01.09.2008

Kunst zwischen Prostitutionsästhetik und Devotionalienhandel

Kommentar von Carl Wiemer

Über Jörg Immendorff, den Staatskünstler der Berliner Republik.

„Die Konkurrenz der Künstler auf dem freien Markt ist zu einem Rennen um die Gunst der Mächtigen geworden, dessen Ausgang die Geheimpolizei steuert.“
Max Horkheimer: Neue Kunst und Massenkultur

Es ist ein Irrtum zu glauben, der gesellschaftliche Stellenwert eines Werkes der bildenden Kunst oder Literatur werde ausschließlich durch seinen ästhetischen Rang bestimmt. Oft sind es gerade die kümmerlichsten, mesquinsten, erbärmlichsten, subalternsten Machwerke, die ihre Zeit in Bilder oder Worte fassen. Zwar sind sie eher Symptom als Diagnose der Gesellschaft, der sie entstammen – dies aber in einem derart eminenten Sinn, dass keine sozialwissenschaftliche Untersuchung es mit ihnen an Erkenntnis stiftender Kraft aufnehmen kann. Gleichwohl stiften sie Erkenntnis wider Willen, stehen sie doch mit dem Denken auf Kriegsfuß. Meistens braucht es keine höheren interpretatorischen Fähigkeiten, um ihren zeitdiagnostischen Sinn zu eruieren, liegt dieser doch derart unverhüllt zutage, dass seine Betrachter sich weigern – man weiß nicht, ob aus Indolenz oder Trotz –, ihn zur Kenntnis zu nehmen.

Für die Berliner Republik, deren Anfänge man getrost auf den Antritt der rot-grünen Regierung im Jahre 1998 datieren kann, liegt seit etwa einem Jahr ein solches Opus vor, das ihre geistigen Koordinaten und ihre Mentalität ins Relief setzt: Es handelt sich um Jörg Immendorffs in staatlichem Auftrag verfertigtes Porträt des Altkanzlers Gerhard Schröder (SPD). Dieses Bild ist eine geradezu schmähliche und würdelose Verhimmelung eines Funktionsträgers politischer Macht, und es ist dies auf derart offensichtliche und schamlose Weise durch einen als Inhaber einer Professorenstelle auch noch staatlich alimentierten Künstler, dass es eine Verschwendung von öffentlichen Geldern dargestellt hätte, die den Bund der Steuerzahler auf den Plan hätte rufen sollen, wenn es keine Schenkung Immendorffs gewesen wäre. Dass aber noch nicht einmal das hierzulande ach so feinsinnig gestimmte Feuilleton einer Presse, die sich in Deutschland seit je nicht als Korrektiv, sondern als Handlanger politischer Herrschaft betätigt, Einspruch eingelegt hat, bezeugt, dass hier und jetzt die wahre Katastrophe nach wie vor keine klimatische, sondern eine gesellschaftliche ist. Sie besteht darin, dass die Überzeugungen, die dem Anhänger der republikanischen Staatsform selbstverständlich sein sollten, mit einer Bereitwilligkeit geopfert werden, vor der es selbst den wilhelminischen Untertan gegraust hätte. Unfreiwillig liefert das Porträt des Altkanzlerantlitzes jedoch nicht nur die politische Ikonografie der Berliner Republik, deren Signatur man als plebejischen Cäsarismus bezeichnen könnte – megalomanes Auftreten, während der Aktionsradius nicht mal hinreicht, um das Gesundheitswesen in den Griff zu bekommen –, sondern enthält zugleich die totale geistige wie moralische Bankrotterklärung eines Milieus von Künstlern, welches sich einst seinem avantgardistischen Selbstverständnis gemäß den revolutionären Umsturz der gesellschaftlichen Verhältnisse auf die Fahnen geschrieben hatte. Dass das Porträt des abgewählten Kanzlers zwei der gerissensten und alertesten Vertreter des politischen und künstlerischen Establishments der Bundesrepublik zusammengeführt hat, gibt Gelegenheit zu einer Synopse dieser beiden Milieus.

