01.09.2008

Europa wird spannend

Essay von Sabine Reul

Das Nein der Iren zum Lissaboner Vertrag ist ein Gewinn für die Demokratie in Europa.

Die erneute Ablehnung des seit dem Negativ-Votum der Franzosen und Niederländer im Jahr 2005 zum Vertrag heruntergekochten europäischen Verfassungsprojekts durch die Iren im Juni löste Reflexe aus, die kein gutes Licht auf das vereinigte Europa werfen. Wie damals über die Franzosen und Niederländer, zog man nun über die Iren her. Dumm seien sie, chauvinistisch und, wie der französische Außenminister Bernard Kouchner verlauten ließ, obendrein auch undankbar. Außerdem sei die politische Organisation des Kontinents viel zu komplex, als dass man die Bürger darüber abstimmen lassen könne. Und überhaupt: Dass ein kleines Land mit 4,3 Millionen Einwohnern fast eine halbe Milliarde Europäer daran hindere, das heiß ersehnte Vertragswerk umzusetzen, sei geradezu undemokratisch. So und ähnlich lauteten die ersten Reaktionen auf das Nein der Iren zum EU-Vertrag.

Doch rasch trat Mäßigung im Umgang mit der erneuten schweren Niederlage der Europapolitik ein, denn es hatte sich wohl herumgesprochen, dass man so mit dem eklatanten Legitimationsproblem europäischer Institutionen nicht mehr umspringen kann. Man bedauere das Votum der Iren zwar, respektiere es aber, heißt es nun. Und die forschen Vorschläge aus Berlin, Paris und Brüssel, die Vertragsratifizierung ohne Rücksicht auf die Iren fortzusetzen – oder sie nochmals an die Urnen zu bitten –, verschwanden in den Schubladen. Im Oktober sollen nun wieder Verhandlungen über das Vertragsprojekt beginnen. Und die dürften sich als nicht ganz einfach erweisen, denn schon haben die Regierungen in Warschau und Prag angekündigt, den Vertrag ablehnen zu wollen, während aus Wien verlautet, man werde künftig über alle Änderungen der EU-Verträge, die österreichische Interessen betreffen, das Volk abstimmen lassen. Auch in Dänemark denkt man schon seit vergangenem Jahr darüber nach, ein Referendum über den Vertrag durchzuführen.

In Deutschland meldete sich unterdessen der Philosoph Jürgen Habermas mit einer bislang aus seiner Feder ungekannt scharfen Polemik gegen die Bürgerferne des EU-Apparats zu Wort und regte an, zeitgleich mit den Europawahlen im nächsten Juni einen Volksentscheid aller Bürger über die Zukunft Europas abzuhalten. Selbst Innenminister Wolfgang Schäuble macht sich inzwischen für die Direktwahl des EU-Ratspräsidenten stark, die nach seinem Dafürhalten nun für mehr Bürgerbeteiligung in der EU sorgen kann. Gleichzeitig harrt der vom Bundestag schon im April gebilligte EU-Vertrag der Unterzeichnung durch den Bundespräsidenten, da im November das Verfassungsgericht noch über die Klagen Peter Gauweilers (CSU) und aus der Linksfraktion gegen den Vertrag zu entscheiden hat. Es wird also spannend in Europa – und das verdanken wir nach den Franzosen und Niederländern nun den Iren. Denn erst ihr Votum förderte das, was man bislang ignorieren wollte, derart offen zutage, dass es sich nicht mehr ignorieren lässt: Das Problem Europas ist die sich stetig weitende Kluft zwischen seinen Politikern und Bürgern.

Vor drei Jahren hat man das Votum der Franzosen und Niederländer als xenophobe Reaktion auf seinerzeit aufmerksamkeitsstarke Debatten über die Türkei und Immigrationsthemen ausgelegt. Das war schon damals eine Fehleinschätzung, aber jetzt lässt sich die Wirklichkeit nicht mehr unter den Teppich kehren. Die Iren stimmten mit einer deutlichen Mehrheit von 54,6 Prozent gegen den Vertrag, obgleich alle Parteien (mit Ausnahme der in der irischen Republik unbedeutenden ehemaligen nationalen Befreiungspartei Sinn Fein) sie eindringlich aufforderten, für ihn zu stimmen. In einer von der EU-Kommission beauftragten Umfrage bekundeten kurz nach dem Referendum 80 Prozent der Befragten, die mit Nein gestimmt hatten, ihre Unterstützung für die EU-Mitgliedschaft Irlands. Auf die Frage, warum sie mit Nein gestimmt hatten, sagten 40 Prozent, sie hätten den Vertrag nicht verstanden. Deutlich größere Mehrheiten meinten hingegen, ihr Nein werde das irische Steuersystem (84 Prozent) bzw. die irische Neutralität (83 Prozent) bewahren, während 59 Prozent sich das für irisch-katholische Positionen zur Abtreibung, zur gleichgeschlechtlichen Ehe und zur Euthanasie erhofften. In einer weiteren, Ende Juli von der Organisation Open Europe durchgeführten Umfrage lehnten fast 75 Prozent aller Befragten ein nochmaliges Referendum über den Reformvertrag ab; 62 Prozent der Befragten gaben an, sie würden in einem zweiten Referendum den Reformvertrag erneut zurückweisen; und 67 Prozent waren inzwischen überzeugt, dass „die Politiker in Europa das irische Nein nicht respektieren“.

