01.07.2008

Bildung sucht ein Zuhause

Essay von Lena Wilde

Seit die Bildung aus den Elfenbeintürmen verscheucht wurde ist, ist sie nicht mehr so richtig sesshaft geworden. Bis die Bologna-Architekten ihr ein neues Haus zimmerten. Doch in den neuen, zweckmäßigen Räumen mag sie sich auch nicht so recht wohlfühlen.

Vor fast zehn Jahren wurde in der italienischen Universitätsstadt Bologna die umwälzende Bildungsreform beschlossen, die aus den Universitäten Großbaustellen gemacht hat. Solche Zustände sind nie ganz angenehm, doch man nimmt sie gerne in Kauf, wenn sie zu einer Verbesserung führen. Nun gibt es aber viele Gründe für die Annahme, dass man für eine Reform bezahlen muss, die den Wert der Bildung obendrein senkt – man muss wahrlich kein Ökonom sein, um hierin ein schlechtes Geschäft zu erkennen.

Geschäft, das ist das Zauberwort. Bildung kostet viel Geld, und sie nimmt viel Zeit in Anspruch – das macht sie noch teurer. Warum also nicht einmal die Frage stellen, ob die Bildung dem Aufwand, der um sie betrieben wird, gerecht wird? Es gibt ja keine blöden Fragen. Aber es besteht durchaus die Möglichkeit, sie unheimlich blöd zu beantworten. Zum Beispiel so: Die Bildung und Ausbildung an der Hochschule nehmen die Studenten aus rein egoistischen Motiven wahr. Sie wollen einen guten und sicheren Beruf, in dem sie später viel Geld verdienen. Wenn die Bildung für sie also Mittel zum Zweck ist, dann müssen sie zu diesem Privatvergnügen auch etwas beitragen. Einführung der Studiengebühren. Wenn die Studenten es nur auf einen gut bezahlten Beruf abgesehen haben, muss man ihnen die ganzen Veranstaltungen rund ums wissenschaftliche Denken und Forschen nicht auch noch mitgeben, das kostet nur extra. Einführung des Bachelor. Wenn sich die Studenten nun auch zu fragen beginnen, wo sie für ihr Geld die besten Berufsaussichten erhalten, stehen die Universitäten in einem ökonomischen Wettbewerb. Einführung der unternehmerischen Hochschule.

Ein Blick in die Vergangenheit

Bisher war die Hochschule für Außenstehende weitgehend eine Black Box: Man konnte von außen gar nicht so genau sagen, was darin abläuft. Das lag daran, dass in dem herkömmlichen und derzeit auslaufenden Hochschulmodell Forschung und Lehre in einer Institution verankert waren, und beides war frei. Dass an einer Universität gelehrt und auch geforscht wurde, aktualisierte das Studium ständig selber. Die Entscheidung über neue Projekte oder Veranstaltungen lag in den Händen der Professoren, denen man eigenverantwortliches Handeln zutraute, und in der Mitbestimmungskraft der Studenten, denen man die Zeit dafür gab. Das alles erzeugte eine unüberschaubare Vielfalt von Ansätzen und Methoden, von denen sich dann die besten durchsetzen sollten. Das waren die Zeiten des wissenschaftlichen Wettbewerbs. Das Problem daran: Er ist nicht planbar, und man kann sich daher nur relativ gut auf ihn verlassen, wenn man eine unüberschaubare Vielfalt zulässt. Das, was bisher die Stärke der Bildungsvielfalt war, ihre evolutionäre Kraft, neues Wissen und neue Erkenntnisse hervorzubringen, wird ihr nun zum Vorwurf gemacht: die Verschwendung.

Reform-Chirurgie

Also rückte man der Hochschule mit dem Werkzeugkoffer zu Leibe. Das für diesen Zweck am besten geeignete Werkzeug ist die Schere: Sie macht saubere Schnitte und trennt so Forschung von Lehre und Bildung von Ausbildung. Und sie trennt auch, aber das kennen wir schon, Arm von Reich. Doch eins nach dem anderen. Die Bologna-Reform zeigt ihre prägendste Wirkung in der Einführung des gestuften Studiums in Bachelor und Master für alle Studiengänge, außer denjenigen, die mit Staatsexamen abschließen. Doch auch hier setzt die Schere bereits an.