Immendorffs Schröderporträt stellt eine Mischform aus Versatzstücken stalinistischen Personenkults, Elementen faschistischer Propaganda und Stilmerkmalen der Ikonenmalerei wie der Reklame dar. Das Bild zeigt die Gesichtszüge des Altkanzlers in Frontalstellung, denen ein imperatorischer Ausdruck verliehen ist, während sich im Hintergrund ein paar Affen tollen, in denen der Künstler sich und seinesgleichen als Hofnarren abbildet. Damit nicht genug; was der von Wahlplakaten allzu bekannten Fratze der Macht den numinosen Glanz der Ikone verpasst, was ihr die symbolträchtige Krone aufsetzt, ist jenes Ingrediens, welches die Machthaber bereits in antiker Zeit einsetzten: Das ganze Porträt ist in Gold gehalten, was stets die Analogie zwischen göttlichem Kaiser und höchstem Gott symbolisiert und das Kunstporträt zu einem Kultbild macht. Bekanntlich ist Gold nicht lediglich ein materieller Wert, sondern vor allem ein transzendentaler Bedeutungsträger. Man hat es also mit einem in staatlichem Auftrag verfertigten weltlichen Kultbild zu tun, das seine historischen Vorläufer sowohl im spätantiken Kaiserbild wie in der frühmittelalterlichen Ikone hat. Indem das Bild in alle Rechte und Ehren eingesetzt wurde, die den dargestellten Personen selbst zukam, eignet beiden Gattungen, Ikone wie Kaiserbild, nicht nur feste Kultpraktiken und Funktionsmerkmale, sondern auch übereinstimmende formale Elemente wie die En-face-Stellung zum Betrachter, die ihn unversehens in den Teilnehmer eines Kultes verwandelt, indem ihm die autoritären Bedürfnisse des Künstlers unterstellt werden. Immendorff knüpft also an die atavistische Ikonografie der paganen Macht an, um ausgerechnet an einem im demokratischen Wahlmodus abgewählten Politiker einen Götzendienst zu exerzieren, für den selbst die Idee des Gottesgnadentums keine Rechtfertigung geboten hätte. Wie sehr die religiöse Ikone dem politisch-paganen Kultbild in Form und Funktion auch ähneln mag, sie genießt vor diesem einen unschätzbaren Vorteil: Gegenüber der Huldigung eines politischen Funktionsträgers ist die Verehrung eines Gottes kein Akt des Konformismus.

Mit dem Porträt des Altkanzlers erweist sich ein Künstler, den der Convenu nur aufgrund der Gnade seiner späten Geburt als „modern“ auszugeben beliebt, als feiger und dümmer als die aus Angestellten, Lohnarbeitern, Arbeitslosen, Beamten und anderen bestehende Wahlbevölkerung, welche sich immerhin eine weitere Amtszeit des Kanzlers Schröder verbeten hatte. Der immendorffschen Staatskunst wäre in den Hallen jenes Etablissements, welches sich in vergangenen Tagen „Haus der deutschen Kunst“ nannte, ein Ehrenplatz sicher gewesen. Heute fungiert es als weiteres prominentes Beispiel einer freiwilligen Abdankung dessen, was man einmal unter dem Ausdruck „Moderne“ gefasst hatte. Interessanterweise nimmt die Moderne in der bildenden Kunst in den Porträts des rebellischen Hofmalers Goya ihren Ausgang, als dieser die Kunst dem Dienst der Herrschaft entwand, indem er den Visagen ihrer Repräsentanten und Agenten, seiner Auftraggeber, einen Ausdruck verlieh, dem man jede Schandtat zutraute. Im Hofschranzentum Immendorffs, das sich beim Vertreter staatlicher Herrschaft anwanzt, schafft sich eine Moderne selbst ab, die sich einst konstituierte, indem sie eben dieser Herrschaft den Gehorsam kündigte. Ein Staatskünstler vom Schlage Immendorffs verrät dieses Erbe, von dessen Prestige die Malerei nach wie vor zehrt und das vielen ihrer Vertreter heute insgeheim so peinlich sein dürfte wie dem zu Amt und Würden gelangten Kanzler sein Halbbruder, der Kanalarbeiter, umso leichter, als er versucht, seine moralische wie geistige Regression zum Faktotum der politischen Macht als avantgardistisch auszugeben. Demonstriert wird damit lediglich, wie unhaltbar eine chronologische Vorstellung von Avantgarde geworden ist, wie leer und hohl deren eigener Begriff ist, wenn man unter ihm etwas anderes verstehen möchte als eine Avantgarde des Lakaientums und der Speichelleckerei.

