01.01.2009

Europa ohne Politik

Kommentar von Sabine Reul

Über die Genese oligarchischer Herrschaftsformen in der Europäischen Union.

Seit die Finanzkrise die Welt in Atem hält, genießen die Institutionen der Europäischen Union auf einmal einen gewissen Vertrauenszuwachs. Der Grund: Das koordinierte Vorgehen der europäischen Regierungen – auch auf internationaler Ebene – scheint immerhin ein Abgleiten in Protektionismus und somit schlimmere politische Verwerfungen infolge der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise zu verhüten. Wie belastbar die Kooperationsbereitschaft der europäischen Regierungen bleiben wird, ist allerdings die Frage. Sollte die globale Rezession sich als schwerer und dauerhafter erweisen als zurzeit absehbar, werden andere Maßnahmen erforderlich sein als die aktuellen Milliardenpakete. Und ob Europa – national wie supranational – dieser Herausforderung gewachsen sein wird, wird davon abhängen, ob es aus den politischen Fehlentwicklungen der letzten Jahrzehnte des europäischen Einigungsprozesses endlich etwas lernt.

Wie das Scheitern des EU-Verfassungsvertrags am Nein der Iren im vergangenen Sommer erneut gezeigt hat, ist das Problem Europas die mangelnde Legitimation und Autorität seiner politischen Führungen. Dieses Problem hat sehr viel damit zu tun, dass das ganze Konzept der Europapolitik von Anfang an auf der falschen Erwartung fußte, dass die Delegation politischer Autorität an supranationale oder sonstige volksferne Institutionen unproblematisch, wenn nicht gar ausgesprochen fortschrittlich sei. Dieser Trend führte in den letzten Jahrzehnten, befördert durch die postpolitischen Moden der 80er- und 90er-Jahre, zur Transformation der Politik in Richtung eines neuen Typus bürokratischer Exekutivherrschaft sowie zur nachhaltigen Schwächung der – nach wie vor nationalen – demokratischen Elemente des politischen Systems, d.h. der Parteien und der demokratischen Öffentlichkeit.

Zwar beinhaltete schon die Gründungsphase der Europäischen Gemeinschaft die Delegation nationaler Souveränität an die neuen übergeordneten Institutionen, aber sie war zum einen vergleichsweise begrenzt und zum anderen politisch auf dem Hintergrund der vorausgegangenen Verwüstung Europas nachvollziehbar. Westdeutschland strebte nach internationaler Anerkennung und Stabilität; Frankreich wollte den unvermeidlichen wirtschaftlichen Wiederaufstieg Deutschlands so einhegen, dass seine eigene Wirtschaft geschützt und seine Wiedergeburt als europäische Macht befördert würde. Das war der Kompromiss, aus dem mit den Römischen Verträgen 1958 die EWG hervorging.

Mit Ausnahme Großbritanniens, der Schweiz und der iberischen Halbinsel wurde ganz Europa im Zweiten Weltkrieg durch Nazideutschland entweder annektiert oder okkupiert; de facto waren seine Nationalstaaten 1945 daher verschwunden. Europa war in den 50er-Jahren des letzten Jahrhunderts folglich die Bühne, auf der die Staaten Westeuropas ihre Souveränität und Stabilität wiedererlangten. Der mit der Schaffung supranationaler Institutionen verbundene „Rückzug aus Souveränität“ war damals also ein durchaus widersprüchlicher. Er gestattete paradoxerweise die Wiederherstellung nationaler Souveränität und innenpolitischer Autorität auf dem Wege internationaler Kooperation, schwächte aber gleichzeitig die moralische und institutionelle Bindung der nationalen Führungen an ihre jeweiligen Bevölkerungen. Insofern war die Gründung der EU eine „Politik des geringsten Widerstands“: Die europäische Integration bot Europas angeschlagenen Staatsführungen in der unmittelbaren Nachkriegsära Stabilisierung ohne eine potenziell destabilisierende Auseinandersetzung mit den gravierenden politischen und ideologischen Verwerfungen, die Europa in den vorausgegangen Jahrzehnten erschüttert hatten.

