01.11.2008

Zwergenaufstand im Supermarkt?

Analyse von Christina Rempe

Über die große Angst vor kleinen Teilchen.

Die Nanotechnologie – schon jetzt gefeiert als Schlüsseltechnologie des 21. Jahrhunderts – mag als Segen oder Fluch der modernen Industriegesellschaft gesehen werden. Sie steht für eine breite Palette von Techniken, die sich mit Strukturen und Prozessen auf der Nanometerskala befassen. In diesem Übergangsbereich zwischen mesoskopischer und atomarer Ebene verlieren die Gesetze der klassischen Physik und Thermodynamik ihre Bedeutung. Quantenmechanische Effekte treten auf, deren gezielter Einsatz innovative Materialeigenschaften verspricht. Vielfältige Nutzungsmöglichkeiten sind denkbar, und auch die Lebensmittelindustrie verfolgt das Thema mit wachsamen Augen. Ein Grund zur Beunruhigung?

Die ersten Aktivitäten aus dem NGO-Bereich lassen Schlimmstes befürchten. Wird die Anfang dieses Jahres vom Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND) veröffentlichte Studie „Aus dem Labor auf den Teller“ zugrunde gelegt, stehen wir bereits einer Invasion von Nanolebensmitteln gegenüber, deren Risiken für Mensch und Umwelt vollkommen neu und kaum abzusehen sind. Weltweit sind nach Schätzungen des BUND zwischen 150 und 600 Nanolebensmittel im Handel. Dies sei nur die Spitze des Eisbergs, schließlich versuchten die Hersteller, den Einsatz nanotechnologischer Verfahren zu vertuschen, so das Resümee der Umweltschützer. Genau dieses Fazit erschließt sich aber gerade nicht, handelt es sich doch bei der Studie um eine reine Literaturarbeit. Nanolebensmittel wurden allein anhand ihrer Kennzeichnung identifiziert. Unbeantwortet bleibt, ob dort, wo „Nano“ draufsteht, tatsächlich „Nano“ drin ist. Ein Blick auf die Liste der entlarvten Produkte lässt an Etikettenschwindel denken.

Eins der vermeintlichen Nanolebensmittel disqualifiziert sich durch den Hinweis auf seine Partikelgröße von 400 Nanometern bereits selbst. Dies erinnert an den Fall „Neosino“ aus dem Jahre 2006: Das Nahrungsergänzungsmittel sollte nach Herstellerangaben nanopartikuläres Siliciumdioxid enthalten. Analysen eines Max-Planck-Institutes vermochten dies jedoch nicht bestätigen. Gegen die entsprechende Berichterstattung des NDR erwirkte der Hersteller zunächst eine einstweilige Verfügung, die später wieder aufgehoben wurde. Ob „Neosino“ tatsächlich Nanopartikel enthält, lässt sich nicht abschließend beurteilen. Das Produkt, einst vom FC Bayern München beworben, wird heute über Italien vertrieben. Soweit sich der Verbraucher also von der Nanotechnologie eine besondere Produktqualität verspricht, wird er in derartigen Fällen zweifelsfrei getäuscht. Umso mehr erstaunt es, wie in dieser ambivalenten Situation eine Pflichtkennzeichnung nanotechnologischer Verfahren als Teil der Problemlösung präsentiert werden kann, wo der Begriff „Nano“ offenbar Innovation signalisiert und hierbei – anders als etwa die Gentechnologie – durchaus auch positiv belegt ist.

Gleichwohl, nach einer repräsentativen Befragung im Auftrag des Bundesinstituts für Risikobewertung lehnen Verbraucher den Einsatz der Nanotechnologie bei Lebensmitteln mehrheitlich ab. Dies rückt den zu erwartenden Markterfolg von Lebensmitteln, die offensiv mit dem Hinweis „Nano“ beworben werden, in ein eher bescheidendes Licht. Bleibt die Frage, ob sich in ihrem Schatten längst „echte“ Nanolebensmittel in den Handel geschlichen haben, deren gesundheitliche Unbedenklichkeit nicht gewährleistet ist. Die weitverbreitete Auffassung, die Nanotechnologie sei eine Erfindung unserer Zeit, trügt. Schon im antiken Rom wurden gläserne Gefäße mit metallischen Nanopartikeln gefärbt. Systematisch wird die Nanotechnologie seit Mitte der 70er-Jahre erforscht. Die vielfältigen Einflüsse von Kolloidchemie, Mikrobiologie und Quantenphysik machen sie zu einer Querschnittsmaterie. Entsprechend komplex ist ihre Risikobewertung, so auch im Lebensmittelbereich.