Ihre Berechtigung bezog jene Strömung, die sich einst als Avantgarde verstand, aus dem Gegensatz zu dem der Genremalerei ergebenen Akademismus. Immendorffs technische Rückständigkeit und Konventionalität, die sich nicht nur in seinem Kanzlerbild manifestiert, hat die Aura des Avantgardistischen stets vergeblich für sich reklamiert. Selbst die Machwerke seiner maoistischen Phase sind ungefähr genauso avantgardistisch, wie die bislang drei geschiedenen Ehen des Ex-Juso-Chefs Schröder revolutionär sind. Stellvertretend bezeugt diesen Befund ein Bild Immendorffs aus den 70er-Jahren, das den Titel „Kunst ergreift stets Partei“ trägt, während der Untertitel „Heino verteilt Deutschlandliedplatte mit Filbinger“ über das Dargestellte Auskunft gibt. Der Widerspruch, der darin besteht, dass sich ausgerechnet jene Leute in jungen Jahren über das Verteilen eines Tonträgers der Nationalhymne echauffierten, die in gesetztem Alter, nachdem sie längst die Lehrstühle staatlicher Kunstakademien besetzt hatten, niemals das ihnen angetragene Bundesverdienstkreuz ausgeschlagen haben, wird dadurch aufgelöst, dass sie, allen Lippenbekenntnissen zum Trotz, nicht mal im Traum die Abschaffung der Herrschaft angestrebt hatten, sondern allenfalls den Austausch des Herrschaftspersonals, welcher die Permanenz der Herrschafts- und Produktionsverhältnisse erst garantiert, um, nachdem dieser ins Werk gesetzt war, umso inbrünstiger das Loblied der bestehenden Verhältnisse zu singen. Einen derart schamlosen Kotau vor einem politischen Amtsträger, wie es Immendorffs Kanzlerporträt darstellt, hat sich jedenfalls nicht einmal jener Troubadour des gesunden Volksempfindens zuschulden kommen lassen.

Wie es also einst zum guten Ton in Künstlerkreisen gehörte, sich auf die Seite des Proletariats zu schlagen, übt man heute den Schulterschluss mit der Macht und sieht darin nicht einmal zu Unrecht keinen Widerspruch, da sich deren Agenten mittlerweile aus Emporkömmlingen rekrutieren, denn nur diese verfügen über die für das Geschäft der Herrschaft erforderlichen Türstehereigenschaften. Es ist deswegen naiv, Künstler vom Schlage Immendorffs als Renegaten zu brandmarken, da diese in Wirklichkeit immer an den eigenen Ansichten festgehalten haben, weil sie unter revolutionärem Umsturz von Anfang an nur den persönlichen Aufstieg verstanden haben, den der historische Prozess, auf dessen Seite sie sich wähnten, bewerkstelligen sollte. Zum Renegaten gehört als Voraussetzung ein Bestand von Überzeugungen, die er verraten kann. Über diesen Bestand haben weder Schröder noch Immendorff je verfügt. Eher als Renegaten sind sie Parvenus, deren einziger Programmpunkt das persönliche Fortkommen war und dem sie in jedem Moment treu geblieben sind, sofern der Ausdruck Treue in diesem Zusammenhang überhaupt Sinn macht. Es ist diese Beharrlichkeit, die ein Künstler wie Immendorff (man könnte an seiner Stelle auch andere wie Grass, Walser, Peter Schneider oder Wenders nennen) mit dem Altkanzler teilt, dessen beispiellosem Aufstieg vom Sohn eines Hilfsarbeiters und einer Putzfrau zum Kanzler er huldigt und von dessen öligem Kanalarbeitercharme er sich unwiderstehlich angezogen fühlt. Diese Identifikation führte Immendorff dazu, der Charaktermaske Schröder einen Götzendienst zu erweisen, wie sie die Geschichte der Kunst der letzten 200 Jahre außerhalb totalitärer Regime nicht mehr gesehen hat.