Der Bachelor soll rein berufsbezogen sein und für die Masse der Studenten in kurzer Zeit machbar. Der Master ist für einen kleineren und erleseneren Kreis und beschäftigt sich mit den wissenschaftlichen Inhalten. Warum das alles? Weil die anderen es auch machen. In der Tat, die meisten Studienabschlüsse weltweit werden nach diesem System vergeben. Und die weltweite Mobilität von Studenten und Dozenten war den Bologna-Reformern sehr wichtig. Deshalb sollen die neuen Abschlüsse weltweit vergleichbar sein.

Auch die inländischen Studiengänge sollen von nun an untereinander verglichen werden, und zwar anhand der Leistung, die in ihnen erbracht wird. Da war wieder die Vielfalt im Weg: Denn zwischen den Fächern bestehen grundlegende Unterschiede, die nun durch das zweistufige System eingeebnet werden. Geisteswissenschaftliche Fächer zum Beispiel dürfen sich nun überlegen, wie sie die geforderte Berufspraxis in ihren Bachelor einbauen und welche Theorie sie dafür weglassen. Technische Studiengänge, die ohnehin schon straffe Lehrpläne hatten, dürfen diese in ihrem Bachelor weiter komprimieren. Technische Universitäten bekunden schon jetzt, dass ein Bachelor als Regelabschluss für sie nicht infrage kommt, weil ein solcher Absolvent nicht qualifizierter ist als ein ausgebildeter Techniker. Was bei dem einen Fach sinnvoll ist, bedeutet für das andere einen Qualitätsverlust, wenn nicht gar eine Infragestellung.

Kontrolle, Kontrolle!

Um genug Daten für die Vergleichbarkeit zu haben, werden in den neuen Studiengängen in einer irrwitzigen Abfolge Leistungskontrollen in Form von Klausuren und Seminararbeiten erhoben. Die Leistungen der Studierenden werden dabei im europaweit eingeführten Kreditpunktesystem ECTS erfasst. Mit diesem System soll ihr Arbeitsaufwand auf den Punkt gebracht werden. Das ist wörtlich gemeint. Denn das ECTS-System hat in einer Sprache mit Zukunft den sogenannten Workload als Messgröße für die Studienleistung in die Welt gesetzt. Das ist der zeitliche Arbeitsaufwand, der von den Studierenden in Form von Veranstaltungen oder Lernzeiten erbracht werden muss. Ein recht robuster Indikator, der 30 Stunden Arbeitsaufwand mit einem Punkt belohnt. Im Jahr sollen 60 solcher Punkte gesammelt werden. Doch Lernzeiten zu standardisieren, geht von der Vorstellung aus, jeder Student brauche annähernd die gleiche Zeit zum Lernen, jedes Fach erfordere den gleichen Lernaufwand, und außer Lernen habe ein Student nichts zu tun.

Der größte Denkfehler aber ist: Diese Messmethode rechnet qualitative Leistungen in quantitative Größen um. Ein Trend, der auch bei den Professoren spürbar ist und sich darin äußert, dass die Leistungsfähigkeit eines Dozenten an der Anzahl seiner Publikationen und der Wert der Publikationen an der Anzahl der Zitate gemessen wird. Diese Methode sagt nicht nur etwas über ihren Gegenstand, den sie entwertet. Sie sagt auch etwas über die Menschen aus, die sie bewertet. Die Dozenten werden dabei als Hilfsarbeiter der Lernkontrolle mit Bergen von Kontrollarbeit belastet und haben so immer weniger Zeit zum Forschen. Außerdem wird ihnen durch die Reglementierung jede Eigenverantwortung abgesprochen. Den Studierenden wird durch diese Methode keine Leistungsbereitschaft mehr zugetraut. Sie werden durch den Leistungsdruck und die hohen Studienkosten diszipliniert, möglichst viel Stoff in möglichst kurzer Zeit zu lernen. Das Lernverhalten wird dabei reduziert auf das Erreichen einer möglichst hohen Punktzahl. Doch lernen nach Punkten ist wie malen nach Zahlen – Originale werden dabei nicht entstehen.

