01.07.2008

Was war 1968? Von Dolchstoßlegenden und anderen Mythen

Kommentar von Sabine Reul

Über eine Jugendbewegung, die weder die bürgerlichen Werte zu Grabe trug noch revolutionär Neues erschuf.

Wie stark das historische Urteil vom gesellschaftlichen Wandel geprägt wird, zeigt die Debatte über die 68er. Die zum 40. Jahrestag des ersten Höhepunkts der Studentenrevolte publizierten deutschen Neuerscheinungen zeichnen ein zwar überwiegend freundliches, aber nachdenkliches Bild. Bei Götz Aly, in den 70er-Jahren Mitglied einer maoistischen Kaderpartei, schlägt in Unser Kampf kritische Distanz allerdings um in eine wutschäumende Tirade: Die 68er sind ihm rückblickend von Testosteron und Gewaltfantasien gesteuerte Wiedergänger der NS-Jugend vor 1933 und ein „sehr deutscher Spätausläufer des Totalitarismus“. Das sind steile Thesen,  die zeigen, wie sehr das Bild der Protestgeneration in Bewegung geraten ist.

Bislang beschimpften Konservative oder wer sich dafür hielt, die 68er gebetsmühlenhaft als Quelle jedes erdenklichen sozialen Problems – von der Bildungskrise bis zum Werteverfall. Diese Variante der „Dolchstoßlegende“ schuf ein trügerisches Empfinden politischer Orientierung. Nachdem die Protestwelle längst abgeflaut und verschwunden war, blieb der „68er“ die beliebte Kontrastfigur für die Pflege einer schon lange brüchigen konservativen Identität. „Da hat man die Dinge auf den Kopf gestellt, denn in Wirklichkeit war es genau anders herum“, schrieb der Soziologe Frank Furedi vor einigen Jahren, denn: „Die geistige Krise der bürgerlichen Ordnung mag man zwar als Folge der radikalen Herausforderung empfunden haben, aber sie begann viel früher.“ Wie Reinhard Mohr in Der Diskrete Charme der Rebellion festhält, hat die konservative Polemik eine ausgeprägte Neigung zur Überschätzung der 68er zur Folge gehabt. In einer defensiven Gegenreaktion haben Deutschlands Grüne, Linke und Linksliberale immer lautstark verkündet, alles Gute in Deutschland verdanke man den 68ern, denn sie erst hätten Deutschland aus der postfaschistischen Adenauerschen Erstarrung erlöst und der Bundesrepublik durch Liberalisierung, kulturelle Öffnung und Frauenemanzipation eine „zweite Gründung“ als pluralistische Demokratie ermöglicht.

Der Geltungsverlust bürgerlicher Werte begann jedoch lange vor 1968. Er wurde 1949 von Daniel Bell in einem später in seinem Werk End of Ideology publizierten Essay thematisiert: „Eingezogen, reglementiert, manipuliert, desorientiert im Strudel der ideologischen Kriegsführung, ist die grundlegende Haltung der Massen zunehmend eine des Misstrauens. Und für die Intellektuellen, die Samenträger der Kultur, ist das vorherrschende Empfinden das des Verrats durch die Macht und ein Gefühl der Ohnmacht.“ Jürgen Busche zeichnet in seiner Analyse der 68er diesen Umbruch nach, indem er der Generation der „älteren Brüder“, die der von Bell geschilderten, noch im Krieg herangewachsenen entspricht, die jüngere an die Seite stellt, die sich ab Beginn der 60er-Jahre in einem Lebenszusammenhang vorfand, „der gestiftet wurde durch gemeinsames Musikhören, Sporttreiben, durch Auslandsreisen, Aufbegehren gegen angemaßte und missbrauchte Autorität, … Empörung über alte und neue Verbrechen mit politischer Dimension. Aber auch Freude an der Ungezwungenheit der eigenen Lebensverhältnisse.“

Das beschreibt den Hintergrund, vor dem in den USA die Beatniks und in Deutschland mit den Schwabinger Krawallen die antiautoritären Vorläufer der Neuen Linken entstanden, gut. Für sie waren die alten Werte bürgerlicher Ordnung sinnentleert, und sie wurden, wie Jürgen Habermas 1967 meinte, in einer „zum Teil von ihr selbst aufgestöberten und organisierten Subkultur“ groß, „in der ökonomische Zwänge unbedeutend“ waren. Die 68er hatten beides: zuvor nie gekannte Freiheit und somit auch den Zwang, sich ohne Anleitung quasi selbst zu erschaffen. Darin lag wohl das Besondere dieser Bewegung. Die „bipolare“ Interpretation der 68er-Protestbewegung bedarf also der Korrektur – und die ist jetzt im Gang. Mit der Entzauberung des rot-grünen Projekts und dem Ableben des Links-Rechts-Antagonismus hat die Kontroverse über 1968 an Bedeutung verloren. Wie in anderen Bereichen, so sind auch hier neue Tendenzen am Werk. Die Grünen, in die sich die verschiedenen Strömungen der Protestbewegung auflösten, sitzen schon lange im Boot der politischen Mitte. Und dementsprechend vermischen sich nun auch zu diesem Thema die Standpunkte.

