01.11.2008
Die Ideologie des Nicht-Wissens
Analyse von Josef Kraus
Sieben Argumente für eine Renaissance des Wissens.
Die Schulpolitik wird derzeit von zwei Schlagworten geprägt – von „Beschleunigung“ und von „Entrümpelung“. Beides hat miteinander zu tun: Damit die jungen Leute in kürzerer Zeit aus der Schule und schneller auf den Arbeitsmarkt kommen (siehe achtjähriges Gymnasium G8), sollen – so der schulpolitisch korrekte „Mainstream“ – die Lehrpläne „entrümpelt“ werden. Manche Eltern hören das gern. Schließlich seien entrümpelte Lehrpläne kinderfreundlicher. Am Ende gab es im Jahr 2008 sogar gymnasiale Elternvertreter, die mit entrüsteter Miene die Frage stellten: Müssen denn heute am Gymnasium noch Goethe und Shakespeare sein? Die hohe Politik springt gerne auf solche Suggestionen auf. Insofern ist die aktuelle Entrümpelungs- und Erleichterungspädagogik der hohen Politik durchaus populistisch. Aber langsam! Die Lehrpläne sind über Jahrzehnte hinweg in mehreren deutschen Ländern längst erheblich verschlankt, wenn nicht schier zu „Leerplänen“ degradiert worden. Die Folgen eines solchen Nihilismus sind eigentlich unübersehbar. Betroffen ist sogar der curricular vorgegebene, aktive muttersprachige Wortschatz der Grundschulen, der binnen zwei Jahrzehnten von 1100 auf 700 Wörter reduziert wurde. Um ebenfalls rund ein Drittel wurde zur Implementierung des achtjährigen Gymnasiums (G8) der fremdsprachige gymnasiale Wortschatz so mancher Jahrgangsstufen gekürzt – und das in Zeiten fortschreitender Globalisierung.
Jetzt ist vor allem exemplarisches Wissen angesagt. Das klingt schön und gut. Aber es klingt auch nach Häppchen-Bildung und nach inhaltlicher Beliebigkeit. Strukturen und Zusammenhänge (etwa historische) werden – das ist auch so ein bildungspolitischer Modernismus! – auf „Module“ zusammengeschrumpft. Was heißt das für den Geschichtsunterricht? Ein Weltkrieg exemplarisch für zwei Weltkriege, eine Revolution exemplarisch für fünf Revolutionen? Welche der Revolutionen lassen wir denn bitte weg? 1789, 1848, 1917, 1918/1919, 1989? Nein, so geht das nicht, das ist verordnetes Vergessen. Leider aber wird Letzteres praktiziert. Zum Beispiel gibt es in den Lehrplänen der neuen gymnasialen Oberstufe in Bayern (!) überhaupt keine Weltkriege mehr.
Freilich irrt sich, wer meint, solche „Entrümpelungen“ seien Ergebnisse der jüngsten Zeit. Nein, der Kahlschlag wurde schon vor drei Jahrzehnten eingeleitet. Gerade im Deutschunterricht hat eine Furie des Verschwindens gewirkt. Helmut Fuhrmann benennt das in seinem 1993 erschienenen Buch mit dem Titel Die Furie des Verschwindens – Literaturunterricht und Literaturtradition so drastisch. Unter anderem schreibt er: „Alles spricht vom Waldsterben und vom Ozonloch; es wird Zeit, dass man auch vom Klassikersterben und vom Traditionsloch zu sprechen beginnt.“ Zwei Beispiele aus gar nicht so langer Vergangenheit mögen das beleuchten.
Beispiel 1: In den berühmt-berüchtigten hessischen Richtlinien für Deutsch des Jahres 1972 ging es den Initiatoren darum, Sprache – auch Rechtschreibung – als „Ausübung von Herrschaft“ zu begreifen; dementsprechend müsse die „Unterwerfung der Schule unter herrschende Normen“ überwunden werden. Von Literatur oder Hochsprache war kaum noch die Rede. Die Literatur insgesamt rangierte unter „Text“ – in einer Kategorie mit Werbe- und Gebrauchstexten.