Immendorffs haarsträubender Rückfall hinter die Standards, die die moderne Malerei gesetzt hatte, wird um so eklatanter, wenn man sich vergegenwärtigt, dass das Auftragsporträt in seinen bedeutendsten Werken Paradebeispiel einer ideologiekritischen Kunst gewesen ist, die es sich zur Bestimmung gemacht hatte zu zeigen, dass des Kaisers neue Kleider seine Nacktheit nicht verbergen. Dies gelang immer dann, wenn die Künstler den Repräsentationsbedürfnissen ihrer Auftraggeber widerstanden und dem politisch Gewollten das künstlerisch Wahre entgegensetzten. Nur dann behauptete die Kunst die Autonomie, die dem Künstler in seiner Abhängigkeit von Hof oder Markt nie zu eigen war, wenn die Künstler sich jener grundlegenden Einsicht erinnerten, die ihnen inzwischen abhandengekommen ist: dass die Herrschaft niemals im Recht ist und dass ihr zu huldigen eine untilgbare Schmach bedeutet. Dass sich einzelne Künstler geweigert hatten, der Abhängigkeit von den staatstragenden Ständen zu willfahren, auch wenn sie dabei Kopf und Kragen riskierten, brachte endlich jenes Moment hervor, das das moderne Kunstporträt ausmachte: die Kündigung des Herrschaftsdienstes, die das Kunstwerk vom Kultbild, das Porträt von der Ikone unterscheidet.

Während Immendorff das Wahrheitsmoment der Kunst, das darin bestand, dass sie sich nicht mit dem Bestehenden gemein machte, aufgrund seines Konformismus unzugänglich bleiben musste, ersetzte er die Idee der Avantgarde durch die klägliche Vorstellung des Spießers von Bohème: Drogen und Nutten im Luxushotel. Obwohl die Avantgarde im 20. Jahrhundert eher asketische Züge trug, hinderte dies ihre Feinde nicht daran, die Konnotation von Avantgardismus und sexuellem Exzess unters Volk zu bringen, wie es im Buch eines SS-Malers zum Ausdruck kommt: „Wenn als ‚Künstler‘ geschlechtlich gebrochene, geistig und seelisch verseuchte und grundsätzlich boshafte Gnomen und Wüstlinge gelten dürfen … dann sind die, welche das zulassen, nicht weniger entwurzelt und entwürdigt als die Widerkünstler, deren Unrat sie als ‚Kunst‘ schlecken. Sie können dann Sachverständige sein für Sexualpathologie, Bolschewismus und was ihnen sonst gemäß ist – aber nie und nimmer für Kunst im echten ursprünglichen und ewigen Sinn, als dem Ausdruck der ‚Großen Gesundheit‘ eines lebendigen Volkes. Wer das missachtet, der gehört zu Rosa Luxemburg, zu Wieland Herzfelde oder wie die Anwälte der Prostitution, Geisteskrankheit oder anderer nach Gleichberechtigung strebender Entartung sonst heißen.“1 Immendorffs Inszenierungen von Dekadenz und Degenerierung partizipieren an den nationalsozialistischen Ideen, welche sich Gauleiter und Blockwarte von Moderne und Avantgarde machen. Man fragt sich, wie jener völkische Kunstinquisitor Immendorffs Sexpartys aufgenommen hätte, wenn er erfahren hätte, dass derselbe Künstler politisch derart anstellige Bilder fabrizierte, wie es sonst nur jene braunen Kunstmaler taten, die Wandschmuck mit Führermotiv produzierten. Immendorffs sittliche Verwahrlosung bestand jedoch nicht darin, dass er die Gruppensex-Fantasien von Reihenhausbesitzern in die Tat umsetzte – „die Orgie ist ein Gesellschaftsspiel für law-abiding-citizens“2, und tatsächlich war Helmut Kohls über 40 Jahre währende Ehe wohl weniger spießig als jene Düsseldorfer SM-Partys –, sondern in der Unterwürfigkeit, mit der sich der von einer tödlichen Krankheit schwer gezeichnete Künstler vor dem Gericht und in einer Talkshow vor dem TV-Publikum erniedrigte und für seine „Verfehlungen“ Abbitte leistete, anstatt, was ihm sein Millionenvermögen ohne Weiteres erlaubt hätte, auf Titel und Beamtenstatus zu pfeifen und sein Recht auf Ausschweifung zu verteidigen. Ein Toulouse-Lautrec etwa hat die Huren, denen er die Motive seiner Kunst verdankte, niemals verraten. Aber Immendorff, der seinem Selbstverständnis nach längst mehr Apparatschik der staatlichen Kulturbürokratie war als freier Künstler, kämpfte mit letzter Kraft darum, seinen Professorentitel mit ins Grab nehmen zu dürfen, und gab reumütig den bei einem Fehltritt ertappten Spießer, der er zeitlebens war. Selbst angesichts des eigenen Todes übertraf die Angst vor dem Verlust der Festanstellung die Scham vor dem Verlust der eigenen Würde. Das ist das Holz, aus dem heutzutage und hierzulande freie Künstler geschnitzt sind.