Trotzdem war die Europäische Gemeinschaft damals bei Weitem nicht so volks- und demokratiefern, wie sie sich heute darstellt. Parteien und politische Öffentlichkeit waren im Rahmen der Nationalstaaten in den 50er- und 60er-Jahren durchaus lebendig. Das Streben nach demokratischem Fortschritt und internationaler Verständigung fand nach dem Grauen der Kriegsjahre nicht nur im sozialdemokratischen, sondern auch im christlich-sozialen Lager starken Widerhall. Und das alles färbte damals auch auf das Europaprojekt ab. Selbst wenn es primär um den pragmatischen wirtschaftlichen und politischen Interessenausgleich zwischen Europas Eliten ging, atmete die Idee der europäischen Gemeinschaft damals auch den Geist eines authentischen Humanismus, der der Politik heute hingegen vollständig abhanden gekommen ist.

Was also ist seither geschehen? Die Entwicklung Europas in eine oligarchisch geprägte Bürokratie vollzog sich in mehreren Etappen. Die Rezession zu Beginn der 70er-Jahre, die die Phase unbegrenzten Wachstums der Nachkriegszeit beendete, löste unter Europas Politikern erstmals ausgeprägte Unsicherheit bezüglich der künftigen wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Stabilität aus. Die engere Koordinierung der Wirtschafts- und Währungspolitik wurde zu einem zentralen Anliegen der westeuropäischen Staaten. In der Folge kam es zur Bildung der Europäischen Währungsunion, der Einführung des Binnenmarkts und schließlich der gemeinsamen europäischen Währung. Gleichzeitig beschleunigte sich der Trend zur auch politisch engeren Integration vor allem unter dem Eindruck des gescheiterten Versuchs der französischen Regierung unter Francois Mitterand, 1981 durch ein nationales Wachstumsprogramm wirtschafts- und innenpolitische Erfolge zu erzielen. Das Ergebnis war die Einheitliche Europäische Akte von 1986. Mit ihr wurde auch das „qualifizierte Mehrheitsvotum“ als Entscheidungsverfahren erweitert, womit der europäische Prozess seine Vormacht gegenüber den unmittelbaren Rechten der an ihm beteiligten Staaten deutlich erweiterte.

Mit der deutschen Wiedervereinigung 1990 kam es primär auf Betreiben Frankreichs erneut zu einem enormen politischen Integrationsschub, als der EU auch Kompetenzen in der Immigrations-, Umwelt-, Verbraucher-, Sozial-, Gesundheits- und Sicherheitspolitik zugewiesen und die Entwicklung einer gemeinsamen Außenpolitik angestrebt wurde, was man dann im Maastrichter Vertrag von 1992 festschrieb. Damit wollte Frankreich, das gerade schweren Herzens der deutschen Vereinigung zugestimmt hatte, Deutschland wenigstens noch enger in Europa einbinden. Darauf folgte die rasche Aufnahme der osteuropäischen Staaten auf Grundlage der Kopenhagener Kriterien von 1993 – ein maßgeblicher Meilenstein auf dem Weg zur Ausweitung der Machtbefugnisse des EU-Apparats: Den neuen Nachbarn im Osten wurde nun die Übernahme des gesamten Acquis Communitaire (insbesondere auch der mit neuer Geltung versehenen Normen zu Menschenrechts- und Minderheitenschutz) und der Aufbau entsprechender Justiz- und Verwaltungsinstitutionen und somit effektiv in entscheidenden Politikbereichen die Aufgabe ihrer (kaum erst wieder erlangten) Souveränität abverlangt. Dies sowie die zeitgleich vor allem im Kontext der Balkankriege erprobten Konzepte postsouveräner Fremdherrschaft waren wohl die maßgeblichen Meilensteine für die gewaltige Expansion der externen Regulation von Gesellschaften und Subversion demokratischer Normen in der Politik, auf die seither die weitere Zunahme der rechtlichen und administrativen Kompetenzen der EU aufbaut.

