01.11.2008
Das „Bosnien-Modell“ ist für Georgien ungeeignet
Analyse von David Chandler
Die Umwandlung von Kaukasusgebieten in internationale Protektorate ist der Demokratisierung keineswegs förderlich.
Angesichts der Anerkennung der abtrünnigen georgischen Republiken Südossetien und Abchasien durch Russland wurde viel über die Probleme ethnischer Teilungen und die potenzielle Schaffung neuer Staaten im Kaukasus diskutiert. So forderte etwa Lionel Beehner auf der britischen Webseite des Guardian, Georgien solle dem „bosnischen Modell“ folgen, demzufolge Russland als Friedenswächter durch internationalisierte Kräfte abgelöst würde. Wie viele andere Befürworter der Internationalisierung der Region hält auch er es aber für unrealistisch, dass Russland derartiges zulassen würde.1
Eine ähnliche Perspektive vertritt Alexander Cooley von der New Yorker Politikberatung EurasiaNet, demzufolge das Bosnien- und Kosovo-Modell internationalisierter Souveränität auf Südossetien und Abchasien anzuwenden sei. Er meint, der zwischen Georgien und Russland bestehende territoriale Disput werde die Region weiterhin destabilisieren, wenn die beiden abtrünnigen Republiken international isoliert und von Russland abhängig blieben.2 Zudem befürchtet er, dass eine von Russland und dem Westen vereinbarte Teilung Georgiens sowie die Zusage von Nato-Schutzgarantien im Austausch für die internationale Anerkennung Südossetiens und Abchasiens einen Präzedenzfall schaffen würde, der noch destabilisierender wirke als im Kosovo, da dies letztlich die territoriale Integrität anderer früherer Sowjetrepubliken infrage stelle. Auch Cooley spricht sich dafür aus, beide Republiken unter internationale Verwaltung zu stellen, um die Souveränität sicherzustellen. Er schreibt: „Durch die Zusammenarbeit von zivilen UN-Beratern mit den Behörden vor Ort und ihren jeweiligen Ministerien könnten die Kapazitäten und die Verfahren der Verwaltung auf internationale demokratische Standards gehoben werden. Eine internationale Institution könnte die geordnete Rückkehr intern entwurzelter Personen in die betroffenen Gebiete überwachen und die Eigentumsforderungen und -rückerstattungen koordinieren. Die Verhandlungen über den endgültigen Status würden so lange zurückgestellt, bis die internationalen Kontrolleure davon überzeugt wären, dass die Regierung mit den internationalen Standards übereinstimmt.“
Dieser Argumentation zufolge ist die Garantie einer internationalisierten „bedingten“ oder „überwachten“ Souveränität für Südossetien und Abchasien eine Lösung für die Probleme der krisengeschüttelten Kaukasusregion. Die erfolgreiche Umsetzung werde jedoch dadurch gefährdet, dass Russland seine territoriale Kontrolle in der Region ausbauen wolle. Der vorherrschenden „Neuer Kalter Krieg“-Perspektive folgend muss bei der in den Gesprächen der EU mit dem russischen Präsidenten Dmitri Medwedew erreichten Einigung – derzufolge eine internationale Konferenz über die Zukunft Südossetiens und Abchasiens entscheiden soll – Augenwischerei im Spiel sein. Entsprechend wird es auch als List zu Vermeidung einer Störung der olympischen Winterspiele 2014 aufgefasst, dass Russland die Ansprüche des südossetischen Führers Eduard Kokoity so schnell hat fallen lassen, denen zufolge die Republik der Russischen Föderation hätte beitreten sollen, um sich mit den Landsleuten jenseits der Grenze in Nordossetien zu verbinden.3
Die Internationalisierung von Südossetien und Abchasien ist tatsächlich eine reale Möglichkeit. Wie ich bereits an anderer Stelle dargelegt habe, dient Russlands Anerkennung der Republiken aber nicht dazu, die Kontrolle über diese Gebiete zu verstärken, sondern dazu, den Kreml vom Vorwurf des Annektionismus freizusprechen.4 Der Akt der Anerkennung sollte Moskau offenbar von den Konsequenzen militärischer Interventionen sowie der Annahme abbringen, anderen Territorien, in denen ethnische Russen separatistische Forderungen stellen, drohe die militärische Annektion. Durch die Internationalisierung des Souveränitätsstatus von Südossetien und Abchasien würde Russland die Verantwortung den internationalen Institutionen übertragen und könnte so den Schwarzen Peter für die Teilung Ossetiens in Nord- und Südossetien und für die Untergrabung der territorialen Ansprüche Georgiens weitergeben, behielte aber natürlich dennoch einen entscheidenden Einfluss in der Region. Daher wird sich das „Bosnien-Modell“ im Kaukasus vielleicht durchsetzen, die EU und die internationalen Institutionen würden dann in die Pattsituation zwischen Georgien und Russland hineingezogen.