Im Gegensatz zu Immendorffs Altkanzlerporträt, welches die restlose Subsumtion der Person unter ihre soziale Funktion veranschaulicht, machte es die Quintessenz der avancierten Porträtmalerei seit Rembrandt aus, die Kluft zwischen dem gesellschaftlichen Subjekt und dem Individuum gerade zur Erscheinung zu bringen. Die Porträtkunst emanzipierte sich immer dann von der ihr von der Herrschaft zugedachten Rolle eines Devotionalienhandels der Macht, wenn sie die Chuzpe hatte, eine Person bar der Insignien ihres sozialen Ranges darzustellen. Dass dieses Verfahren bei der Darstellung von Menschen, die außer ihrer gesellschaftlichen Funktion wenig aufzuweisen haben, bereits ein Akt der Insubordination ist, verhalf der Porträtmalerei zu ihrer Reputation, wie sie von Hegel formuliert wurde, der im Porträt die Vollendung der Malerei erblickte, die sich dem Ausdruck der „inneren Lebendigkeit“ und des „geistigen Charakters“ verdanke. Im Fall des Schröderporträts hätte es schon zivilen Ungehorsam bedeutet, dem Altkanzler das Symbol seiner impotenten Virilität, nämlich die penibel gefärbten dunklen Haare, zu nehmen, um der Wahrheit wenigstens in einer Detailfrage die Ehre zu geben. Aber bei Immendorff ist Kunst das sinnliche Scheinen der Lüge. Das gelungene Porträt dagegen ist allein dadurch renitent, dass es das soziale Subjekt in der Darstellung bloßer Subjektivität zum Verschwinden bringt. Sein absoluter Gegensatz ist das Wahlplakat, welches den Untergang des Individuums im Funktionsträger, den des Charakters in der Charaktermaske vollstreckt. Der Künstler darf nichts mehr fürchten, als dass das Porträt den Charakter der Maske annimmt, während er des Ichs habhaft werden will. Als ideologisch ist deswegen eine Malerei zu bezeichnen, die den Dingen und Subjekten ihre gesellschaftliche Verkehrsform als Apriori verpasst.

Möglicherweise ist es mehr als ein Zufall, dass ausgerechnet das Adenauer-Porträt Oskar Kokoschkas jene Züge in sich vereint, die ein gelungenes Porträt ausmachen, indem es den politischen Körper des Kanzlers zum Verschwinden und den natürlichen, sterblichen Körper eines Greises zur Erscheinung bringt. Nichts ist dem malerischen Cäsarismus Immendorffs, der der Charaktermaske die Aura einer Ikone verleiht, mehr zuwider als die Gebrechlichkeit des von Kokoschka porträtierten Adenauer. Im Gegensatz zur pharaonenhaften Anmutung von Immendorffs Altkanzlervergötzung, die sich als Instrument der Herrschaft prostituiert und sich in der Goldfarbe auch noch das Markenzeichen des Ewigen, Unverletzlichen, Heiligen, Unnahbaren, der Macht und des Reichtums anmaßt, setzt Kokoschkas Adenauer nichts weniger ins Bild als das, was in Adornos Worten Humanität ausmacht: „die Kraft der Natur zum Eingedenken ihrer selbst als hinfälliger“.3 Anstelle eines Kanzlers, versehen mit den Insignien seiner Position, stellt er die Metamorphose in einen Greis dar, der der Kanzler Adenauer auch war.