Aufgrund der schon lange vor dem Zusammenbruch des Ostblocks etablierten Mechanismen des Transfers substanzieller Bereiche politischer Willensbildung und Entscheidung an supranationale administrative Hoheiten kam es ab Beginn der 90er-Jahre zu einer mehr oder weniger selbstverständlichen und nun stark beschleunigten Institutionalisierung oligarchischer Herrschaftsformen. Dafür maßgeblich war jedoch nicht die Öffnung Osteuropas per se. Sie lieferte nur ein neues Terrain, auf dem der beschleunigte Übergang zu einer Art postdemokratischer Administration sich vollziehen konnte. Dass gerade dieser Weg eingeschlagen wurde, war bedingt durch die ausgeprägte Sinn- und Orientierungskrise der westlichen Eliten nach dem Ende des Kalten Krieges und ihre Hinwendung zu den neuen Ideologien postmoderner Politik, die aus den Kreisen der ehemals linken Intelligenz sowie der Umweltbewegung an sie herangetragen wurden.

Der „Rückzug aus Souveränität“ gewann unter diesem Einfluss eine ganz neue Qualität. Bis dahin ging es eher um die Annehmlichkeiten, die Europa als supranationale Verhandlungsplattform Politikern bot, die sich in ihrer jeweiligen Innenpolitik zu zunehmend schwer vermittelbaren wirtschafts- und sozialpolitischen Maßnahmen genötigt sahen. Mit dem Aufstieg der postmodernen Konzepte einer Politik jenseits des Nationalstaats und Parteienstreits erfuhr die Ablösung klassischer Konzepte der Souveränität nun plötzlich eine dramatische intellektuelle wie moralische Aufwertung. Nicht umsonst bezeichneten sich die Grünen in Deutschland Anfang der 80er-Jahre als „Antiparteien-Partei“. Damit sollte gesagt sein, dass sie sich jenseits konventioneller Verteilungskämpfe zwischen Links und Rechts für echte Menschheitsanliegen wie Umwelt- und Friedensschutz stark machen wollten. Schon hier erfolgte eine explizite Abwertung des politischen Ideen- und Interessensstreits gegenüber als „unwiderlegbar“ und folglich überparteilich wahrgenommenen ökologischen oder sonstigen Notwendigkeiten. Gerade die Umweltpolitik trug stark zur Legitimation der Vorstellung bei, es gebe unverhandelbare Primäranliegen, die dem Ideen- und Parteienstreit entzogen seien, da der Umweltschutz als grenzüberschreitende Menschheitsaufgabe quasi naturnotwendig Vorrang vor allen anderen Anliegen – ob nationalen oder solchen sozialer Gruppen – beanspruchen zu können meint.

Dabei kam es ab Mitte der 90er-Jahre zunehmend zu einer bemerkenswerten Konvergenz zwischen den ehemals rechten und linken politischen Lagern. Man war sich – wenn auch nicht unbedingt bewusst – darin einig, dass bestimmten Konzepten Unfehlbarkeit oder Alternativlosigkeit innewohnt. Während die einen angesichts stagnierenden Wirtschaftswachstums die Alternativlosigkeit einer Politik der Austerität und Sozialkürzungen propagierten, proklamierten die anderen – oft unter Zuhilfenahme alarmistischer Katastrophenszenarien – die Alternativlosigkeit ökologisch begründeten Wachstums- und Konsumverzichts. Beiden Seiten gemeinsam war nicht nur fortschrittsfeindliche Skepsis gegenüber dem, was man dann auch gerne „Machbarkeitswahn“ nannte, sondern auch die deterministische Vorliebe für Problemszenarien, auf die es angeblich immer nur eine „alternativlose“ Antwort geben kann, womit sich der intellektuelle und politische Streit um die bessere Lösung dann in der Tat erübrigt.