Beispiel 2: Die sogenannte Kollegschule in NRW, die zugleich einen Berufsabschluss und die Allgemeine Hochschulreife (!) vermittelte, kannte im Jahr 1986 das Fach „Deutsch mit Kinder- und Jugendliteratur“. In den Richtlinien dazu hieß es: „Der Einführung in die Kursproblematik dient die Lektüre und Interpretation eines klassischen Kinderbuches, das einen hohen Bekanntheitsgrad haben sollte. Empfohlen wird für diesen Zweck ’Der ,Struwwelpeter‘.“
Wer meint, solche Beispiele gehören der Vergangenheit an, täuscht sich. Wir schreiben das Jahr 2008, und in eben diesem Jahr erlässt die Hansestadt Hamburg einen neuen Rahmenplan für den Deutschunterricht des Gymnasiums. Darin wird der bisherige Literaturkanon, der rund 50 Werke enthielt, abgeschafft. Stattdessen solle „literarisches Basiswissen“ vermittelt werden. Ob das aber bis hin zum Abitur mithilfe von Goethe und Schiller oder mithilfe von Rosamunde Pilcher geschehen soll, darüber lässt sich der Rahmenplan nicht aus. Heute scheint etwas anderes angesagt. Schlüsselqualifikationen und Kompetenzen, so heißt es, hätten Vorrang vor konkreten Inhalten. Überhaupt fällt auf, dass „Wissen“ nicht zu einem Grundbegriff der Pädagogik und der Psychologie geworden ist. Man schaue sich Nachschlagewerke dieser beiden Fachwissenschaften an: Das Stichwort „Wissen“ findet man selten, man findet es eher noch in einem politischen bzw. in einem Staatslexikon.
Leider wird dieser um sich greifende Anti-Inhalte-Affekt sogar außerhalb der Pädagogik propagiert. In einer „bildungspolitischen“ Schrift einer banknahen Stiftung schwärmt man im Jahr 2002 von einer „Obsoletierung des Wissens“ durch technische Mittel. Zugleich erleben wir tagtäglich, was herauskommt, wenn es nur um inhaltsleere Kompetenzen, nicht mehr aber um konkretes Wissen geht. Vor allem im öffentlichen Bereich scheint die wichtigste Kompetenz für die Eroberung herausgehobener Positionen eine ganz bestimmte Kompetenz zu sein, nämlich die Inkompetenzkompensionskompetenz.
Für eine Renaissance des Wissens
Es gibt keine Bildung ohne Inhalte. Wir brauchen deshalb wieder einen Primat der Inhalte vor den Methoden. Die blanke Forderung nach einer inhaltsleeren Vermittlung von Kompetenzen kommt dem Vorschlag gleich, ohne Zutaten zu kochen, wie es Konrad P. Liessmann in seiner Theorie der Unbildung von 2006 beschrieb. Es ist also eine Renaissance des konkreten Wissens notwendig. Nach einer langen Phase der Egalisierung der Inhalte und der Entkanonisierung schulischer Bildung sind in so manchen deutschen Ländern dreißig Jahre inhaltlichen Vakuums neu zu befüllen. Für eine solche Renaissance des Wissens gibt es eine Reihe stolzer Gründe.
Erstens: Unsere Gesellschaft wird vielfach als Informationsgesellschaft bezeichnet. Das ist eine zu enge Vorstellung. Man sollte sich besser eine Wissensgesellschaft wünschen. Wissen besteht zwar aus Informationen, aber Informationen ergeben noch lange kein Wissen. Information, das ist das Sterile, das Flüchtige. Wissen, das ist das Lebendige, das Beständige, das Gewichtete, das Bewertete, es ist mehr als die Summe der zugrunde liegenden Informationen. Das bedeutet immer zugleich auch einen Synergiegewinn. Deshalb brauchen wir keine bloß informierten Menschen, sondern wissende.
Zweitens: Wir lassen uns leicht erschrecken von immer kürzeren Halbwertszeiten des Wissens. Es mag ja stimmen, dass wir derzeit in manchen Technologiebereichen Halbwertszeiten von drei Jahren haben, das heißt, dass das Wissen des Jahres 2008 im Jahr 2011 zur Hälfte überholt ist. Es mag auch beeindrucken, dass die Naturwissenschaften nahezu in jeder Minute eine neue chemische Formel und die Medizinforschung alle fünf Minuten eine neue Erkenntnis finden. Und es mag Staunen erregen, dass in den nächsten zehn Jahren mehr gedruckt wird als in den fünfeinhalb Jahrhunderten seit der Erfindung des Buchdrucks (um 1440) zusammen. Aber: Es gibt sehr viel, unendlich viel Wissen, das sich nicht überholt. Auf solche Dinge, auf Gegenstände herausragender Autorität, müssen wir uns in Bildung und Erziehung konzentrieren.