Aus dieser Diskrepanz zwischen dem Amtsträger und dem Individuum, das sich in ihm verpuppt, resultiert das Rätsel der Person, das jedes Porträt kennzeichnet, das mehr ist als Karikatur oder Wahlplakat. Dass Kokoschka dies Rätsel durch einen Politiker abbildet, dessen Name zum Inbegriff für die Restauration der Nachkriegs-BRD geworden ist, könnte auf die Spuren eines Zusammenhangs von politischen und ästhetischen Kategorien führen, den man früher als dialektisch bezeichnet hätte. Also dass in dem Moment, in dem die Politik die Parolen der avantgardistischen Kunst adaptiert (Reform, Erneuerung, Wandel), die Kunst verkümmert und umgekehrt. Immendorff war aber nicht nur aufgrund subjektiver Unzulänglichkeit, seiner künstlerischen Inferiorität und charakterlichen Verwahrlosung dazu verurteilt, vor den Anforderungen, die die Porträtkunst an den Maler stellt, zu versagen, sondern ebenso aus objektiver Notwendigkeit, die mit dem Porträtierten selbst zu tun hat. Am Beispiel Schröders den Bruch zwischen Amtsträger und Individuum, zwischen Berufs- und Privatmensch darzustellen, ist schon deswegen unmöglich, weil Schröder – im Gegensatz zu Adenauer, Brandt oder Kohl, die als Privatiers nach ihrer Amtszeit in Würde alterten – losgelöst von seinen Funktionen ein Nichts ist, eine Dialektik von Amt und Person sich also gar nicht einstellen kann. Wenn es die Bestimmung der Porträtkunst ist, die Seele, den Charakter, das Ich – wie immer man das Substrat von Subjektivität terminologisch fassen will – zum Vorschein zu bringen, so kann es aus objektiven Gründen kein Porträt des Altkanzlers Schröder geben, da Subjektivität bei ihm eine Leerstelle ist und er ganz als mediale Oberfläche gelten kann. Aus der Abbildung des Charakters muss also zwangsläufig die Zurschaustellung der „Charaktermaske“ im Sinne von Marx werden, also „die Personifikation der ökonomischen Verhältnisse, als deren Träger sie sich gegenüberstehen“.4 Zeichnerisch kann Schröder daher nur durch die Karikatur zur Kenntlichkeit entstellt werden, will man ihm nicht via Wahlplakat huldigen. Denn Schröder, für den als Kanzler nach eigener Aussage nur „Bild und Glotze zählen“, hat auch als Privatmann der Trennung von öffentlicher Rolle und ziviler Person, Bedingung der Möglichkeit von Individualität, eine Absage erteilt, indem er in vierter Ehe eine Boulevardjournalistin (Bild, Express) heiratete.