Groß angelegte Lebensläufe

Dass die heutige Studentengeneration ein Problem mit ihrer Leistungsbereitschaft hat, ist an den Universitäten selber nicht festzustellen. Dort herrscht eine mal stärker, mal schwächer wahrnehmbare Anspannung. Einem Großteil der gegenwärtigen Nachwuchsakademiker ist die Lage auf dem Arbeitsmarkt durchaus bewusst und auch die Tatsache, dass ein Hochschulzeugnis alleine längst kein ausreichendes Ticket mehr für einen erfolgreichen Einstieg in die Arbeitswelt ist. Wo Bildungsabschlüsse in großen Mengen vergeben werden, verhalten sie sich wie Geld: Ihr Wert sinkt. Die Inflation der Bildungstitel zwingt zu anderen Strategien, um sich von der Masse abzuheben. Daher hat sich das karriereorientierte Lebenslaufoptimieren als heimliche Subwissenschaft auf dem Campus durchgesetzt. Um mit diesem Zusatzticket besser zu fahren, lernt man noch eine neue Fremdsprache, geht ins Ausland, macht hier noch ein Praktikum und dort noch eines und bewirbt sich bei Stiftungen um Stipendien. Dahinter stecken Neugier und Wissensdurst, wenn überhaupt, nur noch untergeordnet. Bei diesem Rattenrennen geht es aber nicht nur um Ausdauer und Schnelligkeit – dann hätten die Eifrigsten einen berechtigten Vorteil. Es geht, wie so oft, um die finanzielle Rückendeckung. Ein Auslandssemester geht mächtig ins Geld, ein Praktikum in einer anderen Stadt oder einem anderen Land, das höchstwahrscheinlich unbezahlt ist, ebenso. Diese Art von Arbeit, so paradox das klingt, muss man sich erst einmal leisten können.

Doch die politisch gewollte Mobilität der Studenten ist eines der Schlüsselworte, die so unmittelbar an Bologna kleben wie die Soße an der Nudel. Man stellt sich darunter einen allzeit reisebereiten jungen Menschen vor. Doch Reisen ist Luxus, und so wäre vor der Reisebereitschaft die Studienbereitschaft ein viel wichtigeres Ziel. Die Mobilität, die Bologna meint, hat rein gar nichts zu tun mit sozialer Mobilität – im Gegenteil. In diesem Bereich koppelt die Studienreform zusammen mit der Einführung der Studiengebühren ganze gesellschaftliche Schichten von den Universitäten ab. Ein immer strafferes und teureres Studium kann sich nämlich auch nicht jeder leisten.

Damit schneidet sich die Bologna-Reform selber ins Fleisch. Mit Scheren muss man umgehen lernen. Um schnell studieren zu können, sind die Studienbedingungen eine ganz wesentliche Grundlage. Wer sich sein Studium teilweise oder vollständig selber finanzieren muss, wird nebenher arbeiten gehen, was etwa 60 Prozent der Studierenden machen, oder er legt eine Studienunterbrechung nur für den Zweck des Geldverdienens ein. Das machen immerhin rund 25 Prozent.* Unter solchen Bedingungen verlängert sich die Verweildauer an der Universität künstlich, und damit steigen auch die Kosten durch Unterhalt und Studiengebühren weiter an. Das gilt zumindest für diejenigen, die nicht aus wohlhabenden Elternhäusern kommen. Ihre Zahl geht, dank der neuen Studienbedingungen, langsam aber stetig zurück, denn für sie gilt der neue soziale Numerus Clausus. Schnipp, schnapp.