Drittens: Breites Wissen ist die unerlässliche Voraussetzung für die Fähigkeit zur Zusammenschau und zur Interdisziplinarität. Wer erfinderisch und innovativ sein möchte, der möge erst einmal enorm viel wissen. Franz E. Weinert, bis 1998 Direktor des Max-Planck-Instituts für psychologische Forschung, brachte es auf den Punkt: Breites Wissen ist die Voraussetzung für anspruchsvolles Denken, Urteilen und Handeln. Und breites Wissen in konkreten „Wissensdomänen“ ist die unbedingte Voraussetzung für die fachübergreifende Zusammenschau. Der Begabungsforscher Kurt Heller von der Ludwig-Maximilians-Universität München kommt zu einem ähnlichen Ergebnis: Eine exzellente Wissensbasis sei eine unerlässliche Bedingung für Expertiseentwicklung; sie sei auch eine Bedingung für vernetztes Denken und die Entwicklung von Schlüsselqualifikationen. Ist ja auch klar: Mit dem fachübergreifenden Wissen ist es wie mit dem Bauen eines Hauses. Das konkrete Wissen ist das Fundament und in fortgeschrittenem Stadium das erste Stockwerk. Erst später kommt das Übergreifende, das Dach darauf. Und was für den Bau eines Hauses gilt, das gilt auch für den Erwerb von Interdisziplinarität: Man kann den Bau nicht mit dem Dach beginnen. Sonst wird daraus ein Luftschloss oder die Überdachung einer Nullmenge. Im Übrigen: Je mehr ich weiß, desto mehr ergibt das eine Struktur, in die Neues mit immer weniger Lernaufwand eingefügt werden kann.
Viertens: Wissen ist das Erkennen von etwas Abwesendem. Während das Tier einen Auslösemechanismus braucht, um „Gelerntes“ (Konditioniertes) abzurufen und um zu reagieren, kann der Mensch sein Erinnern, sein Wissen selbst abrufen. Der Mensch ist aufgrund dieser Fähigkeit fähig zur Theoriebildung, zum philosophischen Höhenflug, zum Moralkodex. Er ist damit befreit vom Augenblick, vom Hier und Jetzt. Der im Augenblick Gefangene, das wäre der Sklave des Zufalls, der Laune, seiner Subjektivität. Wenn es so wäre, dann gäbe es tatsächlich kein Wissen als gemeinsamen Besitz mehr. Dann wäre der Mensch eingekerkert in ewiger Gegenwart – eingekerkert in einem engen utilitaristischen Verständnis von Wissen, das er ausschließlich zum Zweck der Anwendung in Arbeit und Beruf vermittelt bekommt. Wissen, nicht zuletzt auch kulturelles Wissen, ist sodann wichtig, weil es Verlässlichkeit und Orientierung bietet, weil kanonisches Wissen eine wichtige Kommunikationsgrundlage ist und weil ein zu schmales Wissen (ein Wissen „unter aller Kanone“) anspruchsvolle Kommunikation erst gar nicht entstehen lässt.