„Charakter ist eine physiognomische Kategorie.“5 Das galt einmal zu Zeiten von Balzac oder George Grosz, der die sozialen Verstümmelungen seiner Figuren als Naturprodukt darstellen konnte. Heutige Politikervisagen sehen dagegen derart poliert und präpariert aus wie Wulff, Wowereit und Westerwelle und geben über das, was sie im Schilde führen, keinerlei Aufschluss mehr. Insofern war das Attrappenhafte, das an Schröder nicht nur zutage trat, wenn er für Brioni modelte, wegweisend. Statt der nicht vorhandenen Friktionen von Ich und Rolle hätte ein Künstler, der über ein gesellschaftliches Sensorium verfügt hätte, immerhin das an Schröder einzig reizvolle Thema veranschaulichen können, nämlich das des mit dem Stigma der Herkunft gezeichneten Parvenus. Der Parvenu, der verzweifelt versucht, seine Vergangenheit loszuwerden und sich vom Makel seiner Herkunft doch nicht befreien kann, in Schröders Fall: der der Putzfrauensohn in Gebaren und Auftreten auch dann bleibt, wenn er staatsmännisch zu wirken versucht. Die schrödertypische Mischung aus Leutseligkeit und Brutalität war dem Wahlkämpfer in seiner Rolle als Volkstribun auf den Leib geschrieben und machte den Staatsmann auf internationalem Parkett doch nur unmöglich. Diese Darstellung Schröders als die Personalunion von Gosse und Establishment, als das fleisch- und kanzlergewordene Bündnis von Mob und Elite, bleibt ein Desiderat, das auch über die politische Funktion des Parvenus hätte aufklären können. Denn natürlich ist es mehr als eine Ironie der Geschichte, dass ausgerechnet jener Kanzler, der aus der Gosse stammte, der Bevölkerung mittels Hartz IV ein Verarmungs- und Enteignungsprogramm verordnete, das einen Aufstieg wie den Schröders in Zukunft unmöglich machen wird. Aber gerade dazu benötigte die Herrschaft einen Proleten; einem Bürger oder einem Herren hätte man diese Mission nicht abgenommen. In Schröders Kanzlerschaft kamen die objektiven Erfordernisse der Herrschaft mit den psychologischen Bedürfnissen des Parvenus überein. Anders gesagt: Mit Hartz IV nahm Schröder Rache an dem Milieu, dem er entstammt. Denn Schröders Denken und Handeln wird nach wie vor von der Furcht bestimmt, wieder in die Gosse zurückkehren zu müssen, aus der er sich emporgearbeitet hat. Daher rührt nicht nur sein unentwegtes Sich-lieb-Kind-Machen bei Gewaltherrschern besonders russischer oder arabischer Provenienz. Bereits seine ersten Ehen waren der geglückte Versuch, das depravierte Milieu des Asozialen zu verlassen. Bei seinem politischen Engagement ging es ihm vor allem darum, diesen Aufstieg unumkehrbar zu machen. Schröder war der erste Kanzler, der sein Amt als Job auffasste, als Durchgangsstation, um schließlich am großen Rad drehen zu können. Erst als Frühstücksdirektor von Putins und Ringiers Gnaden ist Schröder am Ziel angelangt, welches das Ziel eines jeden konformierenden Asozialen ist: ad majorem gloriam eines Mächtigen zu wirken. Daher befriedigt Schröder, der das Anforderungsprofil des Kanzlers nie erfüllen konnte – dazu ist er zu derb, zu ungebildet, auch wohl zu faul –, die Wünsche seiner Vorgesetzten, die den alerten Lobbyisten und strippenziehenden Networker bereits im Politiker Schröder zu schätzen wussten, par excellence.

Immendorff hätte wenigstens den Putzfrauensohn im Kanzler zutage treten lassen können, was viel über die Funktion von Karriere in der nachbürgerlichen Ära ausgesagt hätte. Denn bei dieser handelt es sich um eine Epoche ohne Herren, genauer: der Herr in ihr ist der zu Macht und Amt gekommene Knecht. Ihre emblematische Figur ist der Parvenu, dem das Einverständnis mit allem, was von oben kommt, tief eingesenkt ist. Daher – und dieses Paradox bewahrheitet sich täglich aufs Neue – sind die übelsten und skrupellosesten Exemplare des autoritären Charakters mitnichten die Herren, sondern die Knechte. Und am schlimmsten jene Knechte, die zu Herren geworden sind. Den Übergang von Kohl zu Schröder, der auch einer vom Historiker zum geriebenen Winkeladvokaten, welcher – prinzipienlos, gewissenlos, geschichtslos – überall nur Optionen sah, war, kennzeichnet dieser totale Ausverkauf bürgerlicher Restbestände. Was an Kohl noch zu Zeiten seiner Kanzlerschaft als antiquiert wahrgenommen wurde, waren Züge des Bürgerlichen, deren die ihm nachfolgende Politikergeneration gänzlich entriet. Diese Züge kommen auch in dem Porträt Kohls von Albrecht Gehse zum Vorschein, das in der Ahnengalerie der deutschen Regierungschefs im Bundeskanzleramt nun neben dem Bildnis Immendorffs hängt und welches Kohl als einziger Kanzler aus eigener Tasche bezahlt hat. Der Ausdruck des Kohl-Bildnisses wurde von der deutschen Presse, der es nie staatstragend genug zugehen kann, als „fett und dümmlich“ denunziert, wohl, weil es nicht die Verwandlung des Verhältnisses von Bild und Publikum in eines von Führung und Gefolgschaft intendiert. Indem es die Ästhetisierung der Politik und des Politikers verweigert, nötigt es seinen Betrachter nicht zur Ehrerbietung seines Gegenstandes. Sein Adressat ist eine bürgerliche Öffentlichkeit und ein der Reflexion für fähig gehaltenes Publikum und eben nicht ein zum Fußvolk entwürdigtes Akklamationsmedium, welches zur Huldigung genötigt wird.