Was also war 1968 wirklich? Persönlich fallen mir zwei Schlüsselerlebnisse ein: Im Mai 1968 verabschiede ich am Bahnhof – neidisch und etwas erschrocken zugleich – eine Freundin, die nach Paris reist, um den großen Straßenschlachten beizuwohnen. Dass es dann recht bald nicht mehr wirklich fröhlich zuging, wurde klar, als die Mutter nach dem Einmarsch der sowjetischen Truppen in Prag vier Monate später sagte: „Da siehst du, was deine Freunde tun“ – als hätte ich was mit der UdSSR zu schaffen. Gerd Koenen schrieb in seinem Bericht über Das Rote Jahrzehnt, die Niederschlagung des Prager Frühlings sei für die 68er-Bewegung der erste traumatische Schock gewesen, vergleichbar mit dem der Schüsse von Dallas 1963. Die Ermordung John F. Kennedys war der Einbruch der Wirklichkeit in die gerade aufblühende Hoffung der westlichen Jugend auf gesellschaftliche Öffnung, die sich mit seiner Figur verbunden hatte. Die Niederschlagung der Prager Reformbewegung war der Einbruch der Realität der Macht in den Traum eines revolutionären Experiments neuer Art.

Jeder, der in welcher Nähe auch immer am 68er-Geschehen Anteil nahm, wurde schlagartig und eher unbewusst in die Großkonflikte des 20. Jahrhunderts hineingezogen. Die Verwirrung, Verhärtung und Anomie, an denen manche Strömungen der neuen Linken in der Folgezeit nicht arm waren, setzten mit dem Prager Schock ein. Denn nach dem Rollen der sowjetischen Panzer hätte man die Widersprüche, die dieses Ereignis aufwarf, intellektuell wie moralisch meistern müssen, um Statur zu gewinnen. Aber dafür fehlte in jeder Hinsicht die politische Reife. Manche Kritik, die aus der Entstehung der RAF auf eine vorgeblich immanente Gewaltbereitschaft der neuen Linken schließt, obgleich die RAF nur eine winzige Minderheit bildete, oder sich über die zweifelsfrei staubigen Ideen mancher SDS- und späterer K-Gruppen-Vordenker belustigt, verkennt die wirklichen Zusammenhänge. Das waren Symptome, aber nicht die Ursachen dafür, dass die 68er, zumindest so lange und dort, wo sie noch als Bewegung auftraten, über fieberhafte Protestgesten nie weit hinauskamen.

Ein Grund war die aus heutiger Sicht ungeheuere Jugend der 68er. Es war eben eine Jugendbewegung, die zu Unreife, emotionalem Höhenflug und Maßlosigkeit neigte – in einer Intensität, die heute schwer nachzuvollziehen ist, wo Politik, zumindest außerhalb der Blogs, Sache – in der Regel relativ alter – Erwachsener ist. Die nachwirkenden positiven Merkmale der Bewegung waren, so meint auch Reinhard Mohr, das Interesse an dem, was die Welt bewegt, die Internationalisierung, ein starkes Gefühl persönlicher politischer Verantwortung und eine Bereitschaft zum Engagement, die viele motivierte, sich geistig wie praktisch enorm unter Druck zu setzen. Der Grad der Politisierung und die Organisationsbereitschaft dieser Jugend sind aus heutiger Sicht unvorstellbar: Auf ihrem Höhepunkt in den 70er-Jahren zählten allein die aus dem SDS hervorgegangenen Organisationen zusammen mindestens 50.000 Mitglieder. Die Zahl derer, die sich in den loseren Zusammenhängen der Arbeits-, Stadtteil- und Aktionsgruppen betätigte, dürfte um ein Vielfaches höher gewesen sein. Über Politik und Gesellschaft lernte man in der Periode der emphatischen Revolte in der Tat eher wenig. Das begann erst später. Aber wenn Götz Aly sich über die dicken Bücherregale in den Wohngemeinschaften und das abstrakte Marxisieren auf Versammlungen mokiert, erscheint dies seltsam, da er ja dabei war und es hätte besser machen können. Was war so schlimm daran, dass man Lesen, das Studieren sozialer und historischer Fragen und sich für Politik geistig zu rüsten als ehrenwerte Beschäftigungen empfand? Aly wird, wie andere, genau da die Impulse empfangen haben, die später in beachtliche Karrieren in Wissenschaft, Kultur und Politik mündeten.

Haben die Rebellen von 1968 in Deutschland etwas erreicht? Das lässt sich so kaum sagen: Sie haben vorhandenen Trends Ausdruck gegeben, und ihr Radikalismus mündete nie in die Artikulation einer wirklichen Alternative. Wer meint, die Grünen und ihr ökologisches Politikkonzept seien das Endergebnis, konstruiert rückblickend eine Intentionalität, die so nicht gegeben war, denn das waren spontane Produkte der Auflösung der neuen Linken. Was sich wohl sagen lässt, ist, dass die Revolte die Parameter setzte, unter denen diese Jugend in einer Gesellschaft, die ihnen Anschlussmöglichkeiten vorenthielt, erwachsen werden konnte.

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