Fünftens: „Wer nichts weiß, muss alles glauben“, schrieb einst Marie von Ebner-Eschenbach. Man stelle sich einen Menschen ohne Wissensfundus vor. Er wäre nicht mündig, weil er verführbar für jede Lüge und Halbwahrheit wäre; er wäre anfällig für jedes Angstmachen und für jedes Propagieren von Vorurteilen. Er müsste sich stets ein X für ein U vormachen lassen. Deshalb ist der unwissende, der mit Halbwissen oder gar Lügen manipulierte Mensch das Ziel totalitärer Systeme – totalitärer Systeme, die alles Mögliche weismachen wollen und die alles vorgeben und reglementieren wollen: eben auch Vorurteile. Frei nach dem Motto: „Ich weiß, dass du ein Mann/eine Frau, ein Weißer/Schwarzer bist. Das reicht mir, dann weiß ich den Rest auch.“ Nicht umsonst nennt Orwell in seiner totalitären Vision 1984 folgende drei Wahlsprüche des Wahrheitsministeriums (des „Miniwahrs“). Sie lauten: Krieg bedeutet Frieden, Freiheit ist Sklaverei, und Unwissenheit ist Stärke! Wer mündige Bürger möchte, der muss ihnen also eine Menge Wissen beibringen und zumuten. Mündiger Bürger zu sein heißt, viel präsentes Wissen zu haben, damit man sich eigenständig ein Urteil bilden kann. Fehlt solides Wissen, wird aus Urteilen zu leicht pure Meinung, und die Gesinnung triumphiert über die Urteilskraft. Deshalb sind Wissensdefizite mindestens so gefährlich wie Moraldefizite, vor allem dann, wenn ein Zuwenig an Wissen durch ein Mehr an Gesinnung ersetzt wird. In diesem Sinne ist auch Theodor W. Adorno mit seiner Theorie der Halbbildung von 1959 zu verstehen. Dort wendet sich Adorno gegen eine bloße „ephemere Informiertheit“. Ferner hält er fest, das Halbverstandene sei nicht die Vorstufe der Bildung, sondern ihr Todfeind.
Sechstens: Es reicht nicht zu wissen, wo man etwas nachschlagen bzw. wie man bei Google oder Wikipedia – zumal manchmal falsche – „Wissens“-Wegwerf-Häppchen „herunterladen“ kann. Natürlich ist es wichtig zu wissen, wo man etwas findet. Deshalb ist es wichtig, jungen Leuten beizubringen, wo man was nachlesen kann. Ansonsten: Man stelle sich eine politische, naturwissenschaftliche oder ökonomische Live-Debatte vor, in der auch nur drei Debattenpartner zwar wissen, wo man was findet, in der diese drei aber ständig zum Bücherregal rennen oder sich ins Internet einklinken, um Fakten und Argumente zu suchen. Eine solche Download-Gesellschaft mit Just-in-Time-Wissen wäre eine Gesellschaft ohne Vorrat, eine Gesellschaft der Minikommunikation. Apropos „nachschlagen“: Im Lexikon oder im Internet „nachschlagen“ kann nur der, der richtig zu fragen weiß. Richtig zu fragen weiß aber nur der, der bereits eine Wissensbasis hat. „Damit ein Mensch sich die Fülle der in Bibliotheken und im Internet gespeicherten Information nutzbar machen kann, muss er bereits über ein bestimmtes Wissen verfügen, denn wer nichts weiß, kann auch nichts fragen. Und die Erweiterung unseres Verständnisses kann nur gelingen, wenn wir bereits über ein angemessenes Vorverständnis verfügen.“ Dieser Satz bedarf keiner weiteren Erläuterung; geschrieben hat ihn Siegfried Wendt in seinem jüngsten, höchst anspruchsvollen Buch Was Sokrates nicht wissen konnte – Eine Bildungsreise zu den Grundlagen unserer technischen Zivilisation (2008).
Siebtens: Wenn es keine Arroganz der Macht geben soll, dann darf es auch keine Arroganz des Wissens geben. Menschen mit wirklich großem Wissen neigen zu Bescheidenheit. Denn diese Menschen sind sich bewusst: Je mehr ich weiß, desto mehr weiß ich, dass ich wenig weiß. Das haben bereits die Römer erkannt: Quo sapientior, eo modestior. (Je weiser einer ist, desto bescheidener wird er.) Und schließlich hat Wissen – sprachgeschichtlich – mit „Witz“ zu tun. Man kann zwar mit Wissen brillieren, aber man kann noch mehr brillieren, wenn man das mit Witz und mit einem Schuss Selbstironie tut. Dann erst ist man wirklich souverän.
Zum Schluss: Vor einigen Jahren hatten wir den Kalauer: „Wissen ist Macht, aber nichts wissen macht auch nichts.“ Schüler haben diesen Spruch längst vergessen. Dafür scheint er jetzt ernst gemeint die Runde in der Bildungspolitik zu machen. Hier ist schleunigst Umkehr nötig.