Bei aller Vorsicht gegenüber Umfragen und obgleich die von der irischen Regierung angekündigte eingehende Studie zum Referendum noch aussteht, lässt sich aus diesen Daten gewiss schließen, dass die Iren den Reformvertrag aus verschiedenen rationalen Gründen ablehnten. Wie die meisten anderen Europäer auch, sind sie gerne Teil des geeinten Europas, aber ungern Untertanen des EU-Apparats (siehe „Wie weiter mit Europa?“ in: Novo87). Dass der EU-Apparat und seine Prozesse sich erheblich geringeren Zuspruchs erfreuen als nationale Institutionen, rührt daher, dass er die Kluft zwischen Politik und Menschen in Extremform verkörpert. Das wird mit der gängigen Formel „Demokratiedefizit“ beschönigend umschrieben, denn die maßgeblichen Akteure der EU sind offenkundig der festen Überzeugung, dass es völlig in Ordnung ist, wenn ihre Institutionen nicht einmal formal demokratischen Normen genügen, und pflegen den Herrschaftsstil und -anspruch einer Oligarchie.

Aber die Kluft zwischen den Bürgern und ihren nationalen politischen Repräsentanten ist nicht minder groß. Da Referenden über den nationalen Apparat nie veranstaltet werden, kommt sie bloß nicht so niederschmetternd deutlich zum Ausdruck. Warum fühlen sich Deutsche in jüngster Zeit vom demokratischen US-Präsidentschaftskandidaten Obama so angezogen? Weil er eine menschliche Sprache spricht und so zumindest den Eindruck erweckt, tatsächlich zu glauben, Politik sei für Menschen da. Angela Merkel hingegen meint offenbar, Politik sei sich selbst Zweck genug. Denn kaum war der amerikanische Hoffnungsträger abgereist, verkündete die Kanzlerin, die Wahlen zum Bundestag 2009 mit einem „Blitzwahlkampf“ bestreiten zu wollen, weil sie sich davon die besten Ergebnisse erhoffe. Ein technokratisches Politikverständnis wird unter Kritikern der Brüsseler Bürokratie oft als EU-Spezifikum behandelt, doch es beherrscht in Wirklichkeit zusehends auch den nationalen politischen Raum – und den deutschen zurzeit vielleicht in besonderem Maße.

Auch sind die EU-Institutionen nicht vom Himmel gefallen, sondern wurden von den nationalen Regierungen Europas geschaffen. Insofern haben Befürworter des Reformvertrags formal betrachtet recht, wenn sie gegen Kritiker der Europäischen Union einwenden, diese sei durch die nationalen Regierungen – wenn auch nur indirekt – demokratisch legitimiert. Man muss dieser Argumentation nicht unbedingt folgen. Trotzdem trifft sie den Kern des Problems präziser als manche Klage über die Demokratiedefizite der EU. Sie verweist nämlich darauf, dass zwischen den Nationalstaaten und den von ihnen geschaffenen supranationalen Institutionen keine chinesische Mauer verläuft. Das mag banal klingen, ist es aber nicht, denn sehr verbreitet ist die irrige Vorstellung, supranationale Integration impliziere eine Schwächung der Nationalstaaten – was die einen als gut, andere als schlecht bewerten. Wie die Europäische Union mit ihren vielfältigen Ebenen subnationaler, nationaler und supranationaler Regierung veranschaulicht, gibt es keinen Gegensatz zwischen Nationalstaat und supranationaler Integration. Womit wir es zu tun haben, sind, wie es beispielsweise Saskia Sassen in dem neuen Buch Das Paradox des Nationalen: Territorium, Autorität und Rechte im globalen Zeitalter vielleicht etwas abstrakt formuliert, „tief greifende Vorgänge der Neuverteilung der Macht innerhalb des Staats“ (siehe hierzu die Kurzbesprechung dieses Buches in diesem Heft.) Eine sinnvolle Kritik der EU wird ohne Auseinandersetzung mit den politischen Entwicklungen innerhalb der Nationalstaaten nicht auskommen.

Die Debatte über Europa verspricht, spannend zu werden. Dank der Iren sind die Probleme der Demokratie in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt. Das kann neue Einblicke in bislang nicht oder falsch verstandene Entwicklungen eröffnen. Und im kommenden Jahr können die Europa- und Bundestagswahlen genutzt werden, um diese Auseinandersetzung offen in den politischen Raum zu tragen. Dazu gehört, endlich einmal wirklich politische Fragen zu stellen, wie z.B.: Was ist Politik überhaupt? Oder besser: Was soll sie sein, und was will ich, dass sie leistet? Es wird in nächster Zeit reichlich Gelegenheit geben, in diese Auseinandersetzung einzusteigen. Es klingt paradox, aber gerade die Krise der EU-Oligarchen könnte Ausgangspunkt einer Belebung der Demokratie werden.

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