Tiefe des Ozeans“ eröffnet habe.
Es geht nicht darum, die Vergangenheit zu verklären. Der alte Bildungsdünkel, basierend auf Standeszugehörigkeit statt Leistung, gehört auf den Schrotthaufen. Diejenigen, die sich immer für die Öffnung der Elfenbeintürme eingesetzt haben, könnten jubilieren – wären wir nicht auf dem besten Weg, genau das zu zerstören, für dessen Zugang so hart gekämpft wurde. Wir verabschieden uns immer weiter von dem Ideal der wissenszentrierten Schul- und Universitätsbildung. Es lohnt zu überlegen, was uns die Bildung noch bietet, wenn sie auf die starren Grenzen des unmittelbar Nützlichen beschränkt wird. Der Wunsch, allen die Möglichkeit zu geben, ihre kritischen und analytischen Fähigkeiten zu entwickeln und so dem engen Horizont ihres Hier und Jetzt zu entwachsen, wird ersetzt durch das bloße Anstreben von Bildungsabschlüssen, die den Zugang zu Erwerbsmöglichkeiten regulieren. Dem Sohn des Kuhhirten würde geraten, seine Zeit nicht mit „irrelevanten Büchern“ zu vergeuden, sich stattdessen auf die „Schlüsselqualifikationen“ zu konzentrieren und zu schauen, welchen „vergleichbaren Abschluss“ (Bachelor in Melktechnik?) er anstreben könne.
Diese Abwertung der Bildung hat übrigens nichts mit materiellen Zwängen zu tun, sondern ist eine Frage der kulturellen Einstellung. Unsere öffentlichen Bildungsausgaben sind in den letzten Jahrzehnten massiv gestiegen: Von 2,9 Prozent des BIP im Jahr 1960 auf 4,6 Prozent im Jahr 2004. Bund und Länder haben sich auf das Ziel geeinigt, sie bis zum Jahr 2015 auf sieben Prozent zu steigern. Doch was wird mit diesem Geld finanziert, wenn z.B. Unis ihre Aufgabe darin sehen, Studenten zu Jobs zu verhelfen, statt ihnen eine gute Bildung zu bieten? Laut einer Zeitungsmeldung steht das Fach „Flirten“ auf dem Lehrplan des Potsdamer Hasso-Plattner-Instituts, damit „künftige IT-Ingenieure lernen, wie man mit Auftreten und Sprechen andere Menschen für sich gewinnen kann“.1 Dies mag ein extremes Beispiel sein, trifft jedoch den Geist einer unehrgeizigen, selbstzentrierten Zeit.
Vielleicht sollte das Hasso-Plattner-Institut lieber ein paar Professorinnen einstellen, dann lernen auch die männlichen Studenten das Flirten von ganz alleine. Diese berufsvorbereitenden Kurse scheinen ein Ausdruck von pädagogischer Hilflosigkeit zu sein. Sie wird sich bei jüngeren Professoren, die sich nicht zu schade sind, Powerpoint aufzulegen, ihr Fachgebiet attraktiv zu machen („zu verkaufen“) und gelegentlich im Internet zu surfen, von selbst erledigen. Es ist ja nicht so, dass die Hochschulen bisher nicht auf den Beruf vorbereitet hätten, sondern dass sie nur auf einen einzigen Beruf vorbereitet haben: den des Wissenschaftlers. Das reicht nicht. Was ein Studium berufsrelevant macht, ist – neben dem Fach und den Inhalten – die Herausforderung zum strukturierten Denken und Kommunizieren, die Verführung zum immer wieder neu Lernen und die Annahme des außeruniversitären Lebens. Doch ich mache mir darüber weniger Sorgen als über die Bildungsquoten: Um ein Wirtschaftswachstum wie in der Vergangenheit möglich zu machen, müssen wir über die nächsten 25 Jahre dafür sorgen, dass alle Schüler zwölf Jahre eine allgemeinbildende Schule besuchen, dass mindestens die Hälfte eines Jahrgangs einen Hochschulabschluss erreicht und dass sich die Zahl der Mid-Career-Studenten vervielfacht. Das ist eine gewaltige Herausforderung, für deren Bewältigung es weder Anzeichen noch Pläne gibt.