Nanopartikel sind kein reines Kunstprodukt, sie entstehen mitunter auf natürliche Weise, beispielsweise bei Vulkanausbrüchen oder beim Grillen. Viele Lebensmittelproteine sind globuläre Teilchen in Größen von 10 bis einigen 100 Nanometern. Genauso entstehen durch traditionelle Produktionsprozesse wie das Emulgieren netzartige Nanostrukturen. Fettkügelchen homogenisierter Milch haben eine Größe von 100 Nanometern. Kein Zweifel – unsere Lebensmittel enthalten Nanopartikel. Doch eben dies seit jeher. Dessen ungeachtet bleibt eine kritische Risikoabwägung des Einzelfalls für innovative Anwendungen nanotechnologischer Verfahren unentbehrlich. In der Presse viel zitiert ist der geheimnisumwobene Einsatz von nanopartikulärem Siliciumdioxid als Fließhilfsmittel in Ketchup. Ketchup ist eine sogenannte thixotrope Flüssigkeit, die sich durch Rühren oder Schütteln plötzlich verflüssigt – entsprechend problematisch ist seine Dosierung. Mithilfe von Siliciumdioxid, seit den 60er-Jahren als Zusatzstoff zugelassen, gelingt es, seine Fließeigenschaften zu steuern. Siliciumdioxid geht in wässrigen Systemen kolloidal in Lösung, wobei Suspensionen dispers verteilter Teilchen entstehen, deren Partikelgröße naturgemäß im Nanometerbereich liegen. Zum Teil bilden sich Agglomerate von rund 100 Nanometern. Siliciumdioxid ist also nicht als Produkt der modernen Nanotechnologie zu begreifen. Anders mag es sich mit Titandioxid verhalten, das als Farbstoff für Lebensmittel zugelassen ist. Mars Inc. (USA) hält ein Patent über eine Methode zur Nanoversiegelung mit Titandioxid. Schokoriegel sollen so durch eine ultrafeine Schicht vor Verderb geschützt werden können. Es heißt, das Patent fände bislang keine Anwendung.

Hier stellt sich die Frage, ob die gesetzlichen Regularien ausreichen, um etwaige gesundheitliche Risiken für den Verbraucher ausschließen zu können. Nanospezifische Regelungen gibt es tatsächlich nicht. Dennoch erstaunt die sehr schlicht gehaltene Kritik des BUND, es beständen weltweit keine Sicherheitsstandards für den Einsatz der Nanotechnologie im Food-Sektor, ist doch die generelle Voraussetzung für das In-Verkehr-Bringen von Lebensmitteln ihre gesundheitliche Unbedenklichkeit. Zumal das Lebensmittelrecht durchaus Regelungen für neuartige Technologien enthält, die offenbar auch Anwendung finden. So hat die BASF ein synthetisches nanopartikuläres Lycopin entwickelt, das von der amerikanischen Lebensmittelbehörde FDA bereits als sicher bewertet wurde. Innerhalb Europas ist Lycopin als Farbstoff zugelassen, allerdings ohne Berücksichtigung seiner Partikelgröße. Für das neue Lycopin greifen daher die Regularien der europäischen Novel-Food-Verordnung. Danach dürfen Lebensmittel, deren Herstellung auf einem neuartigen Verfahren beruht, nur nach einer spezifischen Sicherheitsbewertung in Verkehr gebracht werden. Ein Antrag auf Zulassung für Lycopin als Novel Food wurde von der BASF gestellt. Die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit sieht nach ihrer Stellungnahme vom April 2008 keine gesundheitlichen Risiken, die einer Zulassung der Nanosubstanz als Novel Food entgegenstehen.

Also doch alles in Butter und die Nanoinvasion auf dem Lebensmittelmarkt nicht mehr als heiße Luft? Vielleicht nicht ganz, denn wissenschaftlicher Fortschritt schafft stets neue Risiken, die es zu bewerten und zu berücksichtigen gilt. Dieses Ziel wird grundsätzlich verfolgt, doch hat jedes System seine Lücken und fordert zudem den Einsatz jedes Einzelnen. So mögen Nanopartikel in Lebensmitteln zum Teil ein alter Hut sein – spezielle nanotechnologische Verfahren werden hingegen sicher langfristig Veränderungen mit sich bringen. Gedacht sei hier an die Idee, Nährstoffen durch Mikro-Verkapselung ein verbessertes Löslichkeitsverhalten zu verleihen und somit ihre Aufnahme im menschlichen Körper zu steigern. Solche Techniken, deren Ursprünge in der medizinischen Forschung zu suchen sind, führen an ein ganz grundsätzliches Problem der modernen Ernährungsweise heran, nämlich die Überversorgung mit Nährstoffen. Wird dem Verbraucher bereits jetzt suggeriert, seine Nährstoffzufuhr sei unzureichend und er müsse diesem Zustand durch den Verzehr von Nahrungsergänzungsmitteln entgegenwirken, so kann davon ausgegangen werden, dass derartige Beeinflussungen in Zukunft noch zunehmen werden. Die Möglichkeit, durch Nano-Verkapselung die Aufnahme von Nährstoffen zu steigern, indem die natürlichen Stoffwechselregularien des menschlichen Körpers gewissermaßen ausgehebelt werden, ist keineswegs unproblematisch. Doch ist hier letztlich auch – und das zu Recht – der Verbraucher selbst in der Pflicht, Verantwortung zu übernehmen. Um diese Aufgabe wahrnehmen zu können, bedarf es allerdings einer sachlichen Diskussion zum Thema Nanotechnologie und Lebensmittel, die sich nicht in allgemeiner Technikkritik und pauschaler Innovationsignoranz verliert. Der Diskurs könnte bei Weitem fruchtbarer sein, wenn er in dem Maße differenziert geführt würde, wie es der Nanotechnologie als Querschnittsmaterie auch angemessen wäre. Keineswegs hilfreich und wünschenswert kann es sein, dem Verbraucher ein neues Schreckgespenst in puncto „gefährliche Lebensmittel“ auf dem Silbertablett zu servieren.

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