Die neuen Universitäten

Die Universitäten sitzen bei alledem zwischen den Stühlen. Das ist eine unangenehme Position für eine Bildungseinrichtung, die sich berechtigterweise mit einer gewissen Erhabenheit zu umgeben pflegte, sollen doch in ihr Bildung und Ausbildung auf höchstem Niveau erfolgen. Doch auch für die Universitäten ist es von Interesse, dass die Studierenden hinterher keine gescheiterten Existenzen sind, sondern ihren Platz in der Gesellschaft finden und ihr Wissen einbringen können. Von daher sind auch Universitäten dafür empfänglich, Leistungen überprüfen zu lassen, um zu erfahren, wie gut sie arbeiten. So sind die neuen Erwartungen an die Universitäten denen an große Konzerne nicht unähnlich: Es sind die Erwartungen des Kunden Student und des Kunden Wirtschaft. Tendenziell wird dabei der Großkunde Wirtschaft bevorzugt behandelt. Dass die Universitäten nun eine von außen geforderte Nachfrage bedienen müssen, krempelt ihr Selbstverständnis von Grund auf um.

Ursprünglich dienten die Universitäten dem Fortschritt der Wissenschaften. Sie sorgten intern durch die Forschung für Erkenntnisfortschritte und transportierten sie durch die Absolventen in die Gesellschaft. Man konnte also, idealistisch formuliert, die Erkenntnisse zum Anlass nehmen, Dinge in der Gesellschaft neu zu gestalten, einfach dadurch, dass man hinzugelernt hatte. In dieser Hinsicht hat nun ein direkter Kurswechsel stattgefunden: Die Bildung soll sich den gesellschaftlichen Verhältnissen anpassen, sie soll dem Arbeitsmarkt dienen und dem internationalen Wettbewerb des Personals. Universitäre Bildung hat somit kaum noch einen fortschrittlichen Einfluss auf die Entwicklung der Gesellschaft.

Bildung auf ihren reinen Anwendungsnutzen in der Arbeitswelt zu reduzieren, beinhaltet den Trugschluss, man könnte heute den Bedarf planen, der morgen ansteht. Dieser ist aber in einer dynamischen Gesellschaft in keiner Weise absehbar. Aus diesem Grund ist jede in der Gegenwart gesteuerte Bildungsplanung rückständig. Nur Offenheit und Vielfältigkeit erlauben es, die Wahrscheinlichkeit für nützliche und brauchbare Bildung zu erhöhen. Die traditionelle Bildungsstrategie war daher, neben aller ebenso erforderlichen Berufsausbildung, eine große Portion zeitlosen Wissens zu vermitteln, etwa ein grundlegendes Geschichtsbewusstsein und ein Verständnis der Gegenwart, einen Einblick in das Vorgehen kritischen Denkens und wissenschaftlichen Arbeitens, ein Trainieren der geistigen Fähigkeiten mit dem Ziel, den Geist beweglich zu halten, damit er sich neuen Bedingungen selber anpassen kann. Problemlösungskompetenz, die über die Verwaltung des Stundenplans und des Lernstoffs hinausgeht. Universalität der Bildung, nicht Uniformität.

Wissensgesellschaft

Vielleicht hat es auch sein Gutes, dass im Zuge der Hochschulreform die große Frage über das eigentliche Wesen der Bildung gestellt wird. Die Wissensgesellschaft steht unmittelbar vor ihrer größten Herausforderung: Die Wissensbestände steigen immer schneller an. Folgt man nun dem neuen Bildungsideal der reinen Zweckmäßigkeit und Aktualität der Wissensvermittlung, überfrachtet man Lehrpläne an Schulen und Universitäten immer weiter. Unter diesen Umständen wird man noch oft nachjustieren müssen. Da gleichzeitig die Verweildauer im Bildungssystem immer kürzer werden soll, stößt diese Entwicklung zwangsläufig irgendwann an den Punkt, an dem die Menschen sie nicht mehr mitmachen können und wollen. Die Reaktionen der Studierenden auf die Studienreform und auch die Reaktion der Schüler auf das achtjährige Gymnasium zeigen, dass dieser Punkt recht bald erreicht sein dürfte. Vielleicht sollten wir die Zeit nutzen, Ideen für eine Reform nach der Reform zu sammeln.

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