Wenn Sie sich bisher schon um die Qualität der Bildung sorgen, werden Sie nun vermutlich die Hände über dem Kopf zusammenschlagen. Dürfen die Bildungsanforderungen sinken, damit die Bildungsquote steigt? Natürlich würde das durchschnittliche Niveau des Abiturs sinken, wenn, wie in vielen Ländern üblich, 90 Prozent eines Jahrgangs diesen Abschluss erreichen. Aber warum sollte das Leistungsniveau der 35 Prozent, die heute Abitur machen, deswegen sinken? Dasselbe gilt für die Hochschule und den oft geschmähten Bologna-Prozess: Wer bisher das Diplom gemacht hat, wird auch in Zukunft bis zum Master gehen, aber wir brauchen die kurzen Abschlüsse, um die Absolventenzahl realistischerweise verdoppeln zu können. Heute ist die Zugangshürde zur Hochschule in Deutschland so hoch wie in keinem anderen Land der OECD, abgesehen von der Tschechischen Republik. Ein deutscher Hochschulabsolvent hat vorher in der Schule einen PISA-Wert von 593 erreicht; im Durchschnitt der OECD reichen 547 Punkte. Da können wir uns etwas niedrigere Anforderungen durchaus leisten und müssen großen Teilen der Bevölkerung ihre Bildung nicht vorenthalten.
Bevor wir unser Augenmerk auf Studentenzahlen und Quoten lenken, sollten wir überlegen, was wir von unseren Bildungsinstitutionen eigentlich möchten und erwarten. Wozu brauchen wir Universitäten? Nicht die Öffnung der Unis an sich ist problematisch, sondern die Umstände, unter denen sich diese Öffnung vollzieht. Wenn wir in einem Studium vor allem ein Mittel zum Zweck sehen, mehr Menschen die Möglichkeit zu geben, einen Abschluss zu erzielen, verändern wir die Ansprüche an Universitäten und damit deren Stellenwert in der Gesellschaft. Aus Orten des Wissens werden reine Ausbildungsstätten. Im Namen der Partizipation wird so immer mehr Studenten eine minderwertige Universitätserfahrung „ermöglicht“. Damit verändert sich auch die Sicht dessen, was ein gutes Studium zu leisten hat. Statt von Studenten zu fordern, sich dem akademischen Druck eines Studiums unterzuordnen, darf ihnen der Weg zum Abschluss nicht zu schwer gemacht werden. Der neue Typus Student wird kurzerhand zum „Kunden“, und Professoren werden angehalten, ihre Fächer „zu verkaufen“. Weil das Interesse am Fach nicht mehr ausreicht, um für ein Studium zu werben, werden neue Marketingstrategien (z.B. Flirtkurse) ersonnen.
Die englische Professorin Alison Wolf führt in ihrem Buch Does education matter? erhellende Zahlen auf, die zeigen, dass die Expansion der Abschlüsse nicht einmal zu mehr Gerechtigkeit in der Bildung führt: Die Hauptnutznießer sind die sogenannten gesellschaftlichen Mittelschichten. Eine Studie aus Großbritannien ermittelte z.B. den Prozentsatz von Kindern unterschiedlicher Herkunft, die ein Studium antreten. Entscheidend bei der Aufteilung in Schichten war der Beruf der Väter. Die Studie ergab, dass 79 Prozent der Kinder aus Familien, bei denen die Väter einer höheren Tätigkeit nachgehen (also Fach- und Führungskräfte sind), studiert. Bei Kindern von Vätern, die selber als ungelernte bzw. angelernte Arbeitskräfte gelten, waren es dagegen nach wie vor nur 12 bzw. 17 Prozent. Laut Wolf lässt sich dieses Bild auch auf Deutschland übertragen.2 Der Trend geht dahin, dass künftig so gut wie alle Mittelklassekinder ein Studium anstreben werden und folglich immer mehr Berufe für Studienabgänger reserviert sein werden – auch solche, für die früher kein Studium erforderlich war (dazu gehören auch Managementpositionen).
Haben wir uns jetzt einander angenähert? Sie wollen mehr anspruchsvolle Bildung, ich will mehr Absolventen; sie wollen mehr Tiefe, ich will mehr Breite. Warum wählen? Deutschland sollte sich beides wert sein, für die einen mehr Tiefe, für die anderen mehr Breite. Wenn wir erst überlegen, was wir von unseren Bildungsinstitutionen eigentlich möchten und erwarten, wie Sie vorschlagen, werden wir nie zu mehr Bildung kommen. Denn dass es über diese Frage Einigkeit geben wird, glaube ich genauso wenig wie Alison Wolfs Behauptung, dass Bildungsexpansion zu mehr Ungerechtigkeit führt.
Natürlich dient Bildung auch der Vorbereitung auf das Berufsleben. Es wäre absurd zu behaupten, wir könnten in einer modernen Volkswirtschaft auskommen, ohne unseren Kindern Lesen oder Rechnen beizubringen. Bildung ist aber mehr als das Erlernen spezieller Fähigkeiten. Bildung hat auch das Ziel, unabhängige Denker hervorzubringen, die sich mit dem intellektuellen Leben und den Belangen unserer Gesellschaft auseinandersetzen. Voraussetzung hierfür ist der Wille, sich ernsthaft mit dem Besten, was je gedacht und geschrieben wurde, zu beschäftigen. Können wir durch Bildung eine gerechtere Gesellschaft schaffen? Jedenfalls nicht, indem wir die Ansprüche an Bildung immer weiter verwässern.