Der Aufstieg dieses Typus antipolitischer Regierungskonzepte erfolgte in den 90er-Jahren auf breiter Front – und keineswegs nur auf supranationaler Ebene. Auch Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder sah sich als „Moderator“, der die diversen Standpunkte verschiedener Interessengruppen vermittelte, statt als Repräsentant eines definierten politischen Kurses – was sich bei seiner Nachfolgerin Merkel unverändert fortsetzt. Dieses Politikkonzept impliziert unweigerlich die Abwertung der Prozesse politischer Ideen- und Willensbildung gegenüber dem angeblich alternativlosen Primat administrativen Handelns – das seinerseits unweigerlich jeder intellektuellen wie politischen Rechenschaftspflicht entzogen ist. Dies führt zwangsläufig zur Zerstörung jedes inneren Zusammenhangs zwischen dem Prozess des politischen Denkens und Urteilens auf Ebene der Parteien und Öffentlichkeit und dem Handeln politischer Amtsträger, das unentwegt angeblichen Determinationszusammenhängen nacheilt. Die Distanz zwischen diesen beiden Sphären hat sich inzwischen so ausgeweitet, dass die Berliner Regierung das größte Krisenprogramm der vergangenen 60 Jahre nicht nur verabschiedet hat, sondern schon umsetzt, während die Parteien – ob Union oder SPD – noch über Lächerlichkeiten wie die Erbschaftssteuer streiten.

Verstärkt wurde der Trend zur apolitischen Exekutivherrschaft durch die alle anderen intellektuellen Ansätze seit Ende der 80er-Jahre beiseitedrängenden Globalisierungsthese, der zufolge die Anpassung an neue weltwirtschaftliche Abhängigkeiten als alternativlose Zwangsveranstaltung zu gelten hat. Sie ist gewissermaßen der Kulminationspunkt der beschriebenen antipolitischen Trends, denn das Konzept der Globalisierung trifft primär nicht wirklich eine Aussage über den Grad der Internationalisierung der globalen Wirtschaft (die unbestreitbar in den vergangenen 30 Jahren starke und als positiv zu bewertende Fortschritte genommen hat), sondern über Politik. Die zentrale Annahme der Globalisierungstheorie ist nicht, dass die Märkte heute international verflochtener sind. Sie lautet vielmehr, dass der Nationalstaat ihnen gegenüber impotent und daher politisch nicht gestaltungsfähig sei, sondern allenfalls noch als Krisenmanager tauge. Die Annahmen der Globalisierungstheoretiker haben dem Trend zur Leugnung der Relevanz politischen Handelns einen weiteren gewaltigen Schub verliehen.

Umso bemerkenswerter ist in diesem Zusammenhang, dass die Leute, die seit mehr als 20 Jahren die Ohnmacht nationalstaatlicher Politik gegenüber den Zwängen der globalisierten „Weltrisikogesellschaft“ propagiert haben, mehr oder weniger die gleichen sind, die angesichts der aktuellen Krise die Exzesse des sogenannten Neoliberalismus beklagen. Mit anderen Worten: Erst hat man die Relevanz des politischen Handelns souveräner Regierungen negiert, und nun sähe man den Staat am liebsten in der Rolle des allmächtigen Bändigers wirtschaftlicher Prozesse. Dabei legt man wohl keine Rechenschaft darüber ab, dass das Propagieren staatlicher Ohnmacht möglicherweise genau die Kultur der Antipolitik befördert hat, die nun auch im Bereich der Wirtschaft einen Verfall vernünftigen und berechenbaren Handelns nach sich gezogen hat.

Im Endeffekt hat das Ineinandergreifen politischer Prädispositionen und Gewohnheiten aufseiten der politischen Apparate Europas mit den ideologischen Konstrukten der Globalisierungstheorie verhindert, dass nach 1989 in Europa tragfähige neue Ideen für die politische Erneuerung des Kontinents nach dem Ende des Kalten Krieges entstehen konnten. Dieses Versäumnis gilt es nun nachzuholen, um die positiven Chancen für Veränderungen zu nutzen, die die aktuelle Krise eröffnet.

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