So gibt das Altkanzlerporträt Immendorffs unfreiwillig auch Aufschluss über eine Person, die mythologisch zu überhöhen der Maler sich zum Ziel gesetzt hatte. Darüber hinaus legt es Prognosen über die Entwicklung einer Gesellschaft nahe, die mit ihrer bürgerlichen Vergangenheit restlos abgeschlossen hat. Selbst der Preußenkönig Friedrich II. hätte sich ein Konterfei im Stile Immendorffs verbeten. Der aufgeklärte Absolutist verstand sich als erster Diener des Staates, während sich der Sohn einer Putzfrau, der sein eigenes Porträt mit dem Ausruf „stark!“ kommentierte, als Pharao halluziniert. Darin besteht die Pointe, die die Demokratie nach Ende der bürgerlichen Epoche für ihre Zaungäste bereithält.

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„Ich, Immendorff“
Nicola Graefs Film „Ich, Immendorff“, der im Mai 2008 anlässlich des ersten Todestages des Künstlers seine Kinopremiere hatte, zeigt das Porträt eines unangenehmen Mannes. Er dokumentiert nicht nur die Arbeit Immendorffs als Professor an der Düsseldorfer Kunstakademie und als Künstler in seinem Atelier, sondern zeichnet darüber hinaus in Interviews mit Freunden und Weggefährten sowie in Gesprächen mit diesem selbst ein Bild des Menschen. Dabei verkehrt sich die Absicht Graefs, aus dem Film eine Hommage an den Künstler zu machen, stets in ihr Gegenteil. Wenn etwa der Mut, gar die Tollkühnheit der politischen Aktionen Immendorffs betont werden sollen, erweisen sich diese als Manifestationen der Anmaßung und Großsprecherei, wo nicht als Marketingstrategien in eigener Sache. Entlarvend ist Immendorffs retrospektive Schilderung eines von ihm veranstalteten Happenings vor einem Bonner Parlamentsgebäude Ende der 60er-Jahre, bei der der Künstler kurzzeitig von drei Ordnungshütern abgeführt wurde. Während Immendorff in martialischen Worten den Vorgang zu einem Akt staatlicher Repression aufbauscht, dementieren die gezeigten Originalaufnahmen seine Version. In Wirklichkeit machten nämlich die Ordnungshüter nicht mehr Aufhebens von dem Fall als bei der Festsetzung eines Ladendiebs oder Verkehrssünders – reine Routine. Immendorffs Späßchen waren schon in den 60er-Jahren nicht annähernd so subversiv, wie es der Künstler gern gehabt hätte. Erschreckend ist Immendorffs ostentativer Anti-Intellektualismus, der in seiner Tätigkeit als Kunstprofessor zum Vorschein kommt. Gegenüber seinen Studenten zeigte er sich nicht in der Lage, seine Urteile über deren Bilder zu begründen. Überhaupt scheint Immendorff mit dem Fortschreiten seiner Krankheit ausgeprägte Züge von Bösartigkeit entwickelt zu haben. Der Umgangston gegenüber seinen Helfern, die er als Domestiken behandelte und die nach seinen Anweisungen die Malereien auszuführen hatten, zu denen der gelähmte Künstler nicht mehr fähig war, war pampig bis rüde, stets auf Erniedrigung gestimmt. (cw)

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