Der Krieg um Georgien war der erste Krieg Russlands im „westlichen Stil“, denn hier ging es nicht einfach um formale territoriale Kontrolle der Republiken. Vielmehr hat Russlands Machtdemonstration gegenüber den georgischen Streitkräften zu einer formalen Erweiterung der territorialen Kontrolle in der Region geführt, von der Russland dann zurücktreten wollte. Der Mechanismus des Rücktritts von der formalen Verantwortung lag präzise in der Anerkennung der „Unabhängigkeit“ der Republiken. Dies erinnert an die Ausweitung der US-Kontrolle durch US- und Nato-Militärkräfte im Balkan, die letztlich zur Anerkennung der Unabhängigkeit Bosniens und des Kosovo führte – sowie zu ad hoc geschaffenen Protektoraten und der Weitergabe des Schwarzen Peters an internationale und regionale Institutionen wie EU, UN und OSZE. Sollte das „Bosnien-Modell“ in irgendeiner Form auf Südossetien und Abchasien Anwendung finden, wird sich für die Menschen dort wahrscheinlich nicht viel ändern. Denn die externen Finanzierungen, das Engagement internationaler Finanzinstitute, die zahllosen Institute für Capacity-Building und Konfliktlösung haben in Bosnien oder im Kosovo kaum etwas zur Wiederbelebung der Volkswirtschaften oder zur Überwindung der ethnischen Konflikte beigetragen. Das Einzige, was die Internationalisierung der Balkanstaaten gebracht hat, ist die Verlagerung der politischen Verantwortung weg von den westlichen Kräften, deren Intervention mit der Ziehung neuer Grenzen zur Destabilisierung der Region beigetragen hat. Die Garantie der „Unabhängigkeit“ ohne souveräne Autonomie ermöglicht es, dass die politische Verantwortung bei den Institutionen desjenigen Staates liegt, der Gegenstand der Intervention wurde, während dessen politische Vertreter zur Befolgung externer Richtlinien gezwungen werden.
Der südossetische Führer Eduard Kokoity hat die in dieser „Unabhängigkeit“ liegende Unterwerfung genau verstanden. Das zeigte sich bereits, als er nach seiner Aussage, seine Republik wolle nicht die Unabhängigkeit, sondern die Einheit mit Nordossetien in der Russischen Föderation, gezwungen wurde, von seinen Forderungen zurückzutreten und zu verlautbaren, er sei in all diesen Punkten „vielleicht falsch verstanden“ worden.5 Die Bevölkerung Südossetiens und Abchasiens wird sogar noch weniger politische Unabhängigkeit haben, wenn die russische Regierung der EU und anderen Körperschaften erlaubt, ihre Souveränität zu überwachen und zu unterwerfen. Dann würde nicht Moskau die Fäden eines Marionettentheaters ziehen, sondern der für „Durchsetzung der Demokratie, der Menschenrechte und des Rechts“ zuständige EU- oder UN-Verwalter, der darüber hinaus Kokoity dafür verurteilen würde, dass er die internationalen rechtlichen und konstitutionellen Normen herausgefordert habe.
In Bosnien und Kosovo werden gewählte Politiker, die die populäre Bestrebung nach Verschiebung der Grenzen aussprechen, des Amtes enthoben und aus dem politischen Leben gedrängt. Das „bosnische Modell“ nimmt den Menschen im Kaukasus das Mitspracherecht und ermöglicht es externen Kräften, die Mechanismen ihrer Dominanz zu vernebeln. Wenn die USA, die EU und Russland vereinbaren, die Souveränität im Kaukasus zu „internationalisieren“, wäre das eine viel größere Bedrohung für die Prinzipien der Demokratie und Selbstbestimmung in der Region als alle Szenarien eines russischen